Colin Stetson macht die dritte Sinfonie zum Werk des Einsiedlers, der Górecki war.

Text und · Fotos © Brantley Gutierrez · Datum 13.4.2016

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Der Musikkritiker Richard Dyer blickt im Juli 1993 in die angloamerikanischen Pop-Charts. Auf Platz 6 steht dort die 3. Sinfonie eines Henryk Mikołaj Górecki, betitelt mit Sinfonie der Klagelieder. »Henryk who? Is he the fourth tenor?« fragt sich Dyer in seinem Artikel für den Boston Globe.

Die 3 Tenöre und Henry Górecki, mehr antithetisches Material geht nicht. Dort der kalkulierte kommerzielle Erfolg, drei mal groß macht Supergroup. Auf der anderen Seite der obskure polnische Komponist Henryk Górecki, der damals selbst nach den bescheidenen Maßstäben der Musik-Avantgarde am Rande der Wahrnehmungsschwelle lebte, in Kattowitz, dem oberschlesischen Ruhrpott. Seine 3. Sinfonie, ein One-Hit Wonder?

Bereits 1977 war sie als Auftragswerk des SWR Sinfonieorchesters beim Royan Festival uraufgeführt worden, das von 1964 bis 1977 eine Art Donaueschingen an der französischen Atlantikküste bildete. Die weiteren eingeladenen Uraufführungen des Jahres stammten vom Stockhausen-Schüler Emmanuel Nunes, dem Spektralisten Hugues Dufourt, Jacques Lenot und Wolfgang Rihm. Es bedarf keiner großen Anstrengung, sich den frostigen Empfang von Góreckis Sinfonie in diesem Kreis vorzustellen.

Sechzehn Jahre später ist sie fast vergessen. Dann spült sie eine Neueinspielung der London Sinfonietta unter dem Dirigenten David Zinman und mit der Sopranistin Dawn Upshaw über eher zufällige heavy rotation auf Classic FM in die Charts (einer der DJs spielte jeden Samstagmorgen denselben Auszug). Mit dem Erfolg hatte niemand gerechnet. Der SPIEGEL schreibt entgeistert, das Label Nonesuch liefere nun täglich 8000 Tonträger aus. Damals aufsehenerregend, heute unfassbar. Die Aufnahme ist für 37 Wochen die Nummer 1 der Billboard Klassikcharts, bis Endes des Jahres 1993 sind es weltweit über 600.000 verkaufte Alben. Dabei wusste man im Feuilleton zunächst nicht einmal, wie man ihn nun schreiben sollte. Görecki? Gorecky? Górecky? Gorecki?

Cover der legendären Einspielung von Góreckis 3. Sinfonie, die sich in die Charts katapultierte.
Cover der legendären Einspielung von Góreckis 3. Sinfonie, die sich in die Charts katapultierte.

Und dann dieses Œuvre: Zunächst die radikal modernistischen Frühwerke, Scontri, uraufgeführt 1960 beim 4. Warschauer Herbst, oder die Zyklen Genesis (1962-63) und Muzyczka (1967-70). Sie machen ihn zur Sensation der polnischen Musikszene. »In der Musik steht die neue polnische Schule im ersten Rang der europäischen Avantgarde mit so jungen Begabungen wie Henryk Gorecki, und Krzysztof Penderecki, beide 1933 geboren« schreibt Everett Helm 1961 in der NZfM.

Ende der 1980er Jahre hebt sich der eiserne Vorhang und die Scheuklappen der westlichen Avantgarde öffnen sich langsam der Musik dahinter (Pierre Boulez sagte noch 1986 über György Kurtág: »Seine Musik war mir bis in die letzten Jahre vollständig entgangen. Tatsächlich vollständig: ich kannte keine Note, nicht einmal den Namen des Komponisten!«)

Górecki hat da jedoch bereits mit der Moderne gebrochen. Die zweite und dritte Sinfonie, die von Papst Johannes Paul II. beauftragten Beatus vir für Bariton, Chor und Orchester und Totus Tuus – sie durchzieht ein monumentaler, mystischer Minimalismus. Kitsch oder ehrliche Emphase? In welches Koordinatensystem sollte man diese Musik einordnen? Woher kommt diese merkwürdige Mischung, geschöpft aus der Volksmusik der Tatra und Kirchenmusik, Katholizismus und Naturverbundenheit?

Auf Selbstauskünfte des Urhebers ließ sich beim Ergründen kaum .

Je weniger man über ihn wusste, desto mehr schossen, angefeuert von der plötzlichen Popularität, Gerüchte und Projektionen ins Kraut. Die 3. Sinfonie, in der er im ersten Satz ein klösterliche Klagelied Marias aus dem 15. Jahrhundert, im zweiten eine Inschrift aus einer Zelle des Gestapo-Gefängnisses in Zakopane und im dritten die Melodie eines oberschlesischen Volkslieds aus der Zeit der polnischen Aufstände verarbeitete, überzog sich mit einem Wildwuchs an biographischen Zuschreibungen: ein Klagegesang auf seine früh verstorbene Mutter Otylia, seine eigene Unterdrückung im kommunistischen Polen, die Opfer des Nationalsozialismus, das Leiden am eigenen Körper (schon in der Jugend litt er an Nierenversagen, später machte ein Gehirntumor seine Pläne, Konzertpianist zu werden, zunichte, bereits mit 26 hatte er sich sechs Operationen unterziehen müssen).

Aber Górecki zog aus dem Klagemotiv eine universellere Beschreibungskraft für den Zustand der Welt und die menschliche Existenz. In einem Interview für Tony Palmers BBC Dokumentation Symphony of Sorrowful Songs erzählt er von seiner Unterdrückungserfahrung im kommunistischen Polen, um abschließend festzustellen: aber der Horror in der Welt, der geht doch immer weiter.

