Ein Telefonat mit dem Pianisten und Cembalisten Kristian Bezuidenhout. Er hat eine sanfte Art zu reden, ohne dabei zaghaft zu wirken. Während er sein Hemd bügelte, sprachen wir über Musik von Bach.

VAN: Du hast mit Isabelle Faust kürzlich beim Musikfest Berlin die kompletten Sonaten für Violine und Cembalo von Bach aufgeführt. Auf dem Programm standen auch noch Werke anderer Komponisten …

Kristian Bezuidenhout: … Johann Jakob Froberger und Franz Ignaz Biber, deren Musik die Schnittstellen der französischen, italienischen und nordeuropäischen Stile des 17. Jahrhunderts zeigt. Froberger war ein Schüler von Frescobaldi, der den italienischen Stil an den Wiener Hof brachte und später den weichen französischen Cembalo-Stil von Louis Couperin in seine Kompositionen aufnahm.

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Das Lamento aus der Suite XII FbWV 612 von Froberger. 

Bei Biber haben wir das Element des stylus phantasticus – ein brillanter, improvisatorischer Stil, der verbunden ist mit der Norddeutschen Schule, und hier angewendet wird auf Werke für Violine solo, einem damals eher italienischen Genre. Diese Komponisten waren alle Teil einer gegenseitigen Befruchtung von Stilen, die auch in den Werken von Bach die ganze Zeit eine Rolle spielt.

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Sonate für Violine solo in A Dur, Die Nachtigall, von Biber.

Wo zum Beispiel?

In Bachs Sonaten für Violine und Cembalo liegt, so scheint es mir, eine duftende Melancholie in den Melodien, die inspiriert ist von der gestischen Welt der französischen Musik des späten 17. Jahrhunderts. Gleichzeitig gibt es winzige rhythmische Zellen à la Vivaldi, die Bachs Musik dieses Vorwärts-Treiben verleihen, das man sofort wiedererkennt.

Bachs Vivaldi-Besessenheit ist bekannt. Ich mag die Vorstellung, dass diese Faszination über die Nutzung der Ritornellform hinausging und stattdessen geprägt war durch eine neugewonnene Freude bei der Verarbeitung von durchgängigen rhythmischen Motiven oder Texturen – zum Beispiel im nach Philip Glass klingenden dritten Satz von BWV 1018 – eine Form, in die Bach dann Musik mit wachsender harmonischer Kühnheit gießt.

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Der »Glass-Satz« der Bach-Sonate für Violine und Cembalo (No. 5) in f-Moll

Außerdem gibt es bei Bach diese immense Virtuosität und die schmerzende klangliche Schönheit der Italienischen Geigenschule: Denk’ nur mal an die filigranen und fast endlosen Girlanden des ersten Satzes von BWV 1016. Das klingt nach einer sehr großen Hommage an Corelli, ob gewollt oder nicht.

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Die »filigranen und fast endlosen Girlanden« des ersten Satzes von BWV 1016, Bachs Sonate für Violine Cembalo No. 3 in E-Dur

Es ist wahrscheinlich eine Schande, dass wir nicht auch etwas von Vivaldi im Programm hatten. Da hätten wir mehr ausgefallene Virtuosität und eine ausdrucksstarke Verwendung von Ritornellformen zeigen können. Natürlich ist es unmöglich zu wissen, inwiefern Bach solche Musik gekannt hat, aber es gibt Anhaltspunkte, die zusammengenommen das Bild eines Bach ergeben, der sehr viel in die Einarbeitung in andere Stile und dessen Gebrauch investierte.

Ist diese Art, ein Programm zusammenzustellen, unorthodox?

In der Welt der historischen Aufführungspraxis ist dieser Zugang sehr üblich. Ich hatte das Glück, während meiner Ausbildung zum Cembalisten Bachs Musik fast komplett kontextbezogen kennenzulernen. Arthur Haas, mein Lehrer, hat mit mir minuziös an Details von Couperins L’Art de toucher le clavecin und an Frescobaldi Toccaten gearbeitet. Den größten Teil meiner Zeit verbrachte ich nicht mit den großen Werken von Bach wie den Goldberg-Variationen oder dem Italienischen Konzert, sondern mit den musikalischen und stilistischen Grundlagen, auf denen Bach seine großen Werke aufbaute.

Aber in der ›normalen‹ Klassikwelt wird es manchmal nicht so gern gesehen, seine großen Werke neben anderen Kleinmeistern (so ein abwertender Begriff, aber ich nutze ihn hier bewusst) zu spielen: Fast, als ob das Programmieren von Bachs Musik neben anderen sein Genie oder seine Sonderstellung besudeln würde.

