Mehr Geschichten, weniger Wohlfühl-Beethoven. Dirigent Baldur Brönnimann plädiert für eine Klassikwelt mit Gegenwartsbezug.

Soziale Netzwerke kennen uns besser als wir uns selbst. Intelligente Schach-Algorithmen übertreffen nach kurzem Training alle Großmeister*innen. Genom-Editierungsverfahren erlauben Eingriffe ins menschliche Erbgut. Das digitale Maschinenzeitalter stellt unser Menschenbild zunehmend infrage. Unter dem Titel HUMAN__MACHINE spürt die cresc… Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main 2020 an zwei Wochenenden der Faszination nach, die das Verhältnis von Mensch und Technologie auf eine Vielfalt von Spielarten aktueller Musik ausübt. Zeitgenössische Musik trifft auf Heavy Metal, Noise, Turntablism und Live-Elektronik. Wir stellen im Themenspecial HUMAN_MACHINE drei Komponisten und einen Dirigenten vor, deren Musik bei der diesjährigen cresc… Biennale zu hören sein wird.
Als ich neulich einige Vorschläge für eine große Abo-Konzertreihe machte, erhielt ich folgende Antwort: »Vielen Dank für Ihre Ideen. Aber unsere Welt endet bei Prokofiev. Danach verlieren wir ein Drittel unseres Publikums. Wie wäre es denn mit Beethoven?«»Unsere Welt endet bei Prokofiev.« Wow. Das bedeutet: noch vor der Erfindung des Toasters oder der Waschmaschine. Was mir aber wirklich zu denken gab, war, dass sie stattdessen Beethoven aufs Programm setzen wollten. Was ist da seit den 1820ern passiert, dass Beethoven zur unbedenklichen, sicheren Wahl, zum Wohlfühlkomponisten geworden ist, der es dem Publikum erspart, im Konzert die Musik der letzten 70 Jahre auszusitzen?Ich wollte das eigentlich so nicht stehen lassen, aber wie so oft mussten Entscheidungen getroffen, Konzerte gebucht und Programme gedruckt werden. Deswegen schrieb ich nicht zurück. Ich konnte allerdings nicht aufhören, über diese Sache nachzudenken. Schon öfter habe ich ähnliche Abfuhren für neuere Musik bekommen, aber nie in dieser Deutlichkeit, die mich – und das ist das Gute daran – dazu brachte, mich hinzusetzen und über Fragen nachzudenken, die mir schon lange im Hinterkopf herumschwirrten. Mittlerweile weiß ich deswegen auch, was ich gerne geantwortet hätte:
Liebe Freunde,
vielen Dank für den Vorschlag, im Rahmen Ihrer Konzertreihe Beethoven zu spielen. Immerhin hat ja seine Musik einen großen Teil dazu beigetragen, dass das klassische Konzertleben heute so ist, wie es ist, mit Konzertreihen wie der Ihrigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihm die Rolle, die Sie ihm zuschreiben, gefallen würde.
Beethovens Einfluss war so groß, weil er sich intensiv mit seiner Zeit und dem herrschenden Zeitgeist auseinandersetzte. Seine Musik bot eine Projektionsfläche für die zentralen Fragen und Wünsche der neuen aufstrebenden Klassen. Die wichtigsten Philosophen, Schriftstellerinnen und Journalisten der Zeit diskutierten und verbreiteten seine Musik. Sie stand im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie Grundlegendes über ihre Zeit mitzuteilen hatte.

Um 1820 wurde in Konzerten fast ausschließlich damals brandneue Musik oder vielleicht noch solche der vergangenen Jahrzehnte gespielt. Konzertsäle waren Orte des Neuen, Unerwarteten und Aufführungen mit Orchester noch recht selten. In der Folge haben sich klassische Konzerte sehr verändert. Um das zu erleben, muss man sich nur die seitdem gebauten Konzertsäle anschauen: Keine separaten Eingänge oder Sitzreihen mehr für die Angehörigen verschiedener Klassen, ein demokratischer Zugang zum Live-Erlebnis, um nur einen Aspekt zu nennen. Aber wenn es um die Musik geht, scheinen viele aus dem Mainstream-Klassikbereich in einem merkwürdigen Zustand der Denkmalpflege steckengeblieben zu sein, wo dieselben Rituale und Regeln gepflegt werden wie im 19. Jahrhundert, aber ohne die Relevanz und die Unmittelbarkeit, die der Musik damals innewohnten.

