In jedem einzelnen Moment des menschlichen Lebens begegnen sich Erinnerungen aus der Vergangenheit und Ideen für die Zukunft. Dabei sind wir auf Konstanten und Wiedererkennbares angewiesen: Unser Gedächtnis hilft uns, die Geschichten von uns und der Welt in eine Ordnung zu bringen. Welches Talent, welche Raffinesse und welche Opfer es braucht, diese Ordnung aufrechtzuerhalten, auch wenn die Erinnerungen erfunden sind, thematisiert der Film Der talentierte Mr. Ripley (1999) von Anthony Minghella.

Tom Ripley lebt radikal in der Gegenwart. Etwas anderes erlaubt ihm seine Vergangenheit nicht mehr. Auf einer Feierlichkeit der Reichen und Schönen im New York der 1950er Jahre wird Ripley vom Fabrikanten Greenleaf mit einem Studienfreund des Sohnes verwechselt. Tom klärt diese Verwechselung nicht auf, sondern geht auf die Bitte des Geschäftsmannes ein, nach Italien zu reisen und seinen Sohn zu einer Rückkehr nach New York zu überzeugen. Die angebotenen 1000 Dollar kommen dem armen Studenten Ripley gelegen. Während sich Tom in das Leben des Millionärssohns in Italien verliebt, verstrickt er sich zunehmend in Halbwahrheiten, Täuschungen und Finten. Sein Talent, sich in die Leben anderer im wahrsten Sinne des Wortes hineinzuversetzen, sie sich zu eigen zu machen und seine eigene Vergangenheit zu vergessen, verhilft ihm zu einem luxuriösen Leben. Das Vabanquespiel macht jedoch auch den Tod einiger seiner Gefährten notwendig, um die Deckung zu wahren. Tom Ripley arbeitet ständig gegen das Erinnern an.

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In einer der Schlüsselszenen des Films sitzt die Hauptfigur in einem Wohnzimmer am Klavier, spielt die ersten Takte des Stabat Mater von Vivaldi und unterhält sich mit einem liebgewonnenen Freund Peter: »Sperrst du nicht manchmal die Vergangenheit in einen Raum? Im Keller zum Beispiel. Du schließt die Tür zu und lässt niemanden rein.« Es ist der Wendepunkt an dem Ripley erkennt, dass der Preis für das Spiel, das er spielt, möglicherweise zu hoch ist. Seine heile Welt, aufgebaut auf der Strategie des Vergessens, des Einsperrens der Vergangenheit sowie der eigenen Gefühle und Sehnsüchte zugunsten des Moments, bekommt plötzlich Risse.

Vivaldis erstes geistliches Werk begleitet diesen Bruch im Film musikalisch. Zunächst erklingen die ersten 15 Takte des Stabat Mater auf dem Klavier, durch Ripley selbst angeschlagen. Er wird unterbrochen durch die Unterhaltung, beginnt noch einmal von vorne, wird abermals unterbrochen und beginnt wieder. Zusammen mit der Musik spricht er seine Zweifel, seine Sehnsucht und Suche aus. Dann erklingt die originale Instrumentation von Vivaldi. Zu Streichern hört man die Stimme eines Knaben mit den ersten Worten des Liedes. Die Kamera verlässt das Wohnzimmer und taucht in eine Kathedrale ein. Während die Musik die Trauer der Mutter Maria im Angesicht des gekreuzigten Christi beweint, treffen sich im pompösen Kirchenraum die Blicke Ripleys und seines Freundes, der auf der Empore musiziert.

Die Parallele ist unverkennbar: Wie Maria zu ihrem geopferten Sohn am Kreuz emporblickt, blickt auch Tom zu seinem Freund empor, den er kurze Zeit später ebenfalls ermorden wird, um das Geheimnis des talentierten Mr. Ripley zu bewahren. Die schlichte Ruhe, Gleichheit, Konzentration und Inbrunst, die aus Vivaldis Musik heraus erklingt, transportiert eine Zuneigung Ripleys zu Peter, die das ganze Dilemma seiner Situation auf den Punkt bringt: Die Zukunft ist nur aus der Vergangenheit heraus zu gestalten. Die Opfer, die dafür erbracht werden müssen, sind manchmal zu groß. ¶