Ich glaube fest daran, dass der Durchschnittsmensch auf der Straße Bach hören kann und das Genie und die Schönheit erkennt, aber in so vielen Konzerte ist es heute so, als müsste Bach so dargestellt werden, als sei er 1685 aus dem Nichts erschienen, ohne äußere Einflüsse, damit man ihn als herausragende Figur der Musikgeschichte betrachten kann.

Ironischerweise sind wir etwas affektiert geworden in Bezug auf seine Musik. Sie ist nicht mehr etwas zum Anhören, sondern ein Denkmal und Objekt einer merkwürdigen Heiligsprechung geworden…

Du glaubst, er war einfach ein Mensch seiner Zeit.

Bachs Werke neben denen seiner stilistischen Vorgänger zu zeigen, besudelt seine Musik überhaupt nicht, das zeigt viel eher, in welchem Ausmaß Bach die Kreuzung von Stilen auf ein neues Level brachte. Wenn man Biber vor Bach spielt, klingt Bach anders, weil du einen klanglichen Kontext für die Musik hast. Der Bach, den wir dann sehen, ist nicht nur ein ›deutscher‹ Komponist, sondern ein echter Kosmopolit; kein Konservativer, sondern einer, der bewusst Regeln bricht; kein isoliertes Genie, sondern ein Komponist, der sich der Bedeutung seines eigenen Werkes sehr bewusst war.

Was stört dich an dieser monolithischen Art der Programmgestaltung?

Es schränkt das Erleben des Publikums ein und hält die Musizierenden eventuell davon ab, expressiver zu sein. Wenn ich das Radio anmache und eine Bach-Aufnahme höre, denke ich oft: ›Muss das so klingen?‹ In unserer Ehrfurcht vor diesem Repertoire – ich spreche hier von den instrumentalen Solo-Stücken – vergessen wir oft, zum Kern des Charakters eines Stückes vorzudringen. Wenn ich zum Beispiel kontrapunktische Musik höre, bin ich manchmal ratlos, was der zugrundeliegende ›Text‹ des Themas ist. Was ist die grundlegende DNA des Fugenthemas? Was ist der Kantatentext, den Bach im Kopf hatte und zu dem er sein Thema setzte? Kontrapunkt ist auch Musik!

Als Isabelle Faust und ich die Bachs Violinsonaten aufgenommen haben, war es unser oberstes Ziel, jedem Satz wieder ein Gefühl von Farbe und Atmosphäre einzuflößen, und hoffentlich auch einen sofort erkennbaren Affekt. Die Musik von Biber ist so extrem virtuos und extrovertiert, dass sie Musikerinnen und Musikern wirklich neue Ideen liefert für die historische Palette der Ausdrücke in Bachs Musik. Auf eine Art befreit es einen, Musik aus dem 17. Jahrhundert vor und um Bach herum zu spielen.

Du hast dich jetzt ein paar Mal auf den historischen Kontext berufen. Wissen wir, wie Bach selbst Programme mit seiner Musik gestaltet hat? Hätte er alle seine Violinsonaten in einem Konzert gespielt?

Wir haben ziemlich wenige Indizien, die darauf hindeuten, dass Bach wollte, dass alle Sonaten auf einmal aufgeführt werden. Tatsächlich ist sogar eher das Gegenteil der Fall. Programme aus dem Zimmermannschen Kaffeehaus in Leipzig zeigen, dass es damals eine große Vielfalt an Genres und Programmen gab, sogar hinsichtlich der Frage: ›Wer spielt welches Instrument?‹ war man flexibel. Wir wissen zum Beispiel, das einer der Bach-Söhne dort war, aber wir wissen nicht, ob er Geige, Cembalo oder sogar beides gespielt hat. Hat Vater Bach Geige gespielt und einer der Söhne Cembalo oder anders herum? Welche Stimmung haben sie benutzt? Quälende Fragen.

Aber von einem weniger historischen Standpunkt aus müssen wir Musikerinnen und Musiker einen sehr viel praktischeren Ansatz entwickeln beim Programmieren von Bachs Instrumentalmusik. Ich persönlich würde nicht gern in einer Aufführung aller sechs Violinsonaten sitzen – das ist zu viel des Guten.

Warum ist die Geschichte oft die entscheidende Größe beim Programmieren und nicht zum Beispiel der Grad der emotionalen Wirkung? Wenn Bach so universell ist, kann seine Musik dann nicht auch genauso gut in Kombination erklingen mit Musik zum Beispiel von Schönberg?

