Gegen den Kompromiss
bis zur letzten Sekunde

Ein Treffen mit Simone Young


Interview Julian Tompkin · Übersetzung Tobias Ruderer · Fotos Klaus Lefebvre

Simone Young lässt im nächsten Jahr ihre 10-jährige Erfolgsgeschichte als Intendantin an der Hamburgischen Staatsoper und Hamburger Generalmusikdirektorin auslaufen. Unser Autor Julian Tompkin, australischer Landsmann, hat sie getroffen und dabei nicht nur über das Wetter gesprochen. Man ahnt es: Wer sich gegen Chauvinismus und Dummheit durchsetzt, ist immun gegen allzu einfache Anbiederung an das vermeintliche Publikum.

Der Himmel ist blau in der prächtigen Stadt. Wir sind in der Hamburgischen Staatsoper. »Ich hab’ extra für dich gutes australisches Wetter bestellt.« Schon bricht Simone Young in Lachen aus. »Man könnte meinen, nach der ganzen Zeit habe ich mich ans Wetter gewöhnt. Aber das geht einfach nicht. Ich bin aus Sydney!« Young spricht nur scheinbar übers Wetter – ihre Bemerkung gibt auch einen ersten Einblick in eine hart umkämpfte, hart erkämpfte Karriere. Sie war 26, als sie als schwangere Frau nach Deutschland kam, für eine Assistenz beim Amerikaner James Conlon an der Kölner Oper. »Sagen wir: Ich hatte nicht so gute Karten«, meint sie trocken.

Die Bigotterie und der Frauenhass, auf die sie während ihrer Ausbildung traf, sind gut dokumentiert – von der Renitenz halsstarriger Orchestermitglieder in Bayreuth bis zu kindischem Hohn in Italien, wo man sie fragte, ob eine Dirigentin einen speziellen Stab brauche. Sie bezeichnet diese chauvinistischen Stolpersteine süffisant als »ziemlich korpulent«; tatsächlich waren sie in Person noch dicker als sie selbst im Neunten Monat. Doch sie ist überzeugt davon, dass sie durch sie nur noch widerstandsfähiger und entschlossener wurde. Scheinbar unbezwingbare Hindernisse waren ihr sowieso nicht fremd. Trotz der Frustrationen also eine intensive, fruchtbare Zeit der Ausbildung; in Bayreuth, der Berliner und der Wiener Staatsoper.


VAN: Ihre Karriere begann in den 1980ern in Australien. Es gibt dort ziemlich viele Talente, gleichzeitig ist Australien kein bedeutender Markt für klassische Musik; es ist bestimmt frustrierend, wenn die beruflichen Horizonte so eng sind. Wie haben Sie es geschafft, diese institutionellen und geographischen Hindernisse zu überwinden?

Simone Young: Glück, harte Arbeit, was sonst? Ein paar tolle Mentoren. Die wichtigste Frage ist doch, wo du deine künstlerische Seele findest. Klar, meine Persönlichkeit ist immer noch durch und durch Australierin; ich steige aus dem Flugzeug und laufe durch Sydney mit einem breiten Grinsen – einfach glücklich, zuhause zu sein. Das Licht, die Farben und die Wärme. Aber auch darüber hinaus, ich mag den Humor, diese entspannte, geerdete Lebensweise. Die Leichtigkeit und das Egalitäre, Liberale.

Doch meine musikalische Seele ist irgendwo in Deutschland verwurzelt. Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist, aber irgendwie ist es so. Deshalb bin ich hier.

Findest du es nicht ein unbefriedigendes Schicksal für australische Musiker? Wenn sie der Ehrgeiz packt, haben sie keine andere Wahl als ihr Heimatland zu verlassen.

