Oboist Titus Underwood im Interview.

Text · Titelbild © YNOT IMAGES · Datum 4.11.2020

Titus Underwood ist seit Februar der erste Schwarze Solooboist mit einer Festanstellung in einem US-amerikanischen Orchester (der Nashville Symphony in Tennessee). Aufgewachsen ist der Musiker in Pensacola, Florida, er besuchte das Cleveland Institute of Music, die Juilliard und die Colburn School, wo er bei Oboen-Legenden wie John Mack und Elaine Douvas studierte.Dieses Jahr wurde Underwood die »Sphinx Medal of Excellence« verliehen, eine Auszeichnung, mit der die Sphinx Organization in den USA außergewöhnliche Schwarze Musiker:innen und solche mit lateinamerikanischem Hintergrund ehrt. In der New York Times forderte er jüngst zusammen mit Kolleg:innen der Phoenix Symphony und der Metropolitan Opera eine Reform des Probespielverfahrens. Mit VAN hat Underwood über seinen ganz persönlichen Karriereweg und seine Zukunftsvisionen für die US-amerikanische Orchesterlandschaft gesprochen.

Titus Underwood • FOTO © YNOT IMAGES 
Titus Underwood • FOTO © YNOT IMAGES 

VAN: Hat sich Deine Wahrnehmung Deines Berufs verändert, seit Du eine feste Vollzeitstelle als Solooboist innehast?

Titus Underwood: Bevor ich diese Stelle bekommen habe, habe ich zehn Jahre lang Probespiele gemacht und bin auch 15 oder 16 Mal in die letzte Runde gekommen. Ich habe viel als Aushilfe gespielt, als Solooboist, zweite Oboe, was auch immer. Dabei hat sich meine Wahrnehmung vom Orchesterspiel drastisch verändert – also noch bevor ich überhaupt eine feste Stelle bekommen habe. Auch in Nashville habe ich viel gelernt und lerne auch seit meiner Festanstellung weiter, aber den wirklich weiten, unverstellten Blick auf das Business habe ich schon vorher, in den ganzen verschiedenen Orchestern, bekommen.

In einem Interview meintest Du neulich, als 1,90 Meter großer Schwarzer Mann nicht dem Stereotyp des Oboisten zu entsprechen. Gleichzeitig ist Deine musikalische Ausbildung – am Cleveland Institute of Music, an der Juilliard und der Colburn School – durchaus klassisch für einen Solooboisten in einem US-amerikanischen Orchester. Hast Du Dich in den letzten Jahren eher als Insider oder als Outsider gefühlt?  

Ich denke nicht wirklich in den Kategorien ›in‹ und ›out‹. Ich mache einfach mein Ding. Am Anfang meines Studiums hatte ich lange Dreadlocks, trug Klamotten von Rocawear, Ecko, Sean John… Wie man das halt macht, dort, wo ich herkomme. Und gleichzeitig spielte ich Oboe. Für manche ist das völlig verwirrend, sie wissen überhaupt nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollen.

Außerdem muss man bedenken, dass ich damals zum ersten Mal in einer mehrheitlich weißen Umgebung lebte, es also einige kulturelle Unterschiede gab. Es gab Leute, die es total aufgeregt hat, dass ich die Beatles nicht so gut kannte. Damit bin ich halt nicht aufgewachsen. Jetzt mag ich die Beatles, aber damals gab es viele solcher Momente, die mir gezeigt haben, dass ich in einem ganz anderen Amerika großgeworden bin. Aber je länger ich mich in diesem Umfeld bewegt habe, umso mehr habe ich gedacht: ›Whatever.‹ Und unter Freund:innen ist man einfach Freund oder Freundin, egal wo man herkommt.

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Wie bist Du mit diesem Gefühl, aus einem anderen Amerika zu kommen, umgegangen?

