Das Musikleben steht still. Für alle, die sonst Livemusik hören, die musizieren, Musik lieben und sie ermöglichen, kommt so eine Gelegenheit vielleicht nie wieder: sich mit der Bedeutung von Musik zu beschäftigen – nicht nur für ihr Leben, sondern für das Leben überhaupt, ja für das Sein. In einem Moment, in dem die Musik so spürbar fehlt wie jetzt. Wo Stille ist.

Ein Stichwortgeber – und mehr als dies – könnte der 38-jährige Musikphilosoph Leopoldo Siano sein, der an der Universität Köln forscht und lehrt. Siano hat Anfang des Jahres das Buch Musica cosmogonica von der Barockzeit bis heute veröffentlicht. Auch wenn es sich strenggenommen um eine akademische Publikation handelt, vor der viele »Praktiker:innen« vielleicht intuitiv zurückschrecken: Siano entfaltet das unbekannte Thema der musikalischen Kosmogonie klar und verständlich. Er überlässt es meisterlich den Lesenden, wie tief sie sich in das vielstoffige Gebiet versenken wollen.

Als Kosmogonie wird die Vielzahl der Modelle und Lehren von der Entstehung der Welt bezeichnet. Und diese Entstehung hat wesentlich mit Klang zu tun. »Kosmogonische Erzählungen berichten fast immer über Klangereignisse am Anfang der Welt. Ein Urwesen – das ein Gott sein kann – äußert den Wunsch, aus seiner Ruhe herauszutreten beziehungsweise schöpferisch zu sein: entweder durch Ausatmen oder Sprechen, durch Lachen oder Weinen, durch Singen, Schreien, Aushusten, Erbrechen, Spucken, Ejakulieren, Stöhnen oder Donnern. Die Quelle, aus der die Welt entspringt, ist eine akustische.«

Weltentstehung aus Klang: Viele dieser anfänglichen, allgemeinen Einlassungen von Siano sind wesentlich älter als sein Buch. Vor allem einem Autor gebührt dabei Sianos Aufmerksamkeit: dem Musikethnologen Marius Schneider (1903–1982), den Siano mit der Berufsbezeichnung des »Phonosophen« ehrt. Schneider erlangte seine Kenntnisse fremder Musikkulturen nicht zuletzt ab 1933 als Leiter des legendären Berliner Phonogramm-Archivs – nachdem sein Chef, der Gründer des Archivs Erich Moritz von Hornbostel, von den Nazis von diesem Posten entfernt worden war. Doch auch Marius Schneider wurde in der NS-Zeit an einer wissenschaftlichen Karriere in Deutschland gehindert. Viele seiner Schriften sind nie auf deutsch beziehungsweise gar nicht erschienen – Leopoldo Siano seinerseits lässt ihn prominent zu Wort kommen, immer unter Schneiders Leitgedanken: Die Welt wird in den Schöpfungsmythen nahezu aller Kulturen als geronnener Klang dargestellt, als erstarrte Musik.

Marius Schneider war davon überzeugt, dass antike Kulturen auf gleichen geistigen Prinzipien beruhten. Allerdings konzentrierte sich Schneider in seinen Forschungen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auf altindische Schriften. Denn obwohl er Zeugnisse für seine Theorie aus etlichen Kulturen hatte, sah er in Indien einen Schlüssel zum Verständnis von klanglich fokussierten Schöpfungsmythen: An Zeugnissen der vedischen Epoche zeigte Schneider, wie in den alten Kosmogonien der Klang »nicht nur an den Anfang aller Dinge« gesetzt, sondern »als die Substanz der Dinge und als der in allen konkreten Erscheinungen der erschaffenen Welt ständig wirkenden Hintergrund« betrachtet wird.

Obwohl die Musikethnologie mittlerweile selbst ein wenig aus ihrem Schattendasein heraustritt – im Maße, wie Europa als Zentrum aller Musikgeschichte relativiert wird –, kann sie die tiefschürfende PR eines eloquenten Musikphilosophen wie Leopoldo Siano gut gebrauchen. Siano macht solche Gedanken jetzt für ein breiteres, eher in einem traditionell-klassischen Sinn musikalisch gebildetes Publikum interessant, indem er sie auf die europäische Musikkultur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert anwendet.

Marius Schneider sprach davon, dass es in den Schöpfungsmythen gemeinsame Muster von Klangvorstellungen, gewissermaßen Archetypen gebe – Siano seinerseits schreibt, dass das Gleiche für Musikstücke gilt, die die Weltentstehung zum Thema haben: Es gibt seiner Ansicht nach musikalische Archetypen, mit deren Hilfe Weltentstehung von Komponist:innen geschildert wird – und: In unterschiedlichem Grad möchten sich die Komponist:innen in Weltentstehung einfühlen, möchten sie selbst erleben und erleben lassen.

