Musik und Bild, Optik und Akustik gehörten immer zusammen. Lange war es völlig überflüssig, Klänge sichtbar zu machen – sie waren es schon. Musik entstand vor den Augen der Zuhörer. Schweißgetränkte Trommler, selbstvergessene Geiger, vielleicht Tanz, später die Oper: Das war Bild genug zum Ton. Wenn Urzeitmenschen Musikanten an Höhlenwände malten oder Adolph von Menzel Friedrich II. beim Flötenkonzert in Sanssouci auf Leinwand bannte, ging es nicht um die Umsetzung von Klang in Bild, sondern um das Verewigen des Moments, des Rituals. Im 18. Jahrhundert entstanden Ideen von einer auf Musik basierenden Malerei. Schopenhauer schrieb: »Wie die Musik zu werden, ist Ziel jeder Kunst«. Aber erst als die Malerei konsequent nicht mehr nur sichtbare Realität abbildete, sich ihren Stoff auch in Emotionen, Eindrücken und Stimmungen suchte, wurde die Musik selbst zum Motiv. Wir haben einige Meilensteine der Musikvisualisierung zu einer völlig subjektiven Liste zusammengestellt.
Louis Bertrand Castel – Farbencembalo
Der französische Jesuit und Mathematiker schrieb nicht nur 1740 eine Abhandlung über die Melodie der Farben, die Goethes Farbenlehre inspirierte, er entwarf auch ein »Clavecin pour les yeux«, ein Cembalo für die Augen. Dem christlichen Gelehrten schwebte eine Farbmusik als universelle Sprache des Paradieses vor, ein vorbabylonischer Zustand, in dem auch Taube Musik genießen könnten (die Blinden muss er vergessen haben). Sein Klavier ist unter anderem in Beschreibungen von Georg Philipp Telemann überliefert, der mehrere Werke dafür komponierte: Sechzig kleine farbige Glasscheiben waren von Vorhängen verhüllt, die sich auf Tastendruck öffneten. Ein früher Vorläufer der Lightshow also.

Synästhesie-Faktor ★★☆☆☆ (vermutlich mäßig, aber Instrument ist nicht erhalten) Originalität ★★★★☆ (muss man erstmal drauf kommen) Spannung ★★★☆☆ (klappt es, klappt es nicht?) Wirkung ★★★★☆ (Telemann fand es klasse) Pop-Appeal ★☆☆☆☆ (zu low-tech)
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis – Fuge
Musikalische Bildtitel häuften sich um die Wende zum 20. Jahrhundert. Maler versuchten so, dem Publikum ihre schwierigen, weil nicht mehr nur an der sichtbaren Welt orientierten Bilder zu vermitteln. Andere wie Wassily Kandinsky oder Paul Klee fanden Musik-Vergleiche banal. Dabei soll Kandinsky sogar Synästhet gewesen sein, also aufgrund einer neurologischen Besonderheit Klänge gesehen haben. Der aus VAN-Sicht maßgebliche Beitrag aus der Zeit stammt von einem (außerhalb Litauens) kaum bekannten Komponisten und Maler: M. K. Čiurlionis. Kein nebenbei malender Komponist oder musikalisch dilettierender Maler, sondern ein echter Zweigleisiger, der Fugen in Ton und Bild komponierte. Sein Gemälde Fuge von 1908 klingt auch vor den Augen von Nicht-Synästheten.

Synästhesie-Faktor ★★★☆☆ (Es fehlt die Bewegung) Originalität ★★★★☆ (einer der ersten seiner Art) Spannung ★★☆☆☆ (Mit wenigen Blicken ist alles erfasst) Wirkung ★★★★☆ (schlichte Schönheit) Pop-Appeal ★☆☆☆☆ (zu monochrom, zu still, zu nachdenklich)
Piet Mondrian – Broadway Boogie Woogie
Die Linien und Farbflächen Piet Mondrians leben vom Rhythmus wie der Jazz. In seinem Spätwerk lösen die begrenzenden schwarzen Streifen sich auf, die Farbe befreit sich. »Echten Boogie Woogie«, schrieb der Maler, verstehe er »vom Ansatz her als homogen mit meiner malerischen Intention: Zerstörung der Melodie, was der Zerstörung der natürlichen Erscheinung gleichkommt, und Konstruktion durch die fortlaufende Gegenüberstellung reiner Mittel – dynamischer Rhythmus.« Im Broadway Boogie Woogie des damals frisch in die USA übersiedelten Niederländers schwingen neben Musik allerdings auch der geometrische Stadtplan von Manhattan, blinkende Neonreklamen und die Lichter des Straßenverkehrs mit.