Je besser ich künstlerisch wurde, desto mehr wurde dieses Anders-Sein zu meiner Superpower. Und es ist wirklich eine Superpower. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch jede:r ohne eine solche Biografie irgendeine Art von Superpower hat – die haben ja alle. Aber ich weiß, dass dieses Wissen, wer ich bin – aufgewachsen in Pensacola, als jüngstes von sechs Geschwistern, als Mitglied einer schwarzen, freikirchlichen Gemeinde, jemand, der Hip-Hop hört und mit den Brüdern eine Rap-Crew gründet, Poetry-Slammer ist und Teil eines Step Teams –, dass dieser ganze Kultur-Gumbo aus dem Süden der USA jetzt die Art, wie ich Oboe spiele, beeinflusst. Wie ich mich bewege, wie ich Musik interpretiere, wie ich denke. Ich habe gemerkt, wie unglaublich wertvoll das ist, und ich bin stolz darauf. Das hat mich selbstbewusst gemacht, schon als ich angefangen habe, immer größere Parts in Orchestern zu spielen. Ich wusste: Das bin ich und dort komme ich her. Und das zu verstehen, hilft mir sehr bei dem, was ich jetzt tue.

Aktuell wird in der Klassikwelt viel über Reformen diskutiert. Wo würdest Du ansetzen?

Ich glaube, vieles läuft schon an den Hochschulen schief. Viele von uns Orchestermusiker:innen durchlaufen die gleichen Ausbildungswege, es gibt keine großen Unterschiede was die Mentalität angeht, weil die Ausbildung so ähnlich ist.

Dabei sind die USA riesig. Und jede Stadt hat ihre eigene Kultur, zum Teil sind die Unterschiede da wirklich drastisch. Baltimore und Salt Lake City sind nicht zu vergleich, oder? Leider kommen bei uns dann Leute zusammen, die alle mit diesem sehr ähnlichen Mindset und auf ähnliche Fähigkeiten hin ausgebildet wurden. Und normalerweise beinhaltet die Ausbildung nicht, dass man lernt, wie man die Menschen in der Stadt, in der man gerade angestellt ist, wirklich erreicht.

Wir üben für das Probespiel, und wenn man dann eine feste Stelle hat, ist man angekommen und muss sich nicht mehr weiterbilden. Wo bleibt für Orchestermusiker:innen der Anreiz, wirklich mit der Zeit zu gehen, einen Wandel anzustoßen, der zur Demographie der jeweiligen Stadt passt? Anstatt uns zu bemühen, eine Verbindung mit den Menschen einzugehen und uns in den Dienst der Communities vor Ort zu stellen, bleiben wir oft stecken in internationalen Orchester-Wettrennen – die Einspielung aus Philadelphia versus die aus Berlin.

Diesen Wettbewerb muss es natürlich auch geben, aber diese Mentalität, die auch das Probespiel dominiert, prägt unsere eigenen Maßstäbe an uns selbst sehr. Ich würde es lieber sehen, wenn Orchester sich stattdessen fragen: ›Was ist das kulturell Besondere unserer Region und wie können wir das an andere Orte tragen?‹ Warum beschäftigen wir uns nicht alle paar Jahre mal damit, wie wir bessere Bildungsprojekte machen können, wie man mit dem Publikum oder Geldgebern spricht, wie man kulturell auf der Höhe der Zeit bleibt? Aktuell lernt man eigentlich nur die Geschichte westlicher klassischer Musik, Vom-Blatt-Spielen und Probespielstücke, dann gewinnt man irgendwann eine Stelle und das war’s. Wir müssen lernen, wie wir die Fähigkeiten der Menschen, die in unseren Orchestern arbeiten, wirklich ausbauen.

Wen siehst Du in der Verantwortung bei der Umsetzung eines solchen Wandels?

Ich denke, die Verantwortung liegt bei den Musiker:innen. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Orchesterleitungen gibt, die Fehler machen, dass es keine Fehler im System gibt. Die gibt es. Aber am Ende sind es die Musiker:innen, die neue Mitglieder auswählen, die mit dem Management Verträge aushandeln und damit vorgeben, auf welche Aspekte die jeweilige Institution einen Schwerpunkt legt. Oft wird es so dargestellt, als kämpften die Musiker:innen gegen ein böses Imperium. Es gibt aber keine bösen Imperien. Es gibt auf beiden Seiten gute und schlechte Menschen, klar. Aber ich glaube, dass die Musiker:innen bei diesen Veränderungen selbst die Führung übernehmen müssen.