Leopoldo Siano konstatiert, »dass kosmogonische Musikwerke häufig mit einem ›dunklen Ton‹, also mit tiefen Frequenzen und archaischen Intervallen (Unison, Oktave oder Quinte) beginnen. Der Anfang eines kosmogonischen Musikwerkes kann aber auch ein rhythmischer Impuls, ein solistischer Gesang, eine Dissonanz oder eine Explosion, ein undifferenziertes – und eventuell geräuschhaftes – Raunen oder ein graduelles Wachstum, eine Akkumulation sein.«

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Apropos »dunkler Ton« und »tiefe Frequenzen«: Unwillkürlich dürfte hier vielen das Vorspiel zu Richard Wagners Rheingold in den Sinn kommen. Der Grundton es stellt bereits eine Überschreitung des kulturell Üblichen dar und gerät zu einer akustischen Grenzerfahrung. Wagner lässt die Zuhörenden über ein klangliches Ereignis in die musikalische Welt seiner Ring-Tetralogie eintreten, das selbst vielleicht noch gar keine Musik ist: Der tiefe Anfangston kann nur erreicht werden, indem die tiefste Saite des tiefsten Streichinstruments noch einmal um einen halben Ton herabgestimmt wird – ihr Brummen ist eher zu spüren als zu hören. Welt beginnt hier als Schwingung, Musik wird aus Geräusch geboren.

»Die darauf aufruhende Quinte stellt dann eine erste Entzweiung der urprünglichen Einheit dar, und die darauffolgenden wellenartigen Bewegungen des Dur-Dreiklangs bilden das embryonale Motiv des Weltwerdens ab. Es handelt sich also um die Bewegung der natura naturans, einer Natur, die sich selbst erzeugt und im kontinierlichen Fluss ist.«

Man könnte an dieser Stelle noch etliche Werke anführen, die historisch sogar lange vor Wagners Rheingold liegen, die die Weltentstehung ebenfalls zum Thema haben und die Siano ebenfalls benennt. Joseph Haydns Schöpfung etwa gehört dazu, über deren Anfang, Die Vorstellung des Chaos wesentlich mehr geschrieben worden ist als über den Rest des Oratoriums. Es beginnt mit einer leeren und klangvollen Oktave, gespielt vom ganzen Orchester, ohne Harmonisierung. Anders als Wagner allerdings charakterisiert der tiefgläubige Haydn den Fortgang der Schöpfung im »Chaos« als etwas Schmerzhaftes, Fragwürdiges. Haydn verwendet kühne chromatische Wendungen. Zweifellos geht er so – wie später Wagner – über die musikalisch-rhetorischen Schranken seiner Zeit hinaus, um den Beginn der Welt darzustellen.

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Dieser Beginn ist Grenzüberschreitung schlechthin, er muss skandalös sein und auch so wirken. Und auch Haydn war damit nicht der erste. Eine noch frühere musikalische Darstellung des verstörenden Weltentstehens stammt Siano zufolge von Jean-Féry Rebel (1666–1747), einem französischen Hofkomponisten. In der Ouvertüre zu seiner Ballettmusik Les Eléments wagt er es ebenfalls, das Chaos als akustisches Ereignis heraufzubeschwören.

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Das Stück beginnt mit einem ohrenbetäubenden Akkord, der aus den sieben nebeneinanderliegenden Tönen der d-Moll-Skala besteht – ein Cluster wie in einem Werk des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch hier wird das Chaos als eine »Anfangsschwierigkeit« der Schöpfung dargestellt – Leopoldo Siano zufolge eine typisch kosmogonische Geste durch alle Zeiten und Kulturen.

Wenn man in den musikalischen Jahrzehnten und Jahrhunderten jedoch noch weiter zurückgeht, findet man keine weiteren Kostproben für kosmogonische Darstellungen in der Musik – und es führt auch in die Irre, nach weiteren zu suchen. Vor der Barockzeit schien es offenbar Komponist:innen zu verwegen, die Entstehung der Welt musikalisch darzustellen. »Es ist«, räsoniert Siano, »als ob man den Blick in den mütterlichen Schoß während der Bildung eines Embryos, also in ein heikles und verbotenes Gebiet werfen würde. Komponisten wie Johann Sebastian Bach zum Beispiel beschwören das Schöpfungswerk eher als vollkommene und vollendete Ordnung, aber nicht in seinem Werden.«

