Charlotte Brandi, Sängerin und Songschreiberin der Band Me and My Drummer, Klassikfan, traf ihn am Rande seines Konzerts im Berghain, Berlin, wo er neues Material aus seinem in Entstehung befindlichen Album vorstellte und das stargaze-Kollektiv begleitete, das nach eigener Aussage, »dieser Haufen von Leuten ist, die in klassischer und zeitgenössischer Musik geübt sind, aber Tag für Tag mehr davon inspiriert sind, was gerade in Pop/Folk/Electronica los ist und anderen, unbenannten Genres, um diese Grenzen herum.« Das Berghain war voll, und die Zuschauer/innen haben gebannt gelauscht. Fast aber hätte das Interview mit Owen nicht stattgefunden, weil dem der Synthesizer kaputt gegangen war, und er ihn reparieren wollte, da am darauffolgenden Tag eine weitere Show anstand.

Das Stargaze-Kollektive beim Pop-Kultur-Festival im Berghain • Foto Roland Owsnitzki
Das Stargaze-Kollektive beim Pop-Kultur-Festival im Berghain • Foto Roland Owsnitzki

VAN: Wie ist deine Wahrnehmung der klassischen Musikszene heute? Welche Orte hast du erkundet und welche Unterschiede siehst du?

Owen Pallett: Ehrlich gesagt, habe ich keine genaue Vorstellung von der deutschen Klassikszene. Ich kenne die aus London, Los Angeles, New York und Toronto. Meine zentrale Erfahrung dort ist immer wieder der dogmatische Geist der Beteiligten, die anscheinend genau wissen, was Musik ist und für wen sie gemacht wird.

Tatsache ist, dass ein Großteil des Geldes in der Klassik-Szene dafür ausgegeben wird, Orchester zu erhalten; die sollen dann Mahler oder Beethoven spielen. Ich finde das uninteressant; ich interessiere mich nicht für Musik von Menschen, die nicht mehr leben und unterwegs sind. Für mich liegt die Grenze nämlich da: es gibt die, die konservieren wollen, und die, die neue Musik schaffen. Letzteres interessiert mich.

Ich habe gestern deine Show im Berghain gesehen: großartig! Was ist Stargaze, und wie ist der Kontakt zu André de Ridder entstanden?

André und ich sind schon seit längerem befreundet, er mag meine Musik. Wir haben zusammen die sinfonischen Konzerte zu meinem Album Heartland gemacht. André hat mir außerdem die wunderbare Barbara Hannigan vorgestellt, vielleicht kann ich einen Song-Zyklus für sie machen. Er hilft mir also sehr.

Und Stargaze – das ist eigentlich ein Ensemble, das zusammengestellt wurde, um sogenannte cross-over acts zu begleiten, so kann dann eine Band wie Villagers mit diesen Kammermusikern performen. Ich habe eben diese Grenzen nicht im Kopf, von denen ich oben sprach, ich versuche, gute Musik zu machen, egal wo ich bin. Deswegen können wir gut zusammen arbeiten. Als wir mit dem Orchester gespielt haben, hat es sich allerdings seltsam angefühlt, ohne Instrument auf der Bühne zu stehen. Ich habe versucht, trotzdem tough auszusehen (lacht).

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Hier mit klassischem Ensemble und Instrument: Owen Pallett 2009 mit dem ORF Radio-Symphonieorchester, He Poos Clouds

Worum ging es, als du nach deinem ersten Song gestern meintest, du wärst bereit für die »deutsche« Kritik nach dem Konzert?

Du weißt doch, was ich meine, oder?

Also … ich tue so, als würde ich es nicht wissen, damit du es erklärst!

Es gibt dieses lustige Phänomen, das ein paar Deutsche mir erst mal erklären mussten: Wenn Deutsche dir ein Kompliment machen, dann immer in Kombination mit einer Kritik. Die meinen das nicht unfreundlich, es ist eher ein Ausdruck von Respekt. Deutsche sagen dir etwas Nettes, aber sie wollen gleichzeitig sichergehen, dass du nicht denkst, sie wollen dir den Bauch pinseln. Beispiel: »Das Konzert war großartig, es war brillant, aber das Licht war nicht so gut.« Sie wollen dir zeigen, dass sie kritisch reflektieren.

Publikum beim Pop-Kultur-Festival im Berghain • Foto Tonje Thilsen
Publikum beim Pop-Kultur-Festival im Berghain • Foto Tonje Thilsen

Mein Eindruck ist, dass deine Songs und deine Alben wie Musicals funktionieren: zwar ohne Handlung zwischen den Songs, aber sehr narrativ und miteinander verbunden.

Du bist tatsächlich nicht die erste, die den Musical-Vergleich bringt. Mich ärgert das ein bisschen, denn ich gehe nicht in Musicals, ich verstehe nicht, wie die funktionieren und wenn ich doch mal eines sehe, erkenne ich nicht, dass das irgendetwas mit meiner Musik zu tun hat – bis auf Stephen Sondheims Sunday in the Park With George, von dem ich großer Fan bin und bei dem ich auch das Gefühl habe, dass es ein paar stilistische Gemeinsamkeiten mit meinen Sachen gibt. Allerdings glaube ich nicht, dass Leute nun gerade daran denken, wenn sie den Musical-Vergleich ziehen (lacht).

Wie fiktional sind deine Texte?

