Interview Arno Lücker · Titelfoto Oran Greier

Yoel Gamzou – Jahrgang 1988, geboren in Tel Aviv, aufgewachsen dort, in London und New York – ist ein Phänomen. Ein radikaler Musiker, ein unangepasster Typ. Gamzou galt als ›zu wild‹ für die bürokratischen Mühlen einer Musikhochschule. Stattdessen telefonierte er dem von ihm verehrten Dirigenten Carlo Maria Giulini solange hinterher, bis dieser sein Lehrer und Yoel sein letzter Schüler wurde. Gamzou dirigierte bereits Klangkörper wie das Israel Philharmonic Orchestra und die Bamberger Symphoniker. Aufsehen erregte seine 2010 uraufgeführte Version von Gustav Mahlers unvollendeter zehnter Sinfonie, an der er viele Jahre intensiv arbeitete. Zuletzt war Gamzou 1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor beim Staatsorchester Kassel. Seit 2007 lebt er in Berlin. Arno Lücker hat den Dirigenten in dessen »Zuhause« – dem Literaturhaus Berlin – an einem überraschend kühlen Juli-Tag zu einem Gespräch getroffen.


VAN: Yoel, warum treffen wir uns hier im Literaturhaus Berlin?

Yoel Gamzou: Eigentlich merkwürdig, dass ich ausgerechnet hier hingehe. Denn das Literaturhaus ist so etwas wie das Symbol für eine absolute bildungsbürgerliche Kultur-Elite …

FÜHLST du dich dieser Charlottenburger Elite denn zugehörig?

Eher nicht! Aber für mich ist das Literaturhaus der schönste Ort der Welt. Das ist eine ganz komische Geschichte. Als ich zwölf Jahre alt war, da stand ich da vorne mit meiner Oma am Eingangstor und habe zu ihr gesagt: ›Hier werde ich wohnen!‹ Ich habe eine Ingwerlimonade getrunken und dachte, das ist das Tollste, was es überhaupt gibt. In diesem wunderschönen Haus, in dieser wunderschönen Straße … in dieser Stadt wollte ich wohnen. Etwa zehn Jahre später, 2007, bin ich nach Berlin gezogen, fünf Umzüge später habe ich es tatsächlich geschafft, fast direkt in die Fasanenstraße zu ziehen. Und hier im Literaturhaus sitze ich jeden Tag, wenn ich Berlin bin. Das ist eine Art Arbeitszimmer für mich. Ich hatte sogar lange Zeit einen eigenen Tisch, auf dem ich mein Notebook und meine Partituren über Nacht liegen lassen konnte, weil ich am nächsten Tag eh wiedergekommen bin. Und ich fing damals an, mich mit dem Chef des Cafés, Peter Föste, familiär anzufreunden. Leider ist er vor drei Monaten nach schwerer Krankheit gestorben…

Bis heute initiierst du hier eine eigene Kammermusikreihe des von dir gegründeten International Mahler Orchestra. was reizt dich an diesem ort als konzertort?

Das Literaturhaus ist kein Radialsystem und kein Berghain. Aber das ist ja das Schöne! Indem wir im Literaturhaus Kammermusik machen, erweise ich diesem Stadtteil meinen Respekt. Denn die Charlottenburger Senioren sind es ja, die auch in die Philharmonie gehen. Unsere Programme sind allerdings sehr ungewöhnlich und die Atmosphäre ist sehr entspannt. Wer von den Musikern einen Frack anziehen will, kann das natürlich machen. Viele spielen aber auch im T-Shirt und mit Jeans. Wichtig ist, dass das Publikum unmittelbar in der Musik drin ist. Der Abstand der Musiker zur ersten Reihe ist teilweise nur fünfzig Zentimeter.

SIND DIR KONVENTIONEN EGAL?

