Als rastloser Multi-Instrumentalist und gewohnheitsmäßiger musikalischer Schwerenöter scheint Parry nicht dafür geschaffen, einer der größten Rockstars der Welt zu sein. Und doch wurde er genau das, nachdem er 2002 spontan einer damals unbekannten Band beitrat, ursprünglich noch als Produzent.

Text und Interview · Übersetzung Tobias Schnettler · Fotos Guillaume Simoneau · Datum 24.3.2015

Die Band hieß Arcade Fire – die zukünftigen Grammy-, Juno-, Polaris- und Brit Awards-Gewinner. Auch nach drei Alben ist die Band um das enigmatische Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne noch immer Liebling der alternativen Rock-Szene. Ihr theatralisches neues Doppelalbum Reflektor, ein Füllhorn von Einflüssen – von haitianischer Rara Musik über Marcel Camus’ Film Black Orpheus bis zur Existenzphilosophie Søren Kierkegaards – hat die kritische Begeisterung weiter angefacht, für die das 2005 erschienene und inzwischen als Meilenstein geltende Debütalbum Funeral den Grundstein legte.Parry hat als Absolvent der Concordia University in Montreal die esoterischen Unterwelten der elektroakustischen Musik erforscht und sich seine Unvoreingenommenheit und die Lust auf Musik in all ihren unendlichen Formen bewahrt. So hat ihn Arcade Fire, für die er von Kontrabass bis Celesta, von Akkordeon bis Keyboard alles spielt, zwar bekannt und reich gemacht, doch seinen Hunger auf das andere konnte die Band niemals stillen.


VAN: Auch als zentrales Mitglied von Arcade Fire führst du ziemlich beharrlich und regelmäßig andere musikalische Projekte fort — darunter deine Instrumentalband Bell Orchestre und Kollaborationen mit Leuten wie Bryce Dessner von The National und Nico Muhly. Sind diese Projekte eine direkte Reaktion auf das ungeheure Ausmaß der Aufmerksamkeit und die damit einhergehenden Beschränkungen dessen, was es bedeutet, Teil einer so etablierten Rockband zu sein?

Richard Reed Parry: Es gibt eine sehr ausgeprägte öffentliche Vorstellung davon, was die Band Arcade Fire ausmacht. Natürlich kann man diese Erwartungen zerstören und auf diese Art wachsen, auf die Bühne kommen und einfach Kammermusik spielen. Aber das ist nicht das, was die Leute von uns hören wollen. Also muss ich mein Bedürfnis nach anderer Musik und Herangehensweise anders befriedigen. Und die Größe der Band führt dann tatsächlich dazu, dass ich mich manchmal in eine sanftere und ruhigere Welt zurückziehe.

Genau das hast du 2005 getan, als du dir eine Auszeit in den kanadischen Bergen nahmst und bald darauf mit Duet for Heart and Breath für Klavier und Bratsche zurückkehrtest – woraus nun dein Debütalbum mit eigenen Kompositionen entstanden ist, . Wie bist du auf die Idee gekommen, Musik zu komponieren, bei deren Ausführung die Musiker dem Rhythmus ihrer Atmung bzw. ihres Herzschlags folgen sollen?

Das geht ganz weit zurück. Ich saß damals in einem Uni-Seminar zum Thema Elektroakustik. Ich fühlte mich unruhig und gelangweilt, es war etwas zu verkopft. Irgendwann kam mir diese Idee: Wie könnte man Musik möglichst direkt mit dem menschlichen Körper verbinden, und wie würde solche Musik klingen? Es ging um die wörtliche Beantwortung der Frage, wie organisch man Musik machen kann. Und ich hatte die Idee, diejenigen Körperteile zu benutzen, die ihren eigenen Biorhythmus und ihren eigenen Willen haben – das Herz, die Lunge. Dinge, über die man keine volle Kontrolle hat. Und das fand ich eine packende Idee. Ich hörte damals viel John Cage, und diese Idee passte zu der Art, wie er äußere Einflüsse auf die Musik einwirken lässt, so dass sie jedes Mal anders ist. Aber ich wollte etwas schaffen, das eine etwas festere Form hat und melodischer ