Text Benedikt von Bernstorff · Fotos Gyula Fodo (Titel und Portrait)
Als ich das Gelände der »Fahrbereitschaft« betrete, wehen mir Klarinetten- und Klavierklänge entgegen. »Ihr Termin mit Marino verschiebt sich leider etwas, ich kann Ihnen inzwischen seine Installation zeigen«, erklärt mir die ungewöhnlich nette Assistentin. Die »Fahrbereitschaft« ist ein dezent restaurierter ehemaliger DDR-Fuhrpark in Berlin-Lichtenberg, der seit 2013 Ausstellungen der Sammlung Haubrok (Link) beherbergt. Und »Marino« ist der italienische Pianist und Dirigent Marino Formenti, der im Klassikbetrieb gelegentlich als »Glenn Gould des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wird. Der Sammler Haubrok war von Formentis Projekt der One-to-one-Begegnung bei der Art Basel vor zwei Jahren so begeistert, dass er den Pianisten für eine Wiederholung des Experiments während der Art Week in Berlin Mitte September engagierte: Mindestens zwei Stunden verbringt der Künstler mit einem einzigen Besucher, es gibt ein Klavier, aber kein festgelegtes Programm. Außerdem hat Formenti eine Woche lang jeden Tag mit einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin des Betriebs verbracht, geredet, gegessen, musiziert; am Abend wurde ein Lied oder ein Popsong aufgenommen. Im alten Pförtnerhaus der Fahrbereitschaft kann man die daraus entstandene Klang- und Rauminstallation erleben. Vor seinem Atelier treffe ich schließlich Formenti und den sichtlich bewegten Klarinettenspieler, der den Termin vor meinem reserviert hatte. Schnell entsteht eine eigentümlich familiäre Atmosphäre.
Formenti hat sich für die Zeit der Art Week in einer Garage eingerichtet. Die Wände sind mit weißem Papier tapeziert, auf der er die Werke notiert, die bei der Begegnung mit seinen Besucher/innen musiziert wurden. Das Klavier, zwei Sofas, ein Kühlschrank, Regale mit Büchern und Noten und eine an diesem Tag allerdings den Dienst verweigernde Espresso-Maschine möblieren sparsam die temporäre Wohn- und Arbeitsstätte. Fast jeder Musiker betont, wie wichtig ihm die Kommunikation mit dem Publikum ist. Diese oft etwas floskelhaft wirkende Absichtserklärung nimmt Formenti beim Wort: Für seinen Film Schubert und ich hat er klassikferne Leute zum Singen von Schubert-Liedern animiert; vor einigen Jahren hat er während der Berliner Festspiele in einem Bungalow am Festspielhaus campiert und sich dabei rund um die Uhr beim Wohnen, Arbeiten und Klavierspielen besuchen lassen.

Obwohl der Pianist als Außenseiter des Betriebs gilt, hat er eine auch nach konventionellen Maßstäben erstaunliche Karriere hingelegt. Aus einer eher musikfernen Familie in einer norditalienischen Kleinstadt stammend, hat Formenti unter anderem bei Oleg Maisenberg gelernt, mit Maurizio Pollini verbindet ihn eine respektvolle Künstlerfreundschaft. Als Solist ist er mit dem Cleveland Orchestra und den Philharmonikern aus New York, Los Angeles und München aufgetreten und hat dabei mit Dirigenten wie Salonen und Dudamel zusammengearbeitet.