Eher suchte man nach Gleichnissen der Weltentstehung in der sicht-, hör- und berechenbaren Natur. Spielarten musikalischer Kosmogonie sind in der Musiktheorie zu finden. Siano erwähnt den norddeutschen Orgelbaumeister und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706), dessen Name uns heute durch seine Beschreibung der wohltemperierten Stimmung geläufig ist. Daneben setzte Werckmeister die musikalische Obertonreihe in Beziehung zu den sechs Schöpfungstagen. Historisch lange vor Haydn und noch länger vor Wagner setzt Werckmeister Einklang und Oktave mit der Einheit Gottes in Verbindung, wie sie sich in der Schöpfung erstmals auflöst: »Wie in der biblischen Erzählung die oberen Wasser von den unteren geschieden werden«, erläutert Leopoldo Siano, »hat man mit dem zweiten Oberton eine erste Trennung, die sich in der ersten Scheidung der Oktave ausdrückt. Mit dem Intervall der Oktave drückt sich ›das Gleiche‹, allerdings auf einer anderen Ebene aus. Die Frequenz des zweiten Tons ist die doppelte des ersten. Es handelt sich um den gleichen, aber nicht um denselben Ton. Die Oktave stellt eine Dualität dar, die zugleich eine Einheit ist. Das Eine schaut sich gleichsam im Spiegel, so dass ein erster leerer Urraum zwischen Himmel und Erde entsteht.« Übrigens behauptet Werckmeister, dass Gott am siebenten Tag geruht habe, weil der siebente Oberton eine Dissonanz ist, die nicht erklingen muss. Dieser problematische Oberton »weiset / dass die Zeiten nicht allemahl gut / sondern zuweilen eine dissonanz in diesem Leben mit eingemischet werden muß«.

Für Leopoldo Siano gibt es keinen Zweifel: Die Obertonreihe ist ein Archetyp, das musikalische Urbild par excellence, ein Klangsymbol der Weltordnung. Im Kosmos des romantischen Realisten Richard Wagner wird Andreas Werckmeister keine Rolle gespielt haben – die Teilung des Grundtons in Oktave und Quinte als archetypisches kosmogonisches Symbol fand er dennoch. Intuitiv.

Leopoldo Siano geht es aber nicht darum, Gemeinsamkeiten zwischen allen Werken zu finden, die jemals die Weltenstehung musikalisch dargestellt haben. Denn die Gemeinsamkeiten erschöpfen sich. Mit Rebel, Haydn und Wagner sind bereits Hauptprotagonisten genannt, die kosmogonische Verläufe explizit und theatralisch darstellen. Mit der Schöpfung ein musikalisches Illusionstheater zu treiben, ist ein beliebtes Hobby von Komponist:innen, aber kein zeitloses. Solches beginnt mit der Barockzeit, und es endet im zwanzigsten Jahrhundert. Nicht aufgrund mangelnden Interesses der Avantgarde-Komponist:innen, sondern aufgrund ihrer größeren Ambitionen. Bloße Darstellung, quasi mit Wolkenkulisse aus musikalischem Pappmaché, ist out. Einfühlung ins Universum ist in, zunehmend um jeden Preis.

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Eine Ahnung davon, wohin die Reise der Kosmogoniker:innen in der musikalischen Moderne und Neuen Musik gehen wird, gewinnt man bereits in Gustav Mahlers Dritter Sinfonie mit ihrem Kopfsatz, der fast eine Stunde dauert. Der Anfang mit seinen acht Hörnern klingt tatsächlich noch wie eine Theaterfanfare. Doch was danach kommt, ist alles andere als theatralisch. Mahler will sein Publikum so dicht wie möglich an das Werden des Universums samt der zugehörigen buchstäblichen Langeweile herandrücken. »Dunkle Stasis, undifferenziertes Raunen, Schwebezustand, abgründige Resonanzen, metaphysische Risse. Es ist das ungewisse Werden der starren Materie zum Leben.« Die winzigen Motivstückchen, die Mahler spaltet und verstreut, vergleicht Leopoldo Siano mit »Urpartikeln in der modernen Physik«.

Damit allerdings ist es gesagt: Auch hier ist nur ein »Vergleichen« möglich, Mahlers Musik ist weiterhin Gleichnis und Darstellung. Es ist noch ein »Als-ob«, von Haydns Chaos und Wagners Rheintiefen aus heutiger Perspektive nicht so weit entfernt. Je näher man jedoch der Gegenwart rückt, desto konsequenter wollen Komponierende mit ihrer Musik an der realen Weltenstehung teilnehmen. Dazu braucht man schon eine Theorie, in der die Weltentstehung noch nicht abgeschlossen ist und man mehr als künstlerisch nur retrospektiv oder rein theatralisch handeln kann. Neue Modelle der wissenschaftlichen Kosmogonie bringen die Künstler:innen da weiter, vor allem die Theorie vom Urknall, die zu Mahlers Zeit noch nicht existierte, durchaus aber zur Zeit von Karlheinz Stockhausen. In seinem 22-minütigen Stück Ylem aus dem Jahr 1972 entsteht ein musikalisches Universum in elf Minuten und vergeht danach in der gleichen Zeit.

