Liza Lims Oper und ihre Inszenierung gehen auf ein Werk von Jonathan Safran Foer zurück, das wiederum die Ausstanzung eines Buches von Bruno Schulz ist. Da kann Bedeutung nur noch behauptet werden.

Text · Fotos © Paul Leclaire / Oper Köln · Datum 13.4.2016

Schaffen, indem man etwas wegnimmt. Was Jonathan Safran Foer für seine Buch-Skulptur Tree of Codes (2011) gemacht hat, ist aber nicht verwandt mit Radierung, Bildhauerei oder Stockhausens Filtern des weißen Rauschens, sondern eher mit einem Remix unter stark verschärften Bedingungen: Vom Text seines Lieblingsbuches, Bruno Schulz’ Die Zimtläden (polnisch: Sklepy cynamonowe), ließ er das meiste rausstanzen – Sätze, Wörter, Absätze. So ist eine Skulptur entstanden, ein fast hohles Buch, außerdem eine neue superkurze Erzählung, besser ein langes Gedicht. Aus ›The Street of Crododiles‹, dem englischen Titel der Zimtläden, wird durch das Weglassen einiger Buchstaben ›Tree of Codes‹. Das Thema der beiden Werke ist Auslöschung, auch Auslöschung jüdischer Kultur, Schauplatz bei Schulz ist ein Schtetl in Galizien.

Medienwechsel: ›Cut-Outs in Time‹ ist der Untertitel von Liza Lims Opern-Adaption von Tree of Codes. Am 9.4. wurde sie in der temporären Staatenhaus-Spielstätte der Kölner Oper uraufgeführt. Es gibt keine Zeit mehr, es gibt keine Region: Der Künstler Massimo Furlan, verantwortlich für die Inszenierung und die Bühne, hat das Ganze in eine Art Labor verlegt; da stehen Tische, die meisten der Akteure tragen weiße Kittel: zwei Schauspieler/innen, zwei Sänger/innen und das Ensemble Musikfabrik, das neben der Kölner Oper und Hellerau, dem Dresdner Zentrum für Kunst, Auftraggeber des Werkes ist. Wenige unter ihnen stehen aber kostümtechnisch an der Schwelle zu anderen Gestalten: Vogel, Insekt, Müllhaufen, Baum, anderen Menschen. Zwischendurch werden die Rollen auch getauscht.

Die Zusammenarbeit zwischen Inszenierung, Komposition und Ensemble war, das kommt im Vorgespräch raus, mehr als nur Schnittstellenverwaltung. Das Ensemble brachte besondere Instrumente ein, die Komponistin schrieb Stimmen für konkrete Musiker/innen, und auch Massimo Furlan durfte arbeiten, ohne sich nach einer fertigen Komposition als Basistext zu richten. Alle hatten sehr viel Freude bei der Arbeit; aus der gleichberechtigten Kooperation sei ein polysemic picture entstanden.

Trompeter Marco Blaauw moderierte das Vorgespräch. Er fragt hier Liza Lim: »You were very specific about the brass players using the double bone (double bell) instruments …«—»No that’s completely wrong! The musicians of the ensemble said: ›I think you should write for the double bone instruments‹»—»Yes we always say that to to composers.«

Und die Handlung? Schon Foers Buch ist der feuchte Traum von Akademikern, die auf Worte wie Hypertext, Meta- und Intertextualität stehen (siehe die Besprechung im Guardian). Was Furlan, die Dramaturgin Claire de Ribeaupierre und die Komponistin hier präsentieren, geht noch einen Schritt weiter und bringt jede Struktur zum Kippen. Was ist wann, wer ist wer, wer erzählt überhaupt? Die Bühne ist meist bis in die Tiefen gut ausgeleuchtet, die 20 Leute darin betreiben Raumverlagerung, Menschen sterben vielleicht, tauschen Maske und Kostüm, soviel lässt sich sagen.

Ensemblemitglieder stehen auf der Bühne und übernehmen zaghaft und blass auch darstellerische Funktionen. Was sie als Instrumentalensemble machen, gehört auch dank Komposition und Klangregie zum Besten an diesem Abend. Manche der Instrumente könnten auch durch Genmanipulation im Labor entstanden oder aus auf geheimnisvolle Weise erhalten gebliebenen urzeitlichen Samen entwachsen sein: Doppeltrichterposaune und Doppeltrichtertrompete, Shrutibox, Nasenflöte. Von allen Seiten fügen sich diese und andere in losem Rhythmus und tonal höchstens tastenden Klänge zu einem Musiklabor zusammen. Kein Winkel und kein Moment bleibt klanglich ohne Spannung. Und das, obwohl auch die Musik – wie Bühnenbild- und Handlung – kaum Vorder- und Hintergrund kennt, sie ist eine zweite, hyperreale Natur. Die komponierten Klänge kommentieren, grundieren, kontrastieren, wenden sich hier zu, dort ab, ein bisschen wie der Chor in der griechischen Tragödie.

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Trailer von Tree of Codes / Oper Köln

Hohl wird es lediglich da, wo es Oper werden soll, bei der man eigentlich nachvollziehbare Verdichtung, Entspannung, Zuspitzung erwartet. Aber muss es das, ist nicht genau das die Gestaltung? Warum lasse ich mich nicht auf das Artifizielle ein, auf die noch unklaren Codes von Flora und Fauna im Labor, auf Rituale, die auch etwas ganz anderes bedeuten könnten? Immerhin sind die Grenzen doch flimmernd. Menschliche Sprache geht manchmal in Nasenpfeifen über, der Text ist fragmentiert, ergänzt, geschnitten und getuned. Warum höre ich nicht das Flüstern der Zukunft? Warum suche ich den singulären Genius im Werk?

Zum einen sind da die Arien, nennen wir sie so, die vielen Gesangseinlagen der Sopranistin Emily Hinrichts und das Baritons Christian Miedl. Untereinander nicht groß unterscheidbar, suggerieren sie Dramatik in einer post-dramatischen Umgebung. Auch der Text zwingt den Zuschauer zu einer Auseinandersetzung mit Bedeutung, zum Lösen von unlösbaren Rätseln, zum Ausdenken einer Geschichte, die man nur selber versteht. Die Worte, die nach der Filterung von Schulz zu Foer zu Lim übriggeblieben sind, deuten große Themen an, die sich auf der Bühne wieder verlaufen. Zitate aus dem Erlkönig (es geht wohl um Verlust), die überdeutlich gemachte Schlussbotschaft, dass der Tree of Codes für ständige Transformation steht (also irgendwie positiv). Das sind relativ notdürftig getackerte Klammern für etwas, was eine Oper werden sollte, aber als gute und gefährliche Installation (am besten zum Durchlaufen) vielleicht mehr Eindruck gemacht hätte.

Das Ganze lohnt unbedingt einen Besuch, um den Möglichkeiten des Musiktheaters eine neue Perspektive hinzuzufügen, zu sehen, was die Kompositionstechnik und Experimentierfreudigkeit von Liza Lim mit Licht, Klangregie und Bühne an Neuem hervorbringen kann. Am Ende bleibt vielleicht zum laborartigen Rätseln zu viel, zum wortlosen Erahnen oder Fühlen zu wenig zurück. ¶