Warum sollte man nicht losziehen und Zeit in den Städten verbringen, die alle möglichen Leute von Mozart bis Alban Berg inspiriert haben? Warum sollte man nicht durch die Pariser Gärten wandeln und großen Dichtern und Malern auf den Spuren sein? Ich glaube, allein einer weiteren Weltsicht und unserer eigenen Bildung zuliebe müssen wir Australien verlassen. Angefangen damit, dass die Einwohnerzahlen einfach nicht da sind, um dort eine große Klassikbranche zu unterstützen; generell ist klassische Musik in der angelsächsischen Kultur nicht so tief verwurzelt wie hier. Kanada, die USA, Großbritannien, Australien und Neuseeland – sind alle finanziell am Kämpfen. Sie fragen alle: ›Wie oft kann ich die Top 10 der Opern bringen, bis sie jeder fünfmal gesehen hat und kein weiteres Mal hin will?‹


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2005 wurde Young zur Leiterin der 335 Jahre alten Hamburger Staatsoper ernannt, an der sie 1996 das erste Mal dirigiert hatte. 2015 wird sie dort ihre letzte Spielzeit vollenden. Ihre Ära wird bejubelt, Young erweiterte stark das Repertoire – auch um viele neuere Werke, wie Aribert Reimanns Oper Lear von 1978 – und baute ein formidables Ensemble und Opernstudio auf. Sie gewann den »International Opera Award« in London für eine Trilogie von Verdi-Opern (»Verdi im Visier«) im Jubiläumsjahr, La battaglia di Legnano, I due Foscari und I Lombardi alla Prima Crociata.

»Ich kann Das Rheingold komplett aus den eigenen Reihen besetzen, Wotan wäre die einzige Ausnahme«. Sie haut jetzt auf die Pauke, eigentlich nicht ihre Art. Denn beruflich widersteht sie auf eine stoische Art dem Trend vieler Opernhäuser, die – geplagt von schwindenden Zuschauerzahlen, verzweifelt auf der Suche nach Publikum – allzu weit im Spektakel und den populären Musicals fischen.

»Jeder macht es», seufzt sie, »aber mein Problem damit ist, dass ein solches Publikum nicht dasjenige ist, das sich auch eine Oper von Benjamin Britten anschaut. Und in dem Moment bedient so eine Institution zwei ganz verschiedene Ausschnitte der Öffentlichkeit, und du fragst dich plötzlich: ›In welchen Ausschnitt investiere ich eigentlich im Hinblick auf die Zukunft‹?


»Ich bin jetzt am Ende meiner neunten Spielzeit glaub mir, ich zähle die Tage, bis ich diesen dünnen roten Stift weglegen und vom Schreibtisch aufstehen kann.«


»Oder die BBC und ihre ›Doctor Who concerts‹ (Doctor Who ist eine beliebte britische Science-Fiction-Fernsehsendung, die bereits drei Mal bei den BBC Proms sinfonisch inszeniert wurde, d. Red); 90 Prozent der Leute kommen, weil es um Doctor Who geht, nicht weil sie zu einem Sinfoniekonzert wollen. Und wenn sie sich das Doctor Who-Konzert anhören, sind sie nicht zwei Wochen später bei Tschaikowskis 5. Sinfonie. Wir in Hamburg sind diese Saison ungefähr bei 90 Prozent Auslastung. Das gab es bei einem deutschen Repertoire-Ensemble einfach noch nie. Und dafür mussten wir keine Doctor Who-Konzerte oder irgendwelche Musicals machen.«

Young wird nach England zurückkehren, da leben ihre beiden Töchter; in Sussex ist der Familiensitz. Geplant sind schon weitere Dirigenten-Engagements mit der Staatsoper in München und Konzerte in Frankreich, den USA und Australien. Parallel will sie ihre Hauptaufmerksamkeit vor allem darauf verwenden, einen Fuß in die Tür des zügig expandierenden asiatischen Marktes zu setzen und »in Australien an meinem Sonnen-Teint arbeiten«.