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Im zeitlichen Zentrum rufen die Musiker:innen die Silbe HU. Diese stammt aus dem Sufismus, einer mystischen Strömung des Islam. »HU ist der heiligste aller Töne. Der Ton HU ist Ursprung und Ende aller Klänge, seien sie von Mensch, Vogel, Getier oder Ding«, fasste Stockhausen seine Lektüre von Schriften eines sufischen Ordensgründers zusammen. Auch dem Ausruf kann zwar die Weltentstehung nicht aus der Simulation in den Ernstfall überführt werden – aber Beschwörung ist in der Tat bereits eine künstlerisch tiefer gedachte Realität als das reine Als-Ob des musikalischen Theaters.

Wenn sich Komponierende den Wunsch erfüllen wollen, dass ihre eigene Musik wie in alten Mythen realer »Urklang«, metaphysisches Rauschen wird, dann »funktioniert« das nur, wenn diese Musik keinen Anfang und kein Ende hat – und sie als wesentlicher Teil einer Welt angesehen wird, die ebenfalls schlechthin ewig ist, entsprechend der alten aristotelischen Vorstellung. Musikalisch beobachtet Leopoldo Siano hier zwei Herangehensweisen der Komponierenden über die Jahrhunderte, doch vor allem seit dem zwanzigsten Jahrhundert: dass ein Stück einfach nicht mehr endet – oder dass die Musik gar nicht erst beginnt.

Eine Technik des Nicht-Endens ist es, dem Stück eine zeitliche Kreisform zu verleihen, wie es bereits Guillaume de Machaut im 14. Jahrhundert mit seinem dreistimmigen Rondeau Ma fin est mon commencement unternahm.

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Leopoldo Siano erläutert das Offensichtliche: »Der Titel selbst ist die Lösung des musikalischen Rätsels, das mit dem Stück aufgegeben wird. Das Ende und der Anfang des Tonsatzes sind miteinander regelrecht ›verschweißt‹«. Übrigens ist das Kreisförmige eine musikalische Technik, die sich bezeichnenderweise in den Volksmusiktraditionen solcher Kulturen findet, die nicht monotheistisch und damit nicht »zielorientiert« ausgerichtet sind. Komponist:innen seit dem Mittelalter haben aus solchen musikalischen Phänomenen auch »Augenmusik« gemacht – kunstvolle kreisförmige Partituren. Als kostbares Beispiel hierfür nennt Leopoldo Siano das Tout par compas suy composés von Baude Cordier.

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Neben Stockhausen hat George Crumb in seinem Magic Circle of Infinity Notenbild und Technik dieser spätmittelalterlichen musikalischen Kosmogonie wieder aufgenommen. Stockhausen seinerseits war bereits in den 1960er Jahren von einem Gedanken besessen: »Stücke machen, die nie aufhören«. Das jedoch gelang Stockhausen nicht – sein berühmter Zyklus von sieben Licht-Opern ist zwar 29 Stunden lang, hat aber durchaus Anfang und Ende – und auch Stockhausens geplante Verwirklichung eines Musikhauses mit permanenter Klangwiedergabe scheiterte. Erfolgreicher war hier das Künstlerpaar La Monte Young und Marian Zazeela: Das Dream House ist eine Licht- und Klanginstallation, die zunächst 1969 in der Galerie von Heiner Friedrich in München als eine temporäre Ausstellung präsentiert wurde, um dann seit dem Ende der 1970er Jahre als permanente Installation in New York realisiert zu werden. Vergleichbar dazu: Als Coup des Städtemarketings hat sich das kleine Halberstadt in Sachsen-Anhalt mit John Cages Orgelstück ORGAN²/ASLSP eine auf 639 Jahre angelegte Realisierung in die örtliche Burchardi-Kirche geholt.

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Man muss nicht erst auf John Cages bekanntestes Stück, die stumme Komposition 4‘33‘‘ abheben, um sich zu erinnern: Cage ist derjenige, der das Schweigen als ernstzunehmenden Aspekt in die Musik zurückbrachte – oder besser: der die Zeit als den entscheidenden Parameter der Musik ernstnahm, weil er sowohl den Klang als auch die Stille betrifft – wie in dem genannten Stück 4‘33‘‘, dessen einziger vorgegebener Formaspekt seine zeitliche Dauer ist. Wer in Musik ein Urelement des Lebens sieht, wird nicht daran vorbeikommen, sich mit dem Vorher und Nachher des Klanges, also mit der Stille zu beschäftigen. Vielleicht ist dazu jetzt Zeit. ¶