Klassik, Jazz, Sport – Konzertsaal, Club, Stadion

Text VAN-Team · Foto Jirka Jansch

Richard Williams, Leiter des Jazzfests Berlin, über Entwicklungen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Überschneidungen zwischen Jazz und klassischer Musik.


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VAN: Kann das Genre Jazz ohne die Umgebung des Clubs überhaupt existieren?

Richard Williams: Jazz machte schon in den 1930ern den Sprung in die Konzerthalle, mit den Konzerten »From Spirituals to Swing« in der New Yorker Carnegie Hall. Aber klar bleibt der Club die Umgebung, in der das Meiste an Entwicklung passiert. Für Zuhörer kann er so etwas wie eine lockere Workshop-Umgebung sein, und auch diese Nähe zu den Musiker/innen kann ein Konzertsaal nicht bieten. Jazz könnte notfalls ohne Konzertsäle existieren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er ohne Clubs überleben oder seine schöpferische Kraft erhalten könnte.

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Nun hat die Klassikkultur begonnen, neue Konzertorte zu suchen, wie Clubs, Bars; und Jazz ist verstärkt auch in etablierten, institutionellen Veranstaltungsorten und Konzerthäusern zu finden. Wie siehst du diese Entwicklungen, werden sie weitergehen und auch das Publikum mit verändern?

Jazz kann selbstverständlich an allen möglichen Aufführungsorten funktionieren, auch Kirchen und Galerien. Konzertsäle sind deshalb wertvoll, weil sie den Musikern die Möglichkeit bieten, ihre Musik einem größeren Publikum zu bieten – und in einer erstklassigen Umgebung, was Klangqualität und Komfort angeht. Für große Ensembles oder bestimmte Projekte kann das die beste Umgebung sein. Außerdem schenken sie der Musik ein ganz anderes Level an Würde; ein Konzertsaal stellt klar, dass Jazz die gleiche Wertschätzung zusteht, wie sie auch anderen Musikformen entgegengebracht wird.

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Hast du im Verlauf deines Berufslebens Veränderungen beobachtet, was die Art des Zuhörens angeht?

In den letzten Jahren ist mir die begrüßenswerte Tendenz aufgefallen, dass ein Club-Publikum sich gegenüber den Musikern respektvoller verhält: Es kommt zum Beispiel weniger oft vor, dass Unterhaltungen einfach weitergeführt werden, wenn gespielt wird. An Orten, wo man auch essen kann, findet das eher vor oder nach der Musik statt. Das war nicht immer so. Ich finde es auch gut, dass ich zu immer mehr Jazz Gigs in Kunstgalerien gehe.

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Was sind für dich die aktuell spannendsten Schnittpunkte zwischen Jazz und klassischer/zeitgenössischer Kunstmusik?

Die Schnittpunkte zwischen Jazz und klassischer Musik sind zu vielzählig, um sie aufzuzählen. Ein sehr spannender findet sich beim Oktett des Amerikanischen Alt-Saxophonisten und Komponisten Steve Lehman. Er hat in Frankreich die sogenannte »spektrale Musik« studiert und seine Entdeckungen in seine Musik übernommen. Die zentralen Elemente des Jazz – Swing, Spontaneität, usw. – behält er bei, und erweitert sie mit einem neuen flavour. Auf seinem aktuellen Album, Mise en Abîme, erschienen bei Pi, kann man gut nachvollziehen, was ich meine.

Aber das ist nur ein Schnittpunkt von Vielen. Als Gunther Schuller, Komponist und Kritiker, mit John Lewis, George Russell, Ornette Coleman und anderen versuchte, Jazz und klassische Musik im sogenannten Third Stream in den 1950ern zusammenzubringen, wurde er dafür hart kritisiert. Aber er war auf der richtigen Spur, es brauchte nur seine Zeit. Klar, von der Jazz-Perspektive aus ist die Beziehung zur klassischen Musik nur einer von vielen Wegen, den Musiker einschlagen, um die eigenen Form zu erweitern.

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Ist das Schreiben über instrumentale Musik, für die in der Regel eine Partitur vorliegt, im Vergleich zu improvisierter Musik, in der das nicht der Fall ist, leichter oder schwieriger?

Schwierige Frage! Beim Schreiben tendiere ich dazu, Musik eher zu beschreiben als zu analysieren. Ich habe Musik studiert und früher auch selbst gespielt, aber meine Texte waren immer eher für ein nicht-spezialisiertes Publikum, und das ist mir auch lieber so. Gerne überlasse ich die Musikwissenschaft und tiefen Analysen denen, die dafür qualifiziert sind. Ich glaube, ich brauche keine Transkription eines Charlie-Parker-Solos, um zu beschreiben, was Parker macht und bis zu einem gewissen Grad auch: wie er es macht.

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Du hast mal als Sportjournalist gearbeitet. Was kann Musikjournalismus vom Sportjournalismus lernen und umgekehrt?