Für mich endet nur Prokofievs Welt mit Prokofiev. Unsere dreht sich zum Glück weiter und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ein Publikum Beethoven, Prokofiev oder irgendeinen anderen älteren Komponisten wirklich verstehen soll, wenn es nie die Schlagkraft und Rohheit eines aktuellen Stückes erlebt hat. Risikofreies Programmieren bringt nicht nur das Publikum um die Begegnung mit Musik ohne Netz und doppelten Boden, es nimmt auch den »Klassikern« die Ebene, dass sie ein Publikum mal umgehauen haben. Ich habe das Gefühl, dass wir dem Publikum häufig sterile, keimfreie Versionen älterer Musik in einer ebenso keimfreien Umgebung vorsetzen, und das ist genau das Gegenteil dessen, was Beethoven und auch andere im Sinn hatten.
Was uns heute im Vergleich zu Beethovens Lebzeiten fehlt, ist die direkte Verbindung zur Musik. Das Band zwischen den »großen Werken« und dem Publikum ist zerbrochen. Es steht nicht in meiner Macht, diese Verbindung wieder zu kitten, aber wenn man mich fragt, sollte zeitgenössische Musik dabei eine Rolle spielen.

Zeitgenössische Musik kann heute, was Beethovens Musik einst konnte – überraschen, überwältigen, irritieren, verunsichern, gefallen, beeindrucken, abschrecken. Aber vor allem ruft sie Reaktionen hervor. Wir brauchen diesen Dialog, die direkte Verbindung, wenn wir ältere Musik wieder relevant und wirklich zu unserer Musik machen wollen.
Kunstmuseen bemühen sich viel stärker um diese Verbindung als die Klassikwelt. Sie stehen vor der Herausforderung, ihre Sammlungen immer neu zu präsentieren, um das Publikum immer wieder neu einzubinden. Kuratorinnen und Kuratoren machen einen großartigen Job, indem sie Erzählungen, Zusammenhänge und Strategien entwickeln, um zwischen Publikum und Kunst, insbesondere der zeitgenössischen, Verbindungen herzustellen. Daraus resultiert der Eindruck, dass Bildende Kunst uns heute etwas zu sagen hat, sei es über unseren Lifestyle, die Politik, über Körper und Körpernormen, Genderfragen, Rassismus oder andere Themen.

Die Klassikwelt braucht dringend eben solche Kuratorinnen und Kuratoren, und wie zu Beethovens Zeiten solche, die die Musik analysieren und ihren Gehalt vermitteln können. Sie braucht Menschen, die über sie schreiben und diskutieren.
Der große Erfolg der »El Sistema«-Bewegung und des Simon Bolivar Youth Orchestra sind Beispiele für Erzählungen, die die Menschen abholen und einbinden. Genauso der große Erfolg der Musik Schostakowitschs in den letzten Jahren, der undenkbar wäre ohne den inneren Widerstand gegen das Regime, dessen Erzählung diese Musik zugänglich macht. Oder die Wirkung von Opern wie John Adams’ The Death of Klinghoffer mit den damit verbundenen politischen und ästhetischen Diskussionen. Musik braucht Geschichten, sie braucht Aktualität und sie muss die Menschen dazu bringen, Stellung zu beziehen.
Vom Repertoire einmal ganz abgesehen stellt sich auch die Frage, wie wir Musik hören. Die Verbannung des Risikos aus der Konzerthalle geht für gewöhnlich mit Benimmregeln fürs Publikum einher. Auch hier wird – verglichen mit Beethovens Zeit – eine Tradition erfunden, die niemals existierte, nach der alle komplett still sitzen und lauschen und nur zu ganz genau festgelegten Zeitpunkten applaudieren dürfen. Und wer die Regeln nicht kennt, bleibt außen vor.

Stille wird oft als Waffe benutzt, um Uneingeweihte zum Schweigen zu bringen. Manchmal sind es sogar wir Musiker, die das Publikum tadeln, weil wir in der gleichen, nie hinterfragten Tradition der Zurückhaltung und Anpassung aufgewachsen sind. Aber Beethovens Musik spricht uns vor allem als Individuen an – sollten wir uns dann nicht auch als solche benehmen und vielleicht auch mal an der falschen Stelle klatschen dürfen? Im 21. Jahrhundert sollte das wundervolle Ritual des Konzertgangs nicht dem Leben in einer spießigen Vorstadt mit sorgsam gepflegten Ruhe-Zäunchen gleichen, in der über jedes Geräusch mit dem Nachbarn gestritten wird.
Ich schreibe das alles, weil es mit dem zu tun hat, was Sie mit »unsere Welt endet bei Prokofiev« beschrieben haben. Ich respektiere, dass einige Leute hören wollen, was sie kennen und schätzen, in einer Art und Weise, die sie kennen und schätzen, und trotzdem denke ich, dass Sie und ich uns dem, was für uns den Kern der Musik ausmacht, gegenüber verpflichtet fühlen: der Utopie, die jedes klassische Meisterwerk schafft. Und wir werden ihr nicht gerecht, wenn wir die letzten 70 Jahre aus unserer Musikgeschichte streichen und die großen Werke in ein künstliches Koma versetzen, das so tut, als gäbe es keine Gegenwart oder Zukunft. Wenn wir die Aufgabe, zwischen Musik und Publikum eine wirkliche Verbindung zu schaffen, ernst nehmen, müssen wir die Werke unserer Zeit spielen. ¶