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Tony Palmers BBC Dokumentation Symphony of Sorrowful Songs über Górecki und seine 3. Sinfonie.

An den Charterfolg der 3. Sinfonie schloss sich eine wilde Rezeptionsgeschichte in Film- und Popkultur an. Die New Age Bewegung versuchte die Sinfonie als spirituelle Erbauungsmusik und Gorecki als Gleichgesinnten zu vereinnahmen. Der Pop sortierte sie in die Regale zwischen Enya und Enigma, Arvo Pärt und gregorianische Gesänge. Auszüge der Sinfonie wurden Teil der Soundtracks von Maurice Pialats Police, Peter Weirs Fearless, Paolo Sorrentinos La Grande Bellezza, Terrence Malicks The Tree of Life oder Julian Schnabels Basquiat. Die Manchester Trip-Hop Band Lamb sampelte sie 1997 in den Song Gorecki, zuletzt versuchte sich Portisheads Beth Gibbons an der Gesangspartie.

Górecki hasste Popmusik und Fernsehen, auch die Verwurstung in Filmen und Holocaust-Kitsch war ihm ein Graus. Den Verleih des Films von Tony Palmer in Polen untersagte er, weil er seine Musik nicht für andere Zwecke verwendet sehen wollte. Sich selbst bezeichnete er einmal als odludek, .

Vom Erfolg seines Charthits baute er sich ein Haus in Zakopane am Fuß des Tatra-Gebirges, wo er weiter komponierte (insbesondere drei vom Kronos Quartett in Auftrag gegebene Streichquartette), als Hobby Lehnstühle baute, und das er nur selten für Auslandsreisen verließ.

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Colin Stetson sieht mit seinem Bart auch ein bisschen aus wie ein Einsiedler. Der amerikanische Saxophonist spielt seit Ende der 1990er Jahren mit Free-Jazz und Avantgarde-Größen wie Anthony Braxton, Laurie Anderson oder Fred Frith zusammen, wurde allerdings einer größeren Gruppe von Menschen bekannt durch Kollaborationen mit Tom Waits oder der Kanada-New-York-Szene des Independent Rocks um Arcade Fire. Seine Soloalben gehören zu den wenigen Beispielen von Musik, die auf Minimal-Prinzipien beruht, aber blutet, schreit und kämpft, das Schwert hebt und den Schild senkt. Da spielt Stetson meist unbegleitet seine schnellen Folgen von Tönen und Geräuschen, die andere Saxophonisten eher zu vermeiden suchen. Kein Pattern ist zuviel, alles muss ausgespuckt werden, und während Stetson zirkulär atmet, muss man als Hörer aufpassen, dass man das überhaupt tut.

Jetzt hat der sich Góreckis 3. Sinfonie vorgenommen und sich ebenfalls hemmungslos als Fan des Werkes geoutet. Wir haben unsererseits in VAN selten einen Hehl daraus gemacht, dass uns das Re-mixen, Re-composen und Re-imagining von klassischen Stücken oft mit einem etwas schalen Gefühl zurücklässt. Da gibt es oft genug viel Soundeleganz und Coolness, viele Zierbäumchen, keinen Wald mehr.

Um es kurz zu machen, das ist bei Sorrow – a reimagining of Góreckis 3rd Symphony, das Stetson mit einem Dutzend Musiker/innen neu aufgenommen hat, anders.

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Trailer zum Album

Stetson selbst sagt:

The concept was simple, and true to the original score. I haven’t changed existing notation, but rather have worked with altering instrumentation, utilizing a group consisting heavily of woodwinds, synthesizers, and electric guitars, as well as retaining an element of the orchestral in a string section of violins and cellos

My approach was ›additive‹, in that I imagined certain sounds or parts, though not present in the original, were (to me) extensions of the emotional core of the piece.

Er spricht hier sehr bescheiden. Wenn man sich das anhört, entsteht aber der Gedanke, dass dieses Werk, das für das klassische Orchester manch einem zu süßlich, schwülstig und naiv war, vielleicht hier Klänge gefunden hat, die es mal wieder atmen lassen. Atmen übrigens im wahrsten Sinne des Wortes: Der erste Satz ist erst mal zu einem großen Teil ein einziges Luftholen, ein langsames Füllen des Blasebalgs mit dem Basssaxophon, mühsam und staubig, bevor ein helles, stehendes Gebilde entsteht, das vielleicht im Original zu sehr dem Fortschreiten und Dirigierbar-Sein verpflichtet ist. Gerade dieses Saxophon taucht immer wieder als müder Erzähler auf, wenn der Rest verklingt, oder bevor der Rest anfängt. Und dann der dritte Satz, schwere Beckenschläge, ein erschöpft, aber blitzaufmerksam gespieltes Schlagzeug. Streicher bauen flirrende Fläche, Bläser spielen negative Fanfaren. Nochmal: Das ist die Originalpartitur. Und weil dieses dunkle Getöse dräut, erscheint die Singstimme weniger glamourös, weniger ätherisch und mehr aus und von den Wirren der Welt sprechend. Klar, da ist Interpretation dabei im Sound, und auch Zeitgeist: die letzten 20 Jahre Stoner-, Post- und Indierock sind nicht zu überhören.

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Extrakt aus III

Stetson zieht das Werk in seiner ganzen Länge in die Erde, durch den Staub. Komischerweise wirkt gerade das nicht als neue trendige Verpackung, sondern vielmehr als Erinnerung daran, dass Góreckis 3. Sinfonie von Anfang an verpackt war, auch weil der »Sound« und das Umfeld des Sinfonieorchesters gerade diesem Werk nicht immer einen Gefallen getan hatten. ¶