Synästhesie-Faktor ★★☆☆☆ (ziemlich verkopft) Originalität ★★★☆☆ (entdeckt die populäre Musik als Motiv) Spannung ★★☆☆☆ (bei allem visuellen Rhythmus doch flächig) Wirkung ★★★☆☆ (vor allem bunt) Pop-Appeal ★★★★☆ (schön grell und dekorativ zu Stahlrohrmöbeln)
Walt Disney – Fantasia
In den 20er und 30er Jahren begannen Pioniere des abstrakten Films wie der gelernte Orgelbauer und Maschinenbauingenieur Oskar Fischinger, Musik in Animation zu verwandeln. Die Werke von Fischinger, Viking Eggeling (noch zu Stummfilm-Zeiten) oder Len Lye kannten nur wenige; Walt Disneys dritter abendfüllender Spielfilm Fantasia katapultierte 1940 die Kunstform in die Wahrnehmung von Millionen Kinogängern. Niedliche Putti, Zentauren und ein besoffener Bacchus tändeln zur Pastorale, Krokodil-Machos stemmen zu Ponchiellis Tanz der Stunden Nilpferddamen beim Pas de deux, und die größte kreative Kraft entfalten abstrakte Elemente, mit Tschaikowskis Zuckerfee tänzelnde Farbtupfer oder Fischingers Farbflächen zu Bachs d-Moll-Toccata. Der Ami Disney dreht die europäische Kunstgeschichte schamlos durch die Wurstmaschine. Zu Debussys Clair de Lune stelzt ein Silberreiher durch einen impressionistischen Seerosenteich à la Henri Matisse (eine aus dem Originalfilm geschnittene Szene, erst 1996 rekonstruiert). Und die berühmteste Passage, in der Micky Maus die Geister, die er rief, nicht mehr los wird, setzt eine Komposition von Paul Dukas in Bilder, der wiederum Goethes Zauberlehrling vertont hat: Postmoderne at its best. Auch Fantasia 2000, die Fortsetzung mit digitalen Mitteln, kann sich sehen lassen.
Synästhesie-Faktor ★★★☆☆ bis ★★★★★ (je nach Episode) Originalität ★★★★★ (nur genial) Spannung ★★★★☆ (nur wenige Längen, viel Abwechslung) Wirkung ★★★★★ (überwältigend) Pop-Appeal ★★★★★ (definiert Pop-Art besser als Warhol)
Weitere Videos hier: Claire de Lune, Fischinger Video, Eggeling
The Beatles – Yellow Submarine
13 Jahre vor dem Start des Musikvideo-Senders MTV bewarben die Beatles ihre Musik erst mit kurzen Clips und ließen dann abendfüllende Filme folgen. Der wohl überzeugendste ist der Zeichentrickfilm Yellow Submarine von Regisseur George Dunning und den Drehbuchautoren Lee Minoff, Al Brodax, Jack Mendelsohn und Erich Segal von 1968. Die Beatles hatten mit dem Film – bis auf kurze Gastauftritte in Realfilm-Sequenzen – wenig zu tun, auch ihre Musik diente eher als lose Inspirationsquelle denn als echte Vorlage. Trotzdem fängt der psychedelische Stil und der schräge Humor der Bilder viel von dem ein, was die Beatles und ihre Musik ausmacht. Vor allem John Lennons assoziative Sprachspielereien düngen das von den Blaumiesen attackierte Pepperland.
Synästhesie-Faktor ★★★☆☆ bis ★★★★★ (je nach Episode) Originalität ★★★☆☆ (nur genial) Spannung ★★★★☆ (nur wenige Längen, viel Abwechslung) Wirkung ★★★★★ (überwältigend) Pop-Appeal ★★★★★ (definiert Pop-Art besser als Warhol)
Godfrey Reggio – Koyaanisqatsi
1982 kam der erste Teil einer dialogfreien Filmtrilogie in die Kinos: Koyaanisqatsi, ein visuelles Tongedicht über die Eingriffe des Menschen in die Natur, den Zustand der Zivilisation und den ganzen Rest. Wolkenschatten im Zeitraffer, Fußgängerzonengänger in Zeitlupe. Die Musik zu den Bildern komponierte passgenau Minimalist Philip Glass, der mit dem von Francis Ford Coppola und George Lucas unterstützten Film einem breiten Publikum bekannt wurde. Der Titel stammt aus der Sprache der Hopi und bedeutet »Leben im Ungleichgewicht«. Wer sich gern in die repetitiven Patterns der Minimal Music versenkt, kann die schräge Schönheit der Aufnahmen im Zusammenklang mit den simplen Klangstrukturen meditativ bis rauschhaft finden. Alle anderen kann der platte Zivilisationspessimismus schnell nerven.
Synästhesie-Faktor ★★★☆☆ (erst das Bild, dann die Musik) Originalität ★★☆☆☆ (Grenzen-des-Wachstums-Platitüden) Spannung ★★☆☆☆ (Wolken beim Wandern zuschauen geht live besser) Wirkung ★★★☆☆ (arg anstrengend) Pop-Appeal ★★★☆☆ (Glass wurde schick)
Diverse – Demos und Intros
Als sich in den 1980er Jahren Home-Computer zu verbreiten begannen, entstand eine merkwürdige Subkultur zwischen Nerd und Cool: die Demoszene. In abgedunkelten Jugendzimmern pressten programmmierwütige Kids ihren 8-Bit-Rechnern alles an Grafik und Sound ab, was die Platine hergab. Auf einem Speicherplatz, über den heute ein durchschnittlich intelligenter Autoschlüssel verfügt, entwickelten sie in einer Mischung aus technischem und künstlerischem Ehrgeiz ihre »Demos«: musikalisch unterlegte Animationen, oft geknackten Kopien von Spielen vorangestellt und dann »Cracktro« oder »Intro« genannt. Die digitalen Graffiti der halblegalen Szene zu Zeiten des liebevoll »Brotkasten« genannten C64, später des Atari ST und des Amiga Szene verbreiteten sich über getauschte Disketten von Schulhof zu Schulhof. Was damals Millionen Präpubertierende begeisterte, überlebt heute in engen Nischen.