Sport und Musik sind sehr unterschiedlich. Als jemand, der in beiden Feldern gearbeitet hat, finde ich die Gemeinsamkeit allerdings nicht uninteressant (wenn auch nicht entscheidend). Die Gemeinsamkeiten von Sport und vor allem Jazz haben mit Teamfähigkeit zu tun, inklusive der verschiedenen Rollen, die in einem Team/Ensemble vertreten sind, und, noch wichtiger, mit Spontaneität im Ausdruck: Hier der außergewöhnliche Fußballer, der einen Pass ›sieht‹ und ihn auf eine Art und Weise spielt, die die Imagination der Mitspieler und des Publikums übersteigt. Da der großartige Saxophonist, der die improvisierte Phrase oder den Refrain ohne vorheriges, bewusstes Sinnieren erklingen lässt. Beiden gemein ist das Ideal der entspannten Konzentration. Was den Autor betrifft: Er muss in beiden Fällen beschreiben und analysieren, Enthusiasmus teilen und vielleicht den Leser (Hörer oder Zuschauer) auf ein anderes Beurteilungslevel lenken. Oft finden Leute es toll, wenn ihr Vergnügen auf die
se Weise gesteigert wird.¶


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VAN: Is the club atmosphere an essential part of jazz?

Richard Williams: Jazz took to the concert stage as long ago as the 1930s, with the Spirituals to Swing concerts at Carnegie Hall in New York, but the club environment remains the one in which most of the music’s development takes place. For listeners, clubs provide an informal workshop atmosphere and a proximity to the musicians that a concert hall can’t offer. If necessary, jazz could exist without concert halls. I don’t see how it could continue to exist, or retain its creative vitality, without clubs.

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While classical music has begun seeking out alternative performance spaces such as clubs and bars, jazz is (increasingly) present in established institutional venues and concert halls. What’s your view of these changes, will they last and will audiences change as a result of them?

Of course jazz works in all kinds of performances spaces, including churches and art galleries. Concert halls are valuable because they offer musicians a chance to present their music to larger audiences in the optimum circumstances from the point of view of sound and comfort. They can be the best places in which to present large ensembles or special projects. They also lend the music a different level of dignity, emphasising that it deserves the same consideration as other forms of music.

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Have you observed significant changes in the culture of listening during your professional career?

In recent years I’ve noticed a welcome tendency for club audiences to be more respectful of musicians, in the sense that they’re less likely to continue their conversations when the music is being played. In clubs that offer food, eating is now more likely to be done before or after the music. That was not always the case! I also seem to be going to more jazz gigs in art galleries these days, which is a welcome development.

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What do you perceive as the most exciting current intersections between jazz and classical/contemporary music?

The intersections between jazz and classical music are now too numerous to list, but one that I’ve found particularly interesting in the last year is represented by the octet of the American alto saxophonist and composer Steve Lehman, who studied the form known as “spectral music” in France and has brought his discoveries into his own music in a way that retains all the core values — swing, spontaneity, etc — of jazz, while adding a new flavour. You can hear what I mean on his most recent CD, Mise en Abîme, on the Pi label. The late composer and critic Gunter Schuller was much criticised for his advocacy of the so-called Third Stream in the 1950s, when he tried to bring jazz and classical music together (with the help of John Lewis, George Russell, Ornette Coleman and others), but he was on the right lines. It just took a long time. Of course, looking at it from the jazz perspective, a relationship with classical music is not the only route to be taken by musicians seeking to extend the form. It is one of many.

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Is it easier or harder to write about or analyze instrumental music when the reference of the score exists, compared to improvised music?

That’s a hard one for me to answer. In my writing I tend to describe music rather than analyse it. I studied music and played instruments as a young man, but my writing has been for a non-specialist audience and that’s the way I prefer it. I leave musicology and deep analysis to those with the proper qualifications for the job. I feel that I don’t need a transcription of a Charlie Parker solo to be able to describe what Parker was doing, and (to an extent) how it did it.

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You’ve worked as a sports reporter. What can music journalism learn from sports journalism (and vice versa)?

Sport and music have many differences, but as a writer who has worked in both fields the similarities between the two are of some (although not crucial) interest to me. The similarities between sport and jazz in particular are to do with teamwork (and the different roles within the team/ensemble) and, more importantly, the matter of spontaneous expression in both fields: for instance the supremely gifted footballer who is able to “see” and execute a pass outside the limits of his team mates’ (or the spectators’) imagination, or the great saxophonist for whom the shape of an improvised phrase or a chorus comes into existence without conscious pre-meditation. The ideal of relaxed concentration is common to both. As for the writer’s job, in both cases I see it as one of description as much as analysis, sharing enthusiasm and perhaps guiding the reader (whether listener or spectator) to a different level of appreciation. People are often pleased to have their enjoyment enhanced in this way. ¶

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