Vor 80 Jahren wurde Alfred Schnittke in Engels im heutigen Russland geboren. Er war einer der meistgespielten und beim Publikum beliebtesten Komponisten seiner Zeit. Über sein weithin bekanntes Markenzeichen, den Polystilismus (»Wir sind fähig, in unterschiedlichen Zeiten zu leben«), hat er ein erratisches Werk hinterlassen, in dessen Vielfalt man sich verlieren kann. Als sich Schnittke 1984 von der Arbeit für den Film lossagte, hatte er bereits über 60 Filmmusiken komponiert. Für zwei Filme kehrte er Anfang der 1990er Jahre wieder zur Leinwand zurück. Neben seinem Sohn war auch der Dirigent Frank Strobel beteiligt. Er erinnert sich und stellt Momente aus Schnittkes Filmkomposition vor.
Prolog
Meine Eltern haben in München viele Filmfestivals organisiert, zum Beispiel das Filmfest München. Mitte der 1980er Jahre veranstalteten sie ein Festival zum »Sowjetischen Kinder- und Jugendfilm«, es waren Gäste eingeladen. Dass damals Leute aus der UdSSR ausreisen und nach München kommen durften, war sehr schwierig zu bewerkstelligen. Ich habe beim Festival in unserem eigenen Kino als Vorführer mitgearbeitet. In meiner Projektionskabine hörte ich die Tonspur zu einem Film und war vom Donner gerührt – wirklich vom Donner gerührt! Ich dachte: Was ist das für eine Musik! Es war der Film Das Märchen der Wanderungen von Alexander Mitta. Alfred Schnittke war der Komponist. Das war das erste Mal, dass ich ihn als Filmkomponisten wahrgenommen hatte. Und Alexander Mitta war Gast beim Festival. Ich sprach ihn an und erzählte ihm, dass ich so sehr begeistert war von dieser Musik. Und dann versprach er mir – und das war zur damaligen Zeit eigentlich geradezu absurd – er versprach, mir nach seiner Rückkehr nach Moskau ein Tonband mit den Originalaufnahmen dieser Musik zu schicken. Drei Wochen später war das Tonband in München. So hatte ich also diese Musik von Alfred Schnittke, und das war für mich so etwas wie eine Initialzündung. Mir wurde klar, was für ein fantastischer Komponist Alfred Schnittke tatsächlich ist. Ich habe mich dann viel mit ihm und seiner Musik beschäftigt. In meiner Heimatstadt München fanden auch einige Uraufführungen seiner Werke statt, zum Beispiel die seines ersten Cellokonzerts. Natalia Gutman und die Münchner Philharmoniker spielten, Alfred Schnittke war Gast, und ich war bei der Premiere dabei.
Komponieren für den Film
Das Komponieren in unterschiedlichen Schichten, der Dialog mit der musikalischen Vergangenheit – sein Modell der Polystilistik formulierte Schnittke im Jahr 1968. Im Film hat er dafür ein fast ideales Äquivalent und Spielfeld gefunden. Da er wie viele zeitgenössische Komponisten in der UdSSR unter Reglementierungen litt und seine Werke oftmals nur unter schwierigen Bedingungen aufgeführt werden konnten, trug die Tätigkeit für den Film wesentlich zu seinem Lebensunterhalt bei. Schnittke steht damit in einer Reihe mit großen sowjetischen Komponisten wie Schostakowitsch, Prokofjew und Chatschaturjan.
Er arbeitete mit Regisseuren wie Elem Klimow, Larissa Schepitko, Andrej Michalkow-Kontschalowski, Alexander Mitta und Michail Schweizer zusammen, schrieb aber auch Musik zu etlichen Animationsfilmen. In einem Interview mit der Neuen Musikzeitung erklärte er 1990, dass seine Filmmusikarbeit ihm »sehr geholfen und auch gleichzeitig geschadet [hat], denn man hat den Nutzen, dass man fast ständig mit Orchestern im Kontakt steht und vieles ausprobieren kann, aber gleichzeitig, dass man alles etwas oberflächlich machen muss.«
In den Film hinein, aus ihm heraus
In das mittlerweile legendäre Concerto Grosso No. 1 (1977) haben mehrere Filmmusiken Eingang gefunden (Der Aufstieg, Regie: Larissa Schepitko, UdSSR 1976; Die Mär davon, wie Zar Peter seinen Mohren verheiratete, Regie: Alexander Mitta, UdSSR 1976; der Tango aus Agonie, Regie: Elem Klimow, UdSSR 1974–82).
