Hamlet Gonashvili: Bei dieser Musik muss ich weinen, immer. Dazu die Sänger, die aussehen, als wären sie in einem russischen Fernsehstudio beim Singen eingeschlafen: das ist unfassbar schön.
Unter Tränen, Enno Poppe, Komponist und Dirigent
Irgendwann Ende der Achtziger gaben Joachim Kühn (Klavier), Daniel Humair (Schlagzeug) und J.-F. Jenny-Clark (Bass) ein Konzert in meiner Heimat- und Kleinstadt Rottweil. Die drei haben mich mit ihrem virtuosen, dynamischen und expressiven Zusammenspiel tief beeindruckt und bereiteten mir ein unvergessliches Musik-Live-Erlebnis, das mich aus der Kleinstadt in eine andere Welt entführte.
Ein Klangbeispiel gibt’s hier:
Die CD, die ich damals erstanden habe, heißt »From Time to Time Free« und ist bei CMP Records erschienen.
Simon Strasser, Oboe
Meine Auswahl ist eine sehr persönliche. Es fällt mir schwer, sie nur aus der Musik selbst heraus zu begründen, mindestens ebenso grundlegend sind die Umstände des Hörens – in einem ehemaligen Krankenhaus (Ziekenhuis) in Amsterdam, verwandelt in Ateliers und freies Wohnen, ein völlig unspezifischer Moment in einem Raum mit überwiegend Fremden, in einer Ecke ein Plattenspieler, der diese Musik spielt und damit den Raum mit Melancholie füllt, in der ich mich mit einem Mal völlig aufgehoben fühle. Ich muss zu dieser Schallplatte gehen und sehen, was ich da höre: Benjamin Britten, Cello Suites, Mstislav Rostropowitsch. Nicht nötig, das aufzuschreiben, damals 1986. Ich war 20 und hatte keine Angst, es jemals vergessen zu können.
Benjamin Britten, Cello Suites
Ernst Surberg, Klavier
Falling Grace vom Jazz Pianisten Chick Corea ist eines meiner absoluten favorite tunes, seit ich das Stück vor vielen Jahren zum ersten Mal gehört habe. Eine ganz besondere Interpretation dieser Komposition, im Duo mit dem Vibraphonisten Gary Burton, ist auf dem Album Crystal Silence zu hören – ich könnte mir vorstellen, wenn Johann Sebastian Bach im 20. Jahrhundert gelebt hätte, dann hätte er vielleicht so komponiert und improvisiert.
Roland Neffe, Schlagzeug
Bei mir ist es vielleicht ähnlich wie bei Ernst (siehe 3) mit einem bestimmten Stimmungs- und Erlebniszusammenhang verknüpft. Dadurch wurde ganz ungeplant eine Musik plötzlich zu einer Offenbarung und zu einer Antwort auf eine vorher nicht geahnte Frage. Ich war vielleicht 14 Jahre alt und mit meinen Eltern und meiner Schwester bei einem dieser Sonntagsspaziergänge im Karlsruher Stadtpark. Ich empfand einen so starken pubertären, bittersüßen, existentiellen Sinnsuchschmerz, wie man ihn nur bei einem dieser Spaziergänge bekommen konnte ….! Da kamen wir an einer Kirche vorbei, in der gerade ein Konzert des SWR-Orchesters begann, welches wir spontan besuchten. Es erklang: Franz Schubert: Die Unvollendete.
Christian Vogel, Klarinette
Ich habe das Stück mit 15 Jahren in der Berliner Philharmonie gehört. Ich weiß nicht mehr, wer gespielt hat, aber die Klarinette im langsamen Satz hat mich zutiefst berührt. Habe mir dann gleich eine Aufnahme besorgt (mit Alfred Brendel) und mir ständig nur diesen einen Satz angehört … Aber warum soll bei einer Musik-Playlist ein Video-Link dabei sein? Musik muss man live oder nur hörend erleben, ein Video bringt gar nichts!
(Anmerkung der Redaktion: Doch, wenn man die Augen schließt.)
Karen Lorenz, Viola
Nur einen Song auszuwählen, finde ich ausgesprochen schwer – die Auswahl würde jeden Tag ein wenig anders ausfallen. Heute ist es Igor Strawinskis Sacre du Printemps. Ich habe das Stück erstmalig vom Band als Vormusik zu einem Post-Punk-Konzert gehört (mit Siouxsie and the Banshees – muss man nicht kennen). Ich war so begeistert, dass ich mir am nächsten Tag sofort eine Aufnahme gekauft habe (mit Leonard Bernstein und dem Israel Philharmonie Orchestra). Ein paar Wochen später habe ich Sacre dann auch im Konzert gehört (mit den Berliner Philharmonikern). Ich muss etwa 16–17 gewesen sein. In gleicher Weise hat mich aber auch A Love Supreme von John Coltrane überrollt. Ich kenne wenig Aufnahmen, die mit soviel Ausdruck und Schmerz gespielt werden.
Martin Losert, Saxophon
Hör dir das mal an: die vietnamesische Talkbox, Vielleicht können wir mal bei Mosaik ein Stück für 3 Dan K’ni spielen?
Sehr eigener mikrotonaler Geheimtipp: Das großartige Album Beauty in the Beast von Wendy Carlos, stilistisch zwischen allen Stühlen mit erster Sampletechnik und selbsterfundenen Skalen.
Machauts Messe de Notre Dame gesungen vom Ensemble Organum, in diesem Youtube-Video mit Noten und teilweise mit korsischen Sängern, die vielleicht einen Zeittunnel in den damaligen Gesangsstil öffnen. Da gibt’s Melismen, da flippst du aus.
Mathis Mayr, Violoncello
Als Kind in der Sowjetunion hatte ich das Glück wie auch das Pech, unter oppositionellen oder nicht dem sozialistischen Realismus konformen Künstlern aufzuwachsen. Schriftsteller wie Daniil Charms oder Künstler wie Ilja Kabakow hatten zwar quasi ein Berufsverbot, durften aber Kinderbücher schreiben oder illustrieren. Auch ein Kinderfilm oder Zeichentrickfilm war ein mögliches Experimentfeld, wo formale oder technische Untersuchungen unternommen wurden, die bei der Erwachsenenproduktion undenkbar gewesen wären. So auch mit der Popmusik. Während in den 70er-Jahren die ersten staatlichen Bands weichgespülte Kopien der Westkultur für die Unterhaltung des Volkes dahin schnulzten, wirkten Zeichentrickfilme wie die Bremenskie Musykanty wie eine Bombe unter der heranwachsenden Generation der Perestroika. Und streng nach dem sozialistischen Plan wurden alle halbwegs erfolgreichen Filme auch als Platten herausgegeben, somit hatte sie jeder.
Ich bin in einer streng »klassischen« Familie aufgewachsen, aber gegen Kinderschallplatten hatten meine Eltern nichts einzuwenden. Meinen ersten ästhetischen Schock erlebte ich beim Hören der Schallplatte des Zeichentrickfilms Der blaue Welpe (Голубой Щенок, hier gibt es die ganze Platte). Besonders das Lied von dem »bösen, sehr bösen Piraten« beeindruckte mich mit seinen verzerrten Gitarren-Akkorden und den Schweineorgel-Eskapaden. Die Schlachtszene klingt für mich immer noch wie eine krasse Jazz-Rock-Nummer.