Mir wollte mal ein österreichisches Orchester, das ich dirigiert habe, erklären, dass man bei Mozart die Verbindung von zwei Tönen immer abphrasieren müsse. Mit der Betonung auf ›Muss man!‹ und ›Immer!‹. Da habe ich gefragt: ›Warum?‹ Antwort: ›Weil wir das schon immer so machen!‹ Dabei ist das nur eine Option! Es wird erwartet, dass du, was andere als ›Tradition‹ empfinden, bewunderst und dich dem als Kreativer beugst. Noch viel schlimmer ist aber, dass erwartet wird, dass du die Musiker noch bestätigst – im Sinne von: ›Eure recycelte Geschichte, die ihr hier für Touristen seit vierzig Jahren rausholt, ist ganz toll! Danke, dass ihr für uns unsere European Heritage am Leben erhaltet!‹ Ich meine nicht, dass man Mozart nicht spielen sollte, dass die historisch informierte Aufführungspraxis nicht wichtig ist. Nur darf es eben nicht zur Religion werden und eine Absolution von oben bekommen. Es muss die historisch informierte Aufführungspraxis geben, die Verrückten, die Remixes, es muss alles geben. Wir haben nicht zu entscheiden, was das Publikum hören und glauben soll, sondern die Zuschauer sollten eine möglichst große Vielfalt geboten bekommen! Nichts ist heilig! Alles ist für alle da!

Wie meinst du das mit ›heilig‹?

Was mich besonders nervt, sind diese Zuschreibungen: ›Alles, was Beethoven geschrieben hat, ist genial!‹ Das ist natürlich Quatsch. Es hat ja Gründe, warum zum Beispiel manche Ouvertüren von ihm ganz selten gespielt werden. Und es könnte doch sein, dass Schuberts Deutsche Tänze für Streichorchester einfach kacke sind! Vielleicht brauchte er einfach nur Geld oder irgendein Freund hat ihn gefragt, ob er mal schnell für irgendeinen Salon-Zweck was schreiben kann. Viele heben das Ganze immer auf so einen Altar und beten es an. Mozart hätte das gehasst! Mozart hat gegessen, ist aufs Klo gegangen und hat Liebe gemacht – und das wahrscheinlich nicht zu knapp! Ähnlich bei Beethoven und Schubert – nur mit weniger Liebe zwischendurch …

WO hört man denn in Schuberts ›Unvollendeter‹ etwas von dessen Verdauung?

In den Momenten, wo diese Jenseits-Musik plötzlich ganz menschlich, ganz weltlich wird … Du hast da ganz viele Bauch-Musik-Momente drin, allein diese ganzen drängenden Synkopen. Bei Mozart hörst du doch teilweise ganz explizit, was er vermutlich vor, nach oder vielleicht sogar während des Komponierens gemacht hat … Die Musik können wir ja ruhig anbeten, aber wir müssen uns klar machen, dass diese Komponisten auch Menschen mit ganz alltäglichen Bedürfnissen waren. Und das darf sich ruhig in der Musik widerspiegeln. 

Wenn dir schon konventionen egal sind, so hast d
u doch als dirigent sicherlich bestimmte rituale, oder? 

Ja, aber ich bin nicht konservativ, wenn es um Erlebnismöglichkeiten geht. Egal, um welche Facette des Lebens es geht. Es würde nie passieren, dass ich, wenn ein Freund mich mit einem neuen Restaurant-Vorschlag anruft, sage: ›Nein, ich will in mein Stammlokal!‹ Niemals! Ich habe mich in den ersten Wochen in Berlin 2007 dazu verpflichtet, jeden Sonntag einen anderen Stadtteil, einen anderen Park oder ein anderes Museum Berlins zu besuchen, in dem ich noch nie war. Ich hatte so ein Buch: ›100 unbekannte Orte in Berlin.‹ Ich bin einfach von Natur aus neugierig. Und dann war ich in Marzahn, gehe in irgendeine Location und beginne mit jemandem ein Gespräch. Immer passiert irgendetwas. Danach gehe ich nach Hause und denke: ›Ich habe heute etwas erlebt und mein Leben ist wieder etwas reicher geworden.‹ Und falls ich bemerken sollte, dass ich nicht mehr neugierig bin, dann schieße ich mir eine Kugel in den Kopf!

