Choreografen sind spezielle Leute. So findet für sie der Schaffensprozess eines neues Werkes, dieser geheimnisvolle und mysteriöse Vorgang, vollständig unter den Augen einer kleinen Öffentlichkeit statt. Maler malen in der Abgeschiedenheit ihres Ateliers oder doch einsam vor ihrer Staffelei, wo immer sie steht. Schriftsteller schreiben, nachdem sie ihre Kinder, ihre Geliebten, ihre Studenten, Verwandten, Freunde und Leser fortgeschickt haben. Komponisten komponieren, wie George Balanchines Biograph Bernard Taper lustig schreibt, gerade nicht, indem sie vor einem Orchester stehen und jener Bläsergruppe oder dort den Celli ein eben erfundenes Motiv vorsummen. Ein bisschen so ist es aber beim Choreografen. Er sieht sich einer stillen und geduldigen Menge gegenüber, die ihre Blicke auf ihm ruhen lässt, während sie darauf wartet, vom Fleck bewegt zu werden, und zwar auf aufregende Art und Weise. »Extended improvisation under pressure«, ausführliche Improvisation unter Druck, so definierte Taper den Entstehungsvorgang einer neuen Balanchine-Choreografie. Balanchine störte daran gar nichts. Er entwarf ohne Mühe, ohne Scheu, ohne Selbstmitleid, ohne Anlauf, ohne Suche nach Inspirationsquellen. Sagte Tschaikowski, seine Muse komme zu ihm, wenn er sie rufe, so soll Balanchine gesagt haben, sie komme zu den mit den Gewerkschaften ausgehandelten Zeiten.
Sogar die Musen von Choreografen sind eben speziell, gewerkschaftlich organisiert wie die Tänzer, mit denen sie zusammenarbeiten. Balanchine machte damit einen Witz – weniger über die Rechte von Beschäftigten – als vielmehr über sich selbst und seine Fähigkeit, loszulegen, sobald es Zeit war. »Writer’s Block«? Das geht nicht, wenn zweitausend Tickets am Abend verkauft werden müssen, wenn Premieren angekündigt, Verträge unterschrieben sind, wenn Gagen gezahlt werden müssen. »Zuerst kommt der Schweiß, dann – wenn du deine Gebete gesprochen hast, und mit viel Glück – die Schönheit«, daran glaubte der eingebürgerte Amerikaner auch lange, nachdem er zum letzten Mal russisch-orthodoxe Kirchen in seiner Heimat von innen gesehen hatte.
An Balanchine erstaunlich war nicht nur die pure Anzahl seiner Ballette – zwischen 1920 und 1982 schuf er 465 Werke. Er leitete darüber hinaus von 1934 an seine eigene Ballettschule, die »School of American Ballet« und ab 1948 eine bis heute, drei Jahrzehnte nach seinem Tod, existierende Kompanie, das New York City Ballet. Alle seine administrativen Aufgaben, die Tatsache, dass er das Training seines Ensembles meist auch selbst gab, die Tag für Tag zu treffenden künstlerischen Entscheidungen über Musik, Besetzungen, Kostüme, Umstudierungen, Gastspiele, lassen die wahrscheinliche tägliche Zeit zum Choreografieren auf zwei bis vier Stunden schrumpfen.
Doch die Unterschiede zwischen Regisseuren und Choreografen sind evident. Ein Regisseur muss kein virtuoser Schauspieler sein, aber jeder Choreograf muss ein Tänzer gewesen sein.
So ausführlich von den Arbeitsbedingungen eines einzelnen Choreografen, der seit dreißig Jahren tot ist, zu sprechen, hat natürlich einen Grund. Außergewöhnlich ist nicht nur Balanchines Ruhm als bedeutendster klassischer Choreograf des zwanzigsten Jahrhunderts. Denn wenn man seine künstlerische Existenz betrachtet, erkennt man auch, dass Tanz die voraussetzungsreichste Kunst ist, abgesehen vielleicht vom Film. Doch die Unterschiede zwischen Regisseuren und Choreografen sind evident. Ein Regisseur muss kein virtuoser Schauspieler sein, aber jeder Choreograf muss ein Tänzer gewesen sein. Man kann sehr viel von Schauspielerei verstehen, sogar ausführend, ohne je eine Schauspielschule besucht zu haben. Das ist im Tanz undenkbar. Seine technischen Aspekte erfordern jahrelange Hingebung, wie sonst vielleicht nur die Musik. Der Choreograf aber teilt darüber hinaus meist alle Bildungsinteressen eines Regisseurs. Musik, Kunst, Literatur sollten die ständigen Gegenstände seines Studiums sein. Weder Sensibilität noch technische Virtuosität allein führen zu Meisterwerken. Kenntnis und Reflektion eines reichen Repertoires, das in dreihundertfünfzig Jahren Tanzgeschichte entstanden ist, sind essentiell. Traditionslinien muss man nachgezeichnet haben, um zu wissen, was eventuell man eventuell abreißen lassen möchte.