Synästhesie-Faktor ★☆☆☆☆ bis ★★★★★ (mal so, mal so) Originalität ★★★★☆ (völlig neue Kunstform) Spannung ★★★☆☆ (begrenzte technische Möglichkeiten) Wirkung ★★★★☆ (angesichts begrenzter technischer Möglichkeiten) Pop-Appeal ★★★☆☆ (1985er Schulhof-Credibility, heute leider extrem nerdig)
Microsoft – Windows Media Player
Mit dem Beinahe-Monopol der Windows-Betriebssysteme verbreitete sich auch der Windows Media Player bis in die hintersten Ecken der Welt: eine Abspiel-Software für Video- und Musikfiles mit eingebauter Visualisierungsfunktion. Konstant über die Versionen dabei sind die Varianten Alchemy, Battery und Bars and Waves mit vielen Wahlmöglichkeiten, weitere Programme sind online erhältlich. Sie setzen die digitale Audio-Information nach vom Programmierer bestimmten mathematischen Prinzipien in Daten um, die Bildsequenzen beeinflussen. Das Resultat sind Formen, Farben und Effekte, die sich mit der Tonhöhe und der Lautstärke der Musik verändern und dadurch ihrem Rhythmus, ihren Stimmungen angepasst erscheinen. Gegen Visualisierungssoftware, die Profi-DJs heute verwenden, sieht die Schreibtischversion allerdings alt aus.
Synästhesie-Faktor ★★★★☆ (mathematisch gesehen voll synchron, emotional nicht immer) Originalität ★★★★☆ (immer wieder neu) Spannung ★★★☆☆ (theoretisch endlose Variationen, einander aber doch sehr ähnlich) Wirkung ★★★☆☆ (hypnotisch) Pop-Appeal ★★★☆☆ (Microsoft ist halt nicht cool)
Stephen Malinowski – Music Animation Machine
Angeblich entdeckte Stephen Malinowski in den wilden 70er Jahren auf einem LSD-Trip die visuelle Kraft von Tönen: Er hörte Bachs g-Moll Violinpartita und las die Partitur mit, als die Notenfähnchen zu tanzen begannen. Er entwickelte eine Software, die Psychedelia mit den Darstellungsformen kreuzt, die Musikstudio-Programme benutzen, um Aufgenommenes edieren zu können. Das Ergebnis ist denn auch eine Mischung aus Musikanalyse und ästhetischem Erlebnis: Stimmen und Strukturen sind grafisch nachvollziehbar wie in einem Midi-Editor, die Visualisierung läuft linear vorbei.
Synästhesie-Faktor ★★★☆☆ (mehr Musikwissenschaft als für Freaks) Originalität ★★★☆☆ (geometrische Formen in begrenzter Variationsbreite) Spannung ★★★☆☆ (wer Noten lesen kann, ist klar im Vorteil) Wirkung ★★☆☆☆ (analytisch) Pop-Appeal ★★★★☆ (die LSD-Story reißt’s raus)
Animusic – Animusic 1 und 2
Die Jungs und (offenbar wenigen) Mädels von Animusic sind echte Codecruncher, aber auch große Künstler: Sie denken sich virtuelle Klangerzeuger aus – meist gegenständlich, wie Rohre, die Bälle auf Trommeln spucken, oder sich selbst zupfende Harfen, manchmal auch eher abstrakte LIchtstrahlen – und programmieren 3D-animierte Videos, in denen diese Klangerzeuger sich nach Musik bewegen. Anders als einst bei Disney müssen nicht Zeichner Takt für Takt bebildern, sondern die Kunst liegt in der Kreation des Musikgenerators und seiner Algorithmen (oder -rhythmen), die dann selbsttätig die gefütterten Klangsignale verarbeiten. Die aufwändige Rechner-Arbeit scheint sich nicht zu rechnen: Auf Teil 3 warten offenbar mehrere hundert Crowdfunding-Investoren schon lange vergeblich.
Synästhesie-Faktor ★★★★☆ (Klang wird fast greifbare Form) Originalität ★★★★★ (total abgefahren) Spannung ★★★★★ (erst recht für alle, die Geld in Teil 3 gesteckt haben) Wirkung ★★★☆☆ (Punktabzug für synthetische Instrumentenimitation) Pop-Appeal ★★☆☆☆ (Nein, Pop ist was anderes.)
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