Kommen wir mal vom potentiellen Ende deines Lebens zu deinen Anfängen … Wie und wo hast du deine kindheit und jugend verbracht?

Die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens waren sehr kompliziert. Meine Mutter wohnte in Israel. Mal war ich bei ihr, dann in irgendeinem Internat, mal bei meinem Onkel in New York, zwischendurch auch mal bei meiner Oma in Frankreich …

Gab es dann einen konkreten anlass, einen konkreten grund, der dich dazu bewogen hat, dirigent zu werden?

Ja. Als ich zum ersten Mal die Musik von Gustav Mahler gehört habe, da wusste ich, dass seine Musik im Zentrum meines Lebens stehen wird! Ich war ein sehr schüchternes Kind. Und da kommt dann dieser Mahler – und spricht. Und zwar mit meiner eigenen Stimme! Als wäre ich das also selbst! Ich hörte meine Stimme, meine Identität. Es war plötzlich alles so klar! Ich habe dann sehr früh begonnen, Partituren zu studieren, natürlich zu allererst die Sinfonien von Mahler. Und auch auf dem Papier konnte ich das alles zutiefst nachvollziehen.

Welche Sinfonie von Mahler war das damals?

Seine siebte Sinfonie. Es war mein siebter Geburtstag und ich habe eine Schallplatte mit der Aufnahme der Wiener Philharmoniker unter Leonard Bernstein geschenkt bekommen. Meine allererste Schallplatte habe ich aber schon zu meinem sechsten Geburtstag bekommen. Darauf war nicht Mahler, sondern die Symphonie fantastique von Hector Berlioz, außerdem Felix Mendelssohns dritte und vierte Sinfonie. Nach Mahlers 7. Sinfonie kam dann sofort das Lied von der Erde. Dazwischen noch Dvořáks Cellokonzert und die Cellosonaten von Brahms, weil ich selber Cello gespielt habe.

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War es auch Bernstein selbst, der dich als Mahler-Dirigent zusätzlich inspiriert hat?

Absolut. Ein großes Vorbild von mir! Dabei finde ich es gar nicht immer gut, was er macht, teilweise ist das auch nicht mein Geschmack. Seine Mahler-Interpretationen sind größtenteils pervers, aber diejenigen, die ich am besten nachvollziehen kann. Er ist für mich einer der ganz wenigen, die kapiert haben, worum es in dieser Musik geht. Ihm ist es ja gar nicht so wichtig, wie es klingt, sondern: warum. Er bringt die wirklichen Motivationsgründe dieser Musik zum Klingen. Er war so ein vielfältiger Künstler, hat genial komponiert und hat sich wirklich um das Publikum gekümmert. Ich hasse das Wort ›Audience Development‹, aber ohne Bernstein wären wir nicht da, wo wir heute sind. Als Gesamtpersönlichkeit absolut faszinierend.

Was ist denn an mahlers musik für dich als dirigent ganz praktisch gesehen wichtig?

Zum Beispiel diese extremen Kontraste. Und das Risiko! Das bestimmt mein Dirigentendasein sowieso sehr. Was mich heutzutage stört, ist, dass alles immer schön klingen muss. Das macht mich wahnsinnig. Alles ist hübsch, pretty! Der Klang ist immer schön und rund. Nein! Warum liebe ich Maria Callas so sehr? Weil sie manchmal absichtlich hässlich gesungen hat. Musik ist halt nicht immer schön. Musik tut manchmal so weh und ist so hässlich wie das Leben sein kann. Und ohne verdammtes Happy End!


Kommende Konzerte mit Yoel Gamzou in Deutschland
28./29. November 2015 Kassel, Kulturbahnhof
11. Januar 2016 Kassel, Stadthalle
19. Januar 2016 Stuttgart, Liederhalle
21. Februar 2016 Berlin, Haus des Rundfunks

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