Zuschreibungen sind immer so eine Sache. Auf Heartland, dem »Roman-Album«, ist zum Beispiel sehr viel Autobiographisches. Und auf In Conflict ist ganz viel, was mir zugestoßen ist, worüber ich aber nicht die Wahrheit sage, sonst wäre es nicht poetisch. Man muss die Wahrheit oft interpolieren, um einen Punkt rüberzubringen. Wenn ich dir von dem Date erzählen würde, das ich gestern Abend hatte, müsste ich auch ein paar Punkte verändern, damit meine Geschichte funktioniert.

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Charlotte Brandi: »Ich mag diesen Song von Owen am liebsten und finde, er spiegelt sein Spektrum am besten wieder, Keep The Dogs Quiet von Heartland«

Ich verstehe, was du meinst … wann bist du eigentlich dieses klassische Dogma, von dem du gesprochen hast, persönlich losgeworden?

Bis heute nicht! Das verfolgt mich immer noch. Ich glaube, das kann man nicht loswerden, man muss sich der Sache aber bewusst werden. Es gibt immer noch einen Teil in mir, der meinem Kompositionslehrer zeigen will, dass ich gut aufpasse. Der die einfachen Akkorde und Zeitstrukturen immer noch nicht ganz akzeptieren kann und sagt, ›hier muss ich noch ein bisschen mehr abweichen.‹ Das ist, glaube ich bei allen Menschen mit Talent und solch einer Ausbildung so: Für einen richtig guten Sänger ist es schwer, über den Sound der eigenen Stimme zu kommen, so wie es Scott Walker gemacht hat. Ich habe mal mit Warren Ellis gesprochen (australischer Geiger, der unter anderem mit Nick Cave spielt), und er hat etwas gesagt, was ich ziemlich grob, aber auch interessant fand: ›Ich habe fünfzehn Jahre Heroin gebraucht, bevor ich vergessen konnte, wie es geht, klassischer Musiker zu sein.‹

Das ist hart …

… um so mehr, weil er es in einem Raum voller klassischer Musiker gesagt hat; ich wollte ihm dafür den Finger zeigen, ich dachte, manche von uns brauchen das eben nicht, manche sind sich darüber im Klaren und schaffen es einfach irgendwann, sich davon zu stehlen. Wahrscheinlich würde mir eine Woche Meditieren reichen (lacht).

Foto Tonje Thilsen
Foto Tonje Thilsen

Worum geht’s im neuen Album?

Hoffentlich gelingt mir ein Album, das Stimmung erzeugt, wobei die hier sehr trostlos und traurig ist. Ich möchte, dass es ein Album ist, zu dem man einschlafen kann. Es soll alle Sinne umfassend und friedlich sein. Die Texte aber werden heftig. »Lewis«, auch der Protagonist auf Heartland ist drauf und dran, Haus, Frau und Kinder zu verlassen, um im Namen einer höheren Gewalt zu missionieren. Das bin in dem Fall ich, der Songwriter. An einem Punkt der Mission verliert er das Vertrauen in mich und meine Absichten, er steigt auf einen Berg, sticht mir mit einer Nadel in die Augen und stößt mich die Klippen runter. Das Album endet mit der Frage ›Was passiert nun, da der fiktive Charakter von der Last des Autors befreit ist?‹

Lewis wird an eine Küste gespült und fühlt sich emotional vereinsamt, völlig fremd und weiß nichts mit seinem Leben anzufangen. Er trauert; anfänglich hört man eine Art Grabrede, bei der nicht klar ist, ob er um mich trauert oder ich um ihn. Während er da an die Küste gespült wird, verliert er seinen Gott und weiß: er hat es versaut. Also beginnt er mit Drogen und Alkohol, wacht an fremden Orten auf, sogar verwundet, in Krankenhäusern.

Aber dann verliebt er sich, erlebt diese sehr intensive Affäre und beginnt, von dieser Person zu halluzinieren. Gegen Ende hat er aber das Gefühl, dass ihre Beziehung zerbricht, seine Gefühle überkommen ihn und er ist so obsessiv mit seinem Objekt der Begierde, dass er ins Meer geht und nach Owen schreit, er soll kommen und helfen, etwas tun, ihn sogar töten. Aber das passiert nicht. Stattdessen verschwindet er im All. Am Ende ist er im All, schwebt über der Erde, und hört Gebete zu sich hochdringen. Ja, er verliebt sich so schlimm, dass er im All versinkt.

Oh wow. Das ist harter Stoff.

Ja, wegen meiner eigenen psychischen Gesundheit war ich für diese Themen immer sehr aufgeschlossen. Bei mir hat man eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, ich bin wahnsinnig launisch, manipulativ im Umgang mit anderen und ich habe zum Beispiel große Angst davor, Dinge zu verlieren. Aber ich bin nicht verrückt, eigentlich geht es mir gut. Und gleichzeitig habe ich diese Erfahrungen, in denen ich Dinge dermaßen tief fühle … Viele Dinge, die Lewis auf diesem Album erlebt, entstammen meiner Erfahrung mit Liebe und dem Gefühl, völlig zerstört zu sein, jenseits jedes möglichen Konzeptes von Gefühl. Hier geht es um die Reflektion von unfassbaren Höhen und Tiefen Wenn man jemanden so sehr liebt und eigentlich alles in Ordnung ist, du bist mit dieser Person, sie hat ihren Arm um dich gelegt und sagt dir, dass sie dich auch liebt, aber du fühlst du dich so lebensmüde, du bist so überwältigt von dem Gefühl, dass du ins Wasser gehen und nach dem Tod schreien willst.

… und weißt, dass es kein Heilmittel gibt.

Genau. Gibt es nicht. ¶