Viele Künstler*innen der documenta 14 kommen aus anderen Sparten – sind Musikerinnen, Tänzer, Komponistinnen – und bewegen sich zwischen den Disziplinen.
Die documenta, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, ist bekannt dafür, einen Überblick über die Gegenwartskunst zu liefern. Der diesmalige Leiter, Adam Szymczyk, hat nicht nur die documenta räumlich auf zwei Orte aufgeteilt, Kassel und Athen, sondern dehnt auch den Begriff der Gegenwart: Typisch für diese documenta sind zahlreiche Arbeiten von Künstler*innen, die bereits verstorben sind. Ebenfalls charakteristisch für die Auswahl: Kunstmarktferne und Grenzgängertum. Viele Künstler*innen kommen aus anderen Sparten – sind Musikerinnen, Tänzer, Komponistinnen – und bewegen sich zwischen den Disziplinen.
Doch wie stellt man Musik auf einer Kunstausstellung aus? Vor allem in Form von Partituren und archivarischen Dokumenten. Hinzu kommt ein umfangreiches Begleitprogramm aus Performances, Film- und Fernsehen. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand – erklingt die Musik permanent, braucht sie einen geschützten Raum, sonst geht sie schnell unter; wird sie nur temporär aufgeführt, ist sie lediglich für ein exklusives Publikum. Besteht der künstlerische Beitrag lediglich in reinem Archivmaterial, bleibt sie recht leblos und muss sich auf ihren künstlerischen Wert im Ausstellungskontext hin befragen lassen. Stellt sie aber ein Zwitterwesen zwischen den Disziplinen dar und funktioniert sowohl als Kunst wie auch als Musikinstrument, -komposition etc. – dann ist sie an diesem Ort genau richtig. In der documenta-Halle gibt es eine »Gruppe von Werken, die sich mit dem Spektrum zwischen Partitur und Notation einerseits und der eigentlichen Aufführung andererseits beschäftig[t]«. Hier lässt sich ein Schwerpunkt zum Thema Musik ausmachen – und anhand der Ausstellungsobjekte einiges über die inhaltlichen Schwerpunkte der documenta erfahren.

Betritt man die documenta-Halle, befindet man sich fast unmittelbar in einer Platten- und Instrumentensammlung von Ali Farka Touré und seiner Band, die von dem Musiker und Kurator Igo Diarra zusammengestellt wurde. In einem kleineren Raum sind weitere Fotos und persönliche Gegenstände von Ali Farka Touré versammelt, der 1939 in Mali geboren wurde und 2006 verstarb; aus einem Lautsprecher erklingt Musik. Die Exponate huldigen einem Musiker, der verschiedene Einflüsse kombinierte und als der »Bluesman of Africa« galt, aber im westlichen Kanon nicht über den Status »Weltmusik« hinauskam. Die Frage des Kanons und die Folgen des Kolonialismus bilden eines der zentralen politischen Themen der documenta. Wie kann man diese Geschichte und die damit einhergehenden Werturteile umschreiben?

Eine weitere politische Arbeit befindet sich im großen Ausstellungsraum der documenta-Halle. Dort hängt ein ungewöhnliches Musikinstrument, der Fluchtzieleuropahavarieschallkörper des mexikanischen Künstlers Guillermo Galindo. Er besteht aus Überresten von Glasfaser- und Holzbooten, die der Künstler auf Lesbos gefunden hat. Durch das Hinzufügen von weiteren Fundstücken und Cembalo- und Klaviersaiten werden die Bootsreste, die in meinen Gedanken sofort dramatische Bilder von gestrandeten Bootsflüchtlingen aufrufen, zu Zwitterwesen, die noch eine weitere Bestimmung haben: Musik zu machen.
Im Palais Bellevue gibt es noch weitere Arbeiten des Künstlers: Partituren aus der Serie Exit, die Galindo auf verschiedene Untergründe, zum Beispiel einen Schal, eine Decke gemalt hat. Noten vermischen sich mit allerhand abstrakten Zeichen und räumlichen Markierungen. Der Künstler hat Geschichten von Flüchtlingen, die er getroffen hat, verwoben und übereinandergelegt – eine Kakophonie der Stimmen, die zu einer Zeichnung geworden, stumm bleibt. Auch hier ist das Ergebnis ein Zwitterwesen, das ein konkretes Thema in eine andere (schöne!) Materialität und Form transferiert und dadurch zu schwingen anfängt.
Auch die Sound(s) on Paper von Alvin Lucier von 1985 schwingen. Es ist eine Soundinstallation bestehend aus sechs auf einen Rahmen gespannten Papieren, hinter denen sich Lautsprecher und Oszillatoren befinden, die das Papier in regelmäßige Schwingungen versetzen. Das ganze ergibt einen etwas eintönigen Sound, wobei es faszinierend ist, wie durch diesen simplen Eingriff die Kunstwerke plötzlich zum Leben erweckt werden. Lucier gelingt es mit dieser simplen Anordnung, sowohl Fragen nach dem Status des Bildes als auch nach dem des Sounds anzustoßen – was mir ziemlich großartig erscheint. Lucier, der 1931 in den USA geboren wurde, ist bekannt für seine minimalistische, experimentelle Klangkunst, die er seit Mitte der 1960 in Form von Kompositionen und Performances entwickelt. Brandon La Belle scheibt über diese Kompositionen (die leider nur in Athen aufgeführt wurden), dass sie »zu einer grundlegenden Theorie des Klangs [führen], die zeigt, wie wir uns die akustische Welt aneignen können, wie wir hören können, was erst noch erklingen muss.«

