»Nō ist die älteste bis heute aufgeführte Theaterkunst der Welt.«
Ryoko Aoki hat im Bereich des Nō-Theaters als weibliche Sängerin und Darstellerin eine einzigartige Position inne: Sie wirkt nicht nur bei Aufführungen von Nō-Werken mit, die traditionell männlichen Darstellern vorbehalten sind, sondern ist auch eine Pionierin künstlerischer Formen, die Nō mit zeitgenössischer Musik kombinieren. Mehr als 50 Werke wurden bereits für sie geschrieben. Am 8. September wird sie mit dem Ensemble Musikfabrik und Peter Eötvös im Rahmen des Musikfest Berlin zu hören sein. Das Stück Secret Kiss hat letzterer eigens für sie komponiert
Buddhistischer Gesang der Shuni-e Zeremonie, Tōdai-ji
Ich bin Nō-Sängerin. Nō ist klassisches Japanisches Musiktheater, das seit dem 14. Jahrhundert aufgeführt wird, ursprünglich finanziert von Tempeln und Kultstätten. Die Shuni-e Zeremonie im Tōdai-ji Tempel der Stadt Nara ist die berühmteste buddhistische Zeremonie und existiert seit dem 8. Jahrhundert. Hier singen die Mönche buddhistische Texte. Ich glaube, auch der Nō-Gesang ist aus dieser Gesangstradition entstanden.
Noh: Futari shizuka
Nō ist die älteste bis heute aufgeführte Theaterkunst der Welt. Ich praktiziere diese Kunst nun seit rund 30 Jahren. Der Titel Futari shizuka bedeutet Die zwei Shizukas. In diesem Stück ergreift der entwichene Geist von Shizuka Gozen (Lady Shizuka) den Körper eines jungen Mädchens und beide tanzen dann zusammen. Eine Zusammenfassung der Geschichte ist hier nachzulesen.
Karlheinz Stockhausen: Telemusik
1966 besuchte Karlheinz Stockhausen Japan zum ersten Mal. Die NHK (Japanische Rundfunkgesellschaft) hatte ihn eingeladen, um in den NHK Studios seine Telemusik zu produzieren. Er sampelte dabei viele Klänge in Japan, darunter buddhistischen Gesang der Shuni-e Zeremonie im Tōdai-ji und Nō-Gesang.
Toshio Hosokawa: Seeds of Contemplation
Als ich an der Universität der Künste in Tokio zu studieren begann und mich auf das Nō-Theater spezialisierte, gab mir der Architekt Arata Isozaki – er hat das Sony Center am Potsdamer Platz entworfen – eine CD mit Seeds of Contemplation von Toshio Hosokawa. Auch mein Vater ist Architekt und unsere Familie stammt aus Oita, wo Arata Isozaki geboren wurde. Dadurch sind wir befreundet. Auf dem CD-Cover ist das Kunstwerk Utsuroi von Isozakis verstorbener Frau Aiko Miyazaki abgebildet. Isozaki und Hosokawa kennen sich sehr gut. Seeds of Contemplation ist eine neue Komposition für buddhistischen Gesang (wie das erste Stück meiner Playlist) und Gagaku, der japanischen Hofmusik. Ich hatte solche Art Musik nie zuvor gehört.
Toshio Hosokawa: Futari Shizuka – The Maiden from the Sea
10 Jahre nachdem ich Toshio kennengelernt hatte, schrieb er endlich eine Oper für mich. Oriza Hirata hatte ein Libretto geschrieben, basierend auf dem Nō-Stück Futari Shizuka (Die zwei Shizukas), dem zweiten Stück meiner Playlist. In diesem Werk besetzt der entwichene Geist von Shizuka Gozen (Lady Shizuka) den Körper und die Seele eines jungen, schönen Flüchtlingsmädchens, das es bis ans Mittelmeer geschafft hat, und besingt ihre Trauer über Krieg und hassvolle Auseinandersetzungen.
Peter Eötvös: Seven
2008 besuchte Peter Eötvös Japan, um das NHK Symphony Orchestra zu dirigieren, unter anderem mit seinem Violinkonzert Seven mit der japanischen Geigerin Akiko Suwanai. Nach dem Konzert führte mich Toshio in den Backstage-Bereich und stellte mich Peter vor. Er wusste, dass ich Nō-Sänger bin, und bat mich: »Bitte sing mein Stück Harakiri.«
Peter Eötvös: Harakiri
2011 wurde ich vom Ensemble Alter Ego und Peter Eötvös nach Rom eingeladen, um dort zum ersten Mal Harakiri zu singen. 1970 war Peter das erste Mal in Japan gewesen, zusammen mit Karlheinz Stockhausen. Er blieb sechs Monate dort und spielte als Mitglied des Stockhausen Ensembles bei der Japanischen Weltausstellung in Osaka. Nach dieser Erfahrung komponierte er 1973 Harakiri, ein Auftragswerk des WDR. Das Stück ist inspiriert vom Selbstmord des japanischen Schriftstellers Yukio Mishima. Es wurde bis zu meiner Japan-Premiere 2014 nie in Japan aufgeführt. Glücklicherweise konnte ich es seitdem einige Male in Ungarn und Japan auf die Bühne bringen. Ich bat Peter um ein neues Werk, und Secret Kiss wurde geboren. Es ist am 8. September in der Philharmonie Berlin zu hören. ¶