Absolut. Weil ich selbst mit historischen Instrumenten arbeite, bin ich nicht wirklich in der Position, Schönberg, Webern oder irgendeine andere Komponistin oder einen anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts in meine Programme zu integrieren. Aber es gibt andere Musikerinnen und Musiker, die Bach aus einer thematischen Herangehensweise heraus in einen anderen musikalischen Zusammenhang gebracht haben und das mit großem Erfolg. Die bahnbrechende Arbeit des Ensemble Signal, Bach neben Steve Reich, Michael Gordon und Helmut Lachenmann zu programmieren, hat einen fantastischen Einblick gegeben in die Art, wie Bach immer noch Einfluss hat auf die Art zu komponieren. In diesem Licht klang Bach sehr modern, weil Reich nicht wie Bach klingt, sondern anders herum. Die Empfindung ist auf eine Art sehr zirkulär. Die Befreiung von der Entstehungszeit als entscheidender Faktor beim Programmieren zeigt eine andere Seite der Hörerfahrung mit Bachs Musik.

Gibt es noch andere Alternativen beim Programmieren?

Sicher. Am Ende des Tages sollte das Programmieren ganzheitlich und vielseitig sein und auch die Art wiederspiegeln, wie über Musik gedacht wird, nicht nur, wie sie gespielt wird – egal ob von einem emotionalen, intellektuellen oder pädagogischen Standpunkt aus. Einer der großen Vorteile der Cembalo-Ausbildung ist die Notwendigkeit, durchgängig mit Generalbass zu arbeiten und deine Ohren zu benutzen, um eine Begleitung aus dem Nichts entstehen zu lassen. Zu lernen zu improvisieren, aus dem Stegreif zu spielen und zu begleiten – ziemlich genau die Sachen, die Bach und Mozart auch am Cembalo lernen mussten – das öffnet die Ohren und Augen dafür, dass Noten nicht komplett festgelegt sind, sondern etwas sind, mit dem du interagieren kannst.

Für mich war das nicht nur lehrreich, es war maßgeblich: Continuo in einer Lully-Oper zu spielen, ändert deine Sicht auf Marchand oder D’Anglebert für immer; Wenn du Fortepiano bei den Rezitativen in Mozarts Figaro spielst, kriegst du einen ganz anderen Zugang zur Musik für Tasteninstrumente solo.

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Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate in F-Dur, KV. 280; Kristian Bezuidenhout (Fortepiano)

Als ich das erste Mal mit Bachs Vokalmusik gearbeitet und eine ganze Matthäus-Passion von meinem Instrument aus geleitet habe, verstand ich, was es für drei Stunden Musik bedeutet, wenn du einen kohärenten Aufbau von Anfang bis Ende hast, und was es mit den Details in der Mitte macht, wenn sie alle eine übergreifende Geschichte tragen. Im Gegensatz zu den Trends in der Instrumentalmusik gibt es bei Bachs Vokalmusik eine viel offenere Bandbreite an Zugängen und Ausdrucksformen. Mit Sängerinnen und Sängern zu arbeiten, hat mir wirklich die Augen geöffnet für das Potential, das wir beim Interpretieren ausschöpfen können. Ich habe unterschätzt, was für starke Auswirkungen so ein Projekt auf mich haben würde. So eine Einheitlichkeit kannst du mit einem Instrumental-Programm der kompletten XY-Werke von Bach nicht nachahmen. Ich meine, wir können tonale und strukturelle Gemeinsamkeiten und Verbindungen in in einem Zyklus wie den Sonaten für Violine und Cembalo finden – ich bestreite überhaupt nicht, dass es die gibt – aber nichts kommt an die sehr bedachte, ausgewählte Dramaturgie und Erzählweise von etwas wie der Matthäus-Passion heran.

Leidet Bachs Musik, wenn seine kompletten Werke auf ein Programm gesetzt werden?

Überhaupt nicht. Es besteht nur die Gefahr, dass wir weder Bach noch seiner Musik einen Gefallen tun, wenn wir nicht erfinderischer werden in Bezug auf die Art, wie wir sie aufführen. Natürlich kann Bachs Musik auch einen Abend lang für sich allein stehen, aber das begrenzt vielleicht, was wir dabei mitnehmen. Es gibt so viele Seiten seiner Musik. Warum sollten wir uns selbst darin einschränken sie zu zeigen? ¶