Dass ich sozusagen vom Fach bin, stört erstmal geradezu ein bisschen. An Gesprächen über den Klassikbetrieb ist Formenti wenig interessiert, über Kollegen sagt er grundsätzlich wenig, nur ganz gelegentlich und sozusagen aus Versehen mal etwas Kritisches. Dass er die ja tatsächlich blöde und meistens auch noch gelogene Formel »Ah, davon habe ich gelesen« nicht leiden kann, sagt er mir erst, als ich sie schon ein paar mal verwendet habe. »Was möchtest du hören? Oder willst Du vielleicht selbst was spielen? Oder wir beide zusammen?«, fragt Formenti in seinem fehlerlosen Deutsch, in dem sich sein leichter italienischer Akzent und ein österreichischer Tonfall reizvoll überlagern (er wohnt seit vielen Jahren in Wien). Ich wünsche mir etwas von Liszt, einem Komponisten, zu dem ich kein ausgeprägtes Verhältnis habe. Formenti spielt das Wiegenlied, eines von Liszts allerletzten Stücken: Schlichte Intervalle und einstimmige Meditationen über einem Pendelmotiv der linken Hand, das aus- und wieder einsetzt, sich verlangsamt und am Ende, auskomponiertes Einschlummern, verlischt:
Formenti spielt diese zarte Musik mit einer unsentimentalen Innigkeit, die mir an diesem Abend immer wieder auffällt. Das Kinderlied des greisen Komponisten erinnert ihn an die berühmte Schlusseinstellung aus Kubricks 2001, überhaupt sucht er nach überraschenden Querverbindungen und Wahlverwandtschaften. »Was haben Liszt und Pasolini gemeinsam?«, fragt er mich, worauf mir leider keine intelligente Antwort einfällt. Werke von Liszt hat Formenti in einem (auch als CD vorliegendem) Programm mit Kompositionen aus dem 20. und 21. Jahrhundert konfrontiert und ihn dabei als »Schüler der Spektralisten« interpretiert, einer Gruppe französischer Komponisten, die Jahrzehnte nach Liszts Tod aufgetreten ist. Die Überlagerung verschiedener Zeitebenen prägt auch Formentis Projekt Kurtág’s Ghost. Ein Ausschnitt daraus hat auf mich eine geradezu niederschmetternde Wirkung. Auf ein kurzes Werk des ungarischen Komponisten folgt ohne Unterbrechung das letzte Stück aus Schumanns Kinderszenen. Nach einem Kurtágschen Kondukt innerlich erstarrter Akkorde klingt Der Dichter spricht, wie man es noch nie gehört hat: als wäre der Trost, der sonst aus dieser Musik spricht, weggeätzt:
Im Gespräch ist Formenti von einer alle Schüchternheit des Gesprächspartners entwaffnenden Offenheit. Fast habe ich später den Eindruck, mich selbst zu wichtig und vor allem vom Angebot, selbst Klavier zu spielen, etwas reichlich Gebrauch gemacht zu haben. Abwechselnd begleitend und (eher krähend als) singend arbeiten wir uns durch ein
ige Lieder der Winterreise. Da der Drucker wie vorher die Kaffeemaschine streikt, sind keine Noten aus dem Internet zu beschaffen. Formenti hat aber sowieso fast alles im Kopf: Von vorbarocker Musik und dem Trauermarsch aus Mahlers 5. bis zu Dvoraks 9. Sinfonie, die er sehr gerne dirigiert, was mich ein wenig überrascht. Wie alle interessanten Rebellen versteckt Formenti seine Unsicherheiten nicht; er wirkt eher nachdenklich, melancholisch auch, auf seiner ständigen Suche nach einer Musik, die den Nerv der Zeit trifft, kann er mit vielen aktuellen Komponisten wenig anfangen; sogar einige späte Werke des sonst verehrten Ligeti findet er enttäuschend. Es gibt aber schon auch den Provokateur Formenti. In diesem Zusammenhang wird oft die szenische Produktion Gólgota Picnic des kolumbianischen Regisseurs Rodrigo Garçia erwähnt. Am Ende der Inszenierung tritt der Pianist nackt auf und spielt Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze von Haydn. In Frankreich reagierten Teile des Publikums mit wütenden Protesten. Den Vorwurf der Blasphemie kann Formenti nicht nachvollziehen. Die Idee zum Nacktauftritt entstand erst während der letzten Proben; »man vergisst das beim Spielen dann sowieso schnell, wenn man sich auf die Musik konzentriert.« Bei Formenti scheint es eine sehr spezifische Dialektik zwischen Entblößung und »Verschwindensbereitschaft« zu geben.
Am Ende empfiehlt mir Formenti noch eine Nirvana-Kur und spielt mir das Arrangement eines Songs vor, den ich, als der Klassik-Nerd, der ich ja tatsächlich leider bin, nicht kenne. »Cobain hat viel mit Schubert gemeinsam.«, lerne ich noch. Ich bin der letzte Besucher des Tages, aus den geplanten zwei sind am Ende mehr als fünf Stunden geworden. »Du kannst schreiben, was du möchtest.«, erklärt mir Formenti zum Abschied. Nicht einmal diese Lizenz zur Nicht-Autorisierung habe ich mir später vom Pianisten autorisieren lassen können. Auch was Pasolini mit Liszt verbindet, weiß ich bis heute nicht. Ich habe schon versucht, Formenti zu erreichen. Aber die an die angegebene Adresse geschickten E-Mails kamen mit einer failure notification zurück. Vielleicht gehört ja der Kommunikationsabbruch nach Gesprächsende zum Projekt. Dann mag mein Gruß Formenti eben auf diesem Weg erreichen. ¶