VAN: Du verlässt die Staatsoper mit einer gesunden finanziellen Bilanz, obwohl es im Vorfeld der Kündigung deines Vertrag als Musikdirektorin bei der Opera Australia (die Oper in Sydney) im Jahr 2003 Misstöne in Sachen Budget gab. Wie bist du an die meistens ziemlich zwiegespaltenen Funktionen als Intendantin und Generalmusikdirektorin herangegangen: Wie hast du künstlerische Vorstellungen und wirtschaftliche Realitäten miteinander verbunden?

Simone Young: Die beiden werden auf ewig miteinander ringen. Als Manager ringt man permanent für einen Kompromiss; das ist die Ausgangslage. Ich bin eher für klare Kante; und wenn ich unangenehme Entscheidungen aus finanziellen Gründen treffen muss, dann will ich die Finanzen auch wirklich verstehen und abklopfen, wo ich vielleicht etwas beeinflussen kann. Und das gilt auch dann, wenn ich mit dem Haus ein Abenteuer beginne – so wie bei Verdi, da hat sich das Abenteuer gelohnt. Unsere Wagner-Geburtstags-Reihe im letzten Jahr war ein gewaltiges Risiko, die Britten-Opern auch, aber all diese Sachen haben sich auf unterschiedliche Weise ausgezahlt.

Lear hat sich für den Kartenverkauf nicht gelohnt, weil es für zeitgenössische Opern einfach kein ähnliches Publikum gibt, wie für La Traviata, Rigoletto oder Carmen. Aber man verdient sich internationalen Respekt; den spürt man jetzt auch.

Es gab einen Zeitpunkt, 2008, da hatten wir fünf Produktionen in Planung und die Finanzkrise brach los. Wir hatten echte Probleme; ich musste die schwere Entscheidung treffen, eine der Produktionen zu streichen, das war der einzige Weg, irgendwie auf unser Budget zu kommen. Es ist irgendwie stimmig, wenn ein und dieselbe Person sowohl für die Produktionen als auch die Streichungen einsteht. Klar ist das eine schwierige Rolle, und man kann den Job nur für eine begrenzte Zeit machen. Ich bin jetzt am Ende meiner neunten Spielzeit – glaub mir, ich zähle die Tage, bis ich diesen dünnen roten Stift weglegen und vom Schreibtisch aufstehen kann.

Du siehst nicht aus wie jemand, der schnell Kompromisse eingeht …

Ich habe mir kürzlich Borgen, die dänische Fernsehserie angeschaut, und da kam dieser Punkt kristallklar rüber. Die Chefin einer eigentlich kleinen Partei wird durch eine Koalitionsbildung plötzlich Premierministerin. Und als man ihr vorwirft, sie hätte ihre Prinzipien verraten bei einer politischen Entscheidung, die eine absolute Mehrheit erforderte, da sagt sie: ›Als Parteichefin konnte ich idealistisch sein, jetzt bin ich aber Premierministerin für alle Dänen, auch für die, deren Meinung ich nicht teile.‹ Ich dachte, oh Mann, genau das ist es, diese zwei Rollen! Auf der einen Seite bist du verantwortlich für die Angestellten, und das ist ziemlich schwierig mit künstlerischer Leidenschaft und Kompromisslosigkeit zu vereinen, aber die brauche ich auf der anderen Seite als Künstlerin. Ein Künstler, der Kompromisse macht, ist nicht aufrichtig – klar, manchmal muss man auf finanzielle und zeitliche Einschränkungen Rücksicht nehmen, aber ich glaube, es liegt in der eigenen künstlerischen Verantwortung, gegen diesen Kompromiss bis zur letzten Sekunde zu kämpfen.


Am Ende klingelt Youngs Telefon. Es ist ihre jüngste Tochter, Lucy, die in England gerade die Schlussexamen hinter sich gebracht hat. Nach dem Gespräch sagt sie: »Hamburg hat uns ein Familienleben ermöglicht, so gut das in dieser Branche eben geht.« Sie ist jetzt ein bisschen sentimental. »Meine Kinder sind hier aufgewachsen. Ich irgendwie auch. Aber jetzt ist es Zeit für das nächste Abenteuer. Die Welt ist mein Spielplatz.«