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Und worauf sollten die Musiker:innen hinarbeiten?

Probespiele hinterm Vorhang. Das machen aktuell nur vielleicht zwei oder drei Orchester wirklich konsequent. Ich vergleiche das bei US-amerikanischen Orchestern immer mit Kindern, denen man sagt, sie sollen nicht hingucken. Die halten sich die Augen zu und schielen dann zwischen den Fingern durch.

Ich will Vorhänge sehen, auch in den Endrunden. Keine Probewochen und kein Austausch unter den Mitgliedern der Jury. Wenn man dort diskutiert, wird das Urteil der einzelnen Jury-Mitglieder untergraben.

Manche sagen aber auch, dass die Probewoche wichtig ist, weil manche Musiker:innen im Probespiel großartig sind, aber nicht gut mit dem Orchester zusammenspielen.

Deswegen durchläuft man ja nach dem Probespiel und vor der Festanstellung noch einen gewissen Prozess. Man braucht Zeit, um sich im Orchester einzufinden. Außerdem spielen die Bewerber:innen in den Probewochen immer völlig unterschiedliches Repertoire. Das ist nicht fair. Ich habe noch nie eine gute Begründung für Probewochen gehört.  

Ich denke, der gesamte Rahmen muss sich ändern. Und wenn manche nicht mitziehen wollen, würde ich sagen, dass die Staaten das einfach vorschreiben sollen. Sowas muss föderalistisch geregelt werden. Oder findest Du nicht, dass der Einstellungsprozess überall derselbe oder zumindest fair sein sollte?

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Denkst Du, dass die Orchester oder auch die gesamte Klassikwelt sich in dem Maße verändern können?

Alles kann sich ändern. Man muss die Veränderung nur wollen – und fähiges Personal haben. Ich glaube, viele verlieren schnell die Motivation, weil es einfach so viel zu tun gibt, aber da muss man sich nur mal vor Augen führen, wie viel Aufwand es war, die Regeln, nach denen wir heute arbeiten, zu etablieren. Lange Zeit wollte man nur Musiker im Orchester haben oder nur Musik von Komponisten spielen. Frauen können natürlich genauso gut komponieren, aber man hat sie absichtlich ausgeschlossen.

Wenn man Grout liest oder Norton oder Shanker, diese Theoretiker und Historiker, mit denen wir uns alle auseinandersetzen mussten – sprechen die jemals vom transatlantischen Sklavenhandel? Oder vom Kolonialismus? Mein Instrument besteht aus Grenadill-Holz, das aus Afrika kommt. Glaubst du, die Menschen aus diesen afrikanischen Ländern haben einfach gesagt: ›Oh, du willst Oboe spielen? Ja, hier ist ganz viel Holz, nimm nur!‹

Man kann nicht über Schostakowitsch sprechen, ohne Stalin zu erwähnen. Man kann Beethoven nicht ohne Napoleon verstehen. Wie kann ich dann das gesamte Ausbildungssystem der klassischen Musik durchlaufen, ohne je von solchen Dingen gehört zu haben? Manche sagen, das System sei kaputt. Aber das System wurde genau so entworfen, es macht exakt das, was es soll.

Aber es funktioniert eben nur auf dem Rücken anderer und viele haben das Gefühl, dass sich das ändern muss. Es ist viel Arbeit, aber wir müssen anfangen, neue Perspektiven einzubringen. Wenn man will, dass sich die Kultur in einem Orchester ändert, braucht man auch Menschen, die sie ändern können.

Darum denke ich, dass wir im Anstellungs-Prozess mehr berücksichtigen sollten als das reine Instrumentalspiel. Wenn jemand großartig spielt und sich außerdem gut ausdrücken kann und eine neue Perspektive mit einbringt, dann bringt diese Person auch wichtiges kulturelles Wissen mit und das sollten wir wertschätzen. Solche Leute sollen auf die Bühne und nicht nur für Panels eingeladen werden oder als Teil des Musikvermittlungs-Teams angestellt oder sowas. Nur so können wir einen langfristigen Wandel anstoßen.¶  

Der Oboist Titus Underwood über seine Zukunftsvision für Orchester in @vanmusik.