Während Alvin Lucier als Komponist bekannt geworden ist, ist es Anna Halprin als Tänzerin. In unmittelbarer Nähe zu dem zehn Jahre jüngeren Lucier befinden sich mehrere Vitrinen, in denen Archivmaterialien wie Fotos und Texte von ihr ausgestellt sind. Man sieht weniger sie als Tänzerin als ihre Tanzklassen. Halprin verstand Tanz als eine Mischung aus »instant theater«, sozialem Raum und therapeutischem Bewegungsritual (VAN-Artikel über Anna Halprin und den Kölner City Dance). Ihr war es wichtig, gemeinsam mit den Teilnehmenden neuen Tanzformen zu entwickeln und sich dabei von Künstlerinnen, Komponisten, Dichtern, Architektinnen und Filmemachern inspirieren zu lassen, so wie sie es an der Harvard University, wo sie bei einigen Bauhaus-Mitgliedern studiert hatte, kennengelernt hatte. Ihr erweitertes Tanzverständnis und ihr politisches Engagement zeigt sich unter anderem darin, dass sie 1965 die erste Tanzgruppe in den USA gründete, die ethnische, sexuelle und lokale Minderheiten und HIV-positive Menschen zusammenführte – und dies bis heute tut.
In einem anderen Raum befinden sich mehrere Partituren von ihr. Citydance (1978) scheint in seiner Buntheit und einfachen Skizzierung noch dem Summer of Love verbunden zu sein. Wie bei den Partituren von Guillermo Galindo handelt es sich auch bei ihnen weniger Musikstücke, als um Anleitungen für (oder die Dokumentationen von) Aufführungen.

Wesentlich künstlerischer – weil abstrakter – ist die Partitur von Cornelius Cardew, die an der seitlichen Fensterfront der documenta Halle angebracht ist. Treatise stammt bereits aus 1967 und wurde für den Ort noch mal bearbeitet. Unterschiedlich große weiße Punkte sind durch feine Linien miteinander verbunden, eine sehr grafische Partitur. Cardew (1936–1981) war ein englischer Komponist und Musiker, beeinflusst von Stockhausen und Cage. Ähnlich wie Anna Halprin verband er seine künstlerische Tätigkeit mit einem politischen Anspruch, arbeitete interdisziplinär und schuf Kompositionen, die erst durch die Aufführenden vollendet wurde. 1971 schreibt er über das Stück Treatise: »Das grafische Material wird in solch erschöpfender Weise behandelt, dass eine Interpretation (musikalisch oder anderweitig) quasi unbewusst in der Vorstellung der Leser_innen im Verlauf des Lesens der Partitur entstehen kann. Eine beliebige Anzahl Musiker_innen mit allen möglichen Instrumenten kann teil nehmen. Jede_r Musiker_in spielt von der Partitur, liest sie in den Begriffen seines oder ihres jeweiligen Instruments und entsprechend individueller Neigung. Eine Anzahl allgemeiner Entscheidungen mag im Vorhinein getroffen werden, um die Aufführung zusammenzuhalten, jedoch ist ihr improvisatorischer Charakter für das Stück essentiell.«

Abgerundet wird die Präsentation dieser musikalischen Positionen in der documenta Halle durch zwei Räume mit Archivmaterialien zu Cornelius Cardew und dem griechischen Komponisten Jani Christou (1926–1970). Zu sehen sind Partituren, Arbeitsmaterialien und Fotografien eines Musikers, der sich nach seinem Philosophiestudium den Grenzbereichen der Musik widmete: der atonalen Musik und der Improvisation. Weil das recht trocken daher kommt, befindet sich in unmittelbarer Nähe der Listening Space Kassel, ein Archiv der vielfältigen soundbasierten Veranstaltungen, die während der Laufzeit der Athener Ausstellung stattgefunden haben – unter anderem Aufführungen mit Stücken von Cardew, Lucier und Christou. Wer das Konzert der Ali Farka Touré Band mit Igo Diarra in den Henschel-Hallen in Kassel verpasst hat, der hat allerdings Pech gehabt … ¶