1974–1982 entstand die Musik zu Agonie, einem zweiteiligen Film von Elem Klimow. Der Film behandelt ein Thema, das in der Sowjetunion zur behördlichen Einstufung »subversiv« führte: die Beeinflussung des Zaren durch Rasputin und das Mordkomplott gegen den skandalumwitterten Mönch. Das staatliche Komitee für Kinemathographie in Moskau ließ sogar während der Arbeit die Musik Schnittkes zu diesem Film zerstören, woraufhin dieser sie 1982 wieder hergestellt und dann die Komposition beendet hat. 1987 wurde sie als Konzertsuite in Hamburg wiederaufgeführt.
Der umgekehrte Weg – vom Konzertsaal in den Film – ist bei Schnittke die große Ausnahme: So findet man in Alexander Askoldows Film Die Kommissarin (UdSSR, 1967/86) Fragmente aus Schnittkes 4. Sinfonie. Askoldow kommentierte 1988 für die Frankfurter Rundschau: »Es gibt einen programmatischen Gang der Kommissarin. Sie geht an einer orthodoxen und an einer katholischen Kirche vorbei und kommt schließlich zu einer Synagoge. Sie hört eine Sinfonie, die von Alfred Schnittke geschrieben wurde. Es ist eine Sinfonie der drei Religionen.« Die Programmatik dieser Sinfonie hat Eingang in den Filmablauf gefunden.
Hier und in vielen allen anderen Filmen entwickelt die Musik von Alfred Schnittke eine Präsenz, die weit über eine Illustration hinausgeht und selbstständig in die Erzählstruktur eines Filmes eingreift. Nach mehr als zwanzig Jahren Arbeit für den Film wollte Schnittke dann aber keine Filmmusik mehr schreiben.
Ein stummer Neuanfang
Trotzdem hatte ich Anfang der 1990er Jahre zusammen mit den ZDF-Redakteuren Jürgen Labenski und Gerd Luft die Idee, dass Alfred Schnittke unbedingt eine Musik für einen Stummfilm von 1927 – Die letzten Tage von St. Petersburg von Wsewolod Pudowkin – schreiben sollte. Damals hatte ich schon einige Stummfilm-und-Musik-Produktionen für das ZDF betreut und dirigiert. Die außergewöhnliche Gestaltung und Qualität des Fi
lms bewogen Schnittke dazu, von seiner Entscheidung abzurücken; es entstand seine erste Komposition für den Stummfilm. Die Musik wurde für ein Kammerorchester und Live-Elektronik sowie eine Mezzosopranistin und einen Männerchor konzipiert. Dabei sollten die spezifischen Möglichkeiten des für die Uraufführung verpflichteten Ensemble Modern berücksichtigt werden. Alfred Schnittke bat darum, seinen Sohn Andrej in die Komposition einzubeziehen. Besprochen wurde eine konsequente Arbeitsteilung: Die Orchesterpartitur wird vom Vater erstellt, die elektronischen Teile vom Sohn.
Wir erwarteten eine erzählerische, emotionale, sinfonische Musik im Schnittke-Stil der achtziger Jahre. Doch schon bei der im April 1992 in Amsterdam uraufgeführten Oper Das Leben mit einem Idioten zeichnete sich ein radikaler Stilwandel ab. Eine thematisch und klanglich stark reduzierte Ausdrucksweise sollte auch die nachfolgenden Werke prägen. Als wir die Musik zum Petersburg-Film erhielten, sahen wir uns mit einer skizzenhaft-fragmentarischen Form konfrontiert, die keine offenkundige Beziehung zur Handlung herstellen will, sondern Freiraum für ein unbewusstes Empfinden und Erleben schaffen soll. Neben der scheinbar vordergründig wirkenden Verwendung einer Hymne, eines Marsches oder Fanfarensignals, verzichtet Alfred Schnittke in seiner Orchesterpartitur weitestgehend auf Metrum und Rhythmus, um durch langsame Klangveränderungen ein Spannungsverhältnis zwischen Bild und Musik zu erzeugen.