Choreografen sind sehr spezielle Leute. Es gibt nur sehr wenige. Von ihren Werken überleben nicht viele, und die selten unverändert. Von Balanchines vierhundertfünfundsechzig Stücken können heute noch etwa fünfundsiebzig aufgeführt werden. Von Merce Cunninghams mehr als zweihundert Choreografien sind etwa fünfzig im Augenblick verfügbar für Einstudierungen. Das beschreibt auch schon die Probleme des Tanzes der Gegenwart. Wenigen großartigen Choreografien, die pro Saison neu entstehen, steht in Deutschland eine Vielzahl mittelmäßiger, konventioneller Arbeiten gegenüber, mit denen die Stadttheater ihr Publikum, das Tanz liebt, bei Laune halten. All zu viele Theater engagieren Autoren-Tanzdirektoren, die das ganze Repertoire selbst erschaffen. Das ist das bevorzugte Modell der Intendanten, denn sie können so Uraufführungen im Tanz ankündigen, was seit Pina Bausch als Normalfall gilt, und sind befreit von der komplizierten Aufgabe, bestehende Choreografien und neue zu einem konsistenten Repertoire zusammenzufügen. Viele verstehen den Unterschied von Ballett auf der einen und Schauspiel und Musiktheater auf der anderen Seite nicht. Hier ist er: Natürlich inszenieren Regisseure im Schauspiel und in der Oper Stücke neu. Text und Musik bleiben, wie sie sind, oder werden in eine zu begründende passende Fassung gebracht. Aber eine Choreografie kann man nicht im eigentlichen Sinne »neu« inszenieren. Denn ihr »Text« sind die Schritte. Und im Fall von Handlungsballetten geht mit den Schritten ein Vokabular von Gesten, Pantomime und Ausdruck einher, das man nur sehr sensibel bearbeiten kann. Auch Marius Petipas Schritte der klassischen Ballette bedeuten etwas, sagen etwas aus über seine Figuren. Das ist der Tanz! Und wenn man die Schritte nicht ändert, also die Choreografie nicht zerstört, dann kann man auch nicht »gegen« sie arbeiten, in der Inszenierung. Also muß man versuchen, eine historisch legitime, aber für das heutige Publikum nachvollziehbare Version eines Klassikers zu präsentieren. Das verstehen viele als museal falsch. Aber tatsächlich ähneln Choreografien als Material eher musikalischen Partituren als Schauspielen. Für Choreografien der Moderne gilt das noch viel mehr.
Es war eines der Versprechen der Moderne, in der Figur des Künstlers unerschöpfliche Möglichkeiten zur Überschreitung von Grenzen verkörpert zu sehen, Aussichten auf ewige Ferien von Routine, Wiederholung und Ermüdung, Entlastung von der Einhaltung langweiliger Regeln, mühsamer Studienprozesse und langwieriger Aneignung von Techniken.
Einhundert Jahre später zeigt sich eines der zentralen ästhetischen Felder der Moderne, der Tanz, in einer prekären Lage. Seine Freiheitsversprechen scheinen aufgebraucht. Fünf Jahre ist es her, dass im selben Sommer die beiden berühmtesten und doch in ihrer Kunstauffassung so unterschiedlichen Protagonisten des Tanzes der Postmoderne starben: Pina Bausch und Merce Cunningham. In einer Art paradoxer Bewegung, die Ausdruck einer anhaltend geschäftigen Orientierungslosigkeit ist, wendet sich der Tanz seiner Vergangenheit in Gestalt von Rekonstruktionen, Rekursen und Reflexionen zu. Davon seltsam abgespalten mehren sich die Produktionen, die in der Kunstwelt wie in der Theaterwelt mit größter Aufmerksamkeit rechnen dürfen, in denen der Tanz aber in den Hintergrund gedrängt ist, als wollte sich diese Kunst demonstrieren, wie höchst erfolgreich sie sich selbst auf spektakuläre Weise vergessen kann.
Choreografen liefern immer häufiger Operninszenierungen. Kompanien werden an Theatern zu Spielbällen interner machtpolitischer und finanzieller Interessen, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.
Der Tanz dient sich dem Theater und dem Musiktheater an. Auf Festivals und in Museen werden Performances gefeiert, die keine eigentliche genuin originelle Tanzsprache mehr präsentieren, sondern mit Präsenz, mit Anwesenheit arbeiten. Choreografen liefern immer häufiger Operninszenierungen. Kompanien werden an Theatern zu Spielbällen interner machtpolitischer und finanzieller Interessen, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, zu Verschiebemasse im Kampf um Macht und die Erweiterung künstlerischer Imperien. Andere verkaufen sich an den Kommerz. Wieder andere sind künstlerisch so tot, dass nur noch Touristen ihre Karten kaufen.
Politiker beweisen ihre anhaltende Unkenntnis, in dem sie, wie gerade in Berlin geschehen, einen unterdurchschnittlichen Ballettdirektor durch den nächsten ersetzen. Konzepte? Eine konsequent begründete Auswahl aus dem Kanon? An den wenigsten deutschen Häusern ist der Nachweis dazu nötig, um Ballettdirektor zu werden. Aber wenn man nicht damit anfängt, die Traditionslinien wenigstens des 20. Jahrhunderts zu verstehen, indem man Schlüsselwerke des Tanzes auf den Spielplänen erscheinen lässt, kann man sich kein Bild von den ästhetischen Möglichkeiten des Tanzes der Gegenwart bilden. Man muß sich mit dem mal eben Choreografierten, das in Mannheim oder Osnabrück so geboten wird, zufriedengeben. Das ist, als würde man nie mehr einen Rembrandt im Original betrachten können, weil die Museen die Bilder im Fundus verschwinden lassen, zugunsten der Gegenwartskunst, auf immer. Das ist, als würde immer nur derselbe Gegenwartsautor gespielt in Hannover und nie mehr Thomas Bernhard und nie mehr Kleist. Das ist Wahnsinn. Das ist ein Skandal. Stellt das ab. ¶