Nach langen Vorbereitungen war es im Herbst 1992 soweit: In Zusammenarbeit mit der Alten Oper Frankfurt, dem Ensemble Modern und dem Figuralchor des Hessischen Rundfunks fand die Uraufführung der Musik von Alfred und Andrej Schnittke zum Stummfilm statt, die damals live aus Anlass des 75. Jahrestages der Oktoberrevolution im ZDF übertragen wurde (das ist heute nur noch schwer vorstellbar…). Der Film, der im Zeitraum von 1913 bis 1917 spielt, zeigt die Geschichte eines einfachen Bauernburschen, der in die russische Metropole kommt. Er gerät in den Sog der sozialen und politischen Kämpfe, die im Niedergang des russischen Zarenreiches münden. Die Schnittkes nehmen großen Einfluss auf die Rezeption des Films: Der resignative Duktus kontert für zeitgenössische Zuschauer die ursprünglich emphatisch-revolutionäre Botschaft. Die Musik ist gezeichnet vom Bewusstsein der Entwicklung der Sowjetunion bis zu ihrem Zerfall und dem Ende von »Leningrad«.
Mit diesem Projekt entstand zwischen Alfred Schnittke und mir ein überaus freundschaftliches und künstlerisch enges Verhältnis.
Ein neues Zusammenwirken von Musik und Bild
Schon während der gemeinsamen Arbeit an diesem Projekt merkte ich, dass Alfred Schnittke grundsätzliche Überlegungen über das Zusammenwirken von Bild und Musik anstellte. Später erzählte er mir, dass er eine neue Filmmusik komponiere: Er müsse an jenem Punkt fortfahren, an dem er bei Petersburg aufgehört habe. 1993 gab es ein Ergebnis: die Orchestermusik zu einer Neuverfilmung von Michail Bulgakows in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion geschriebenen Roman Meister und Margarita; Andrej Schnittke war wieder für die elektronischen Teile zuständig. Sein Vater greift auf frühere, Schnittke-typische Techniken zurück, alles ist aber viel reduzierter, viel weniger komplex.
Die Handlung des Filmes von Yuri Kara ist in zwei zeitlichen Ebenen angesiedelt: In den 1920er und 1930er Jahren im Russland der Stalinzeit und in der Zeit von Jesus Christus. Der Held des Films – der Meister – hat die letzten Lebensstunden von Jesus mit künstlerischer Perfektion in seinem Pilatus-Roman beschrieben, für den er verhaftet und ins Irrenhaus gesteckt wird. Seine geheime Geliebte, Margarita, ist bereit, ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, um den Meister zu retten. Der Teufel mit Namen Voland wird durch Schnittke mit einem Anklang an Also sprach Zarathustra von Richard Strauss eingeführt.
Margarita gibt ihre Zustimmung, Königin auf dem Ball beim Satan zu sein, wo Tausende von Galgenvögeln aller Art erscheinen. Zur Dämonie und Absurdität dieser Ball-Szenen fand Schnittke in einer starken Verfremdung von Ravels Bolero eine kongeniale Entsprechung.
Durch die erneute Begegnung mit seiner Filmmusikarbeit entstand bei Schnittke der Wunsch, sein umfangreiches Schaffen für den Film auch im Konzertsaal wieder lebendig werden lassen. Er bat mich 1992, Konzertsuiten aus seinen Filmmusiken zu schaffen. Die Beschäftigung mit Schnittkes Filmkompositionen ist nicht einfach: Viele handschriftliche Partituren waren damals nicht zugänglich; gedruckte Ausgaben existierten nicht, da wegen der üblicherweise einmaligen Aufnahme der Filmmusik kein weiterer Bedarf für einen Druck der Noten bestand. Nach der Aufnahme verschwanden die Materialien im glücklichsten Fall im Archiv. Seit einigen Jahren bemühen sich der Verleger von Schnittkes Werken, die Sikorski Musikverlage in Hamburg sowie seine Witwe, Irina Schnittke, intensiv um die handschriftlichen Partituren. Mittlerweile konnten nach langwierigen Verhandlungen eine ganze Reihe – aber bei weitem nicht alle – der Handschriften aus den Moskauer Archiven nach Deutschland gebracht werden.
Fünfzehn Konzertsuiten sind bislang entstanden, darunter Die Kommissarin und Märchen der Wanderungen, Die Glasharmonika, Der Walzer und Der Aufstieg. Sie sind in Konzerthäusern zu hören, werden aber auch verstärkt als Ballettmusiken verwendet, zuletzt an der Stuttgarter und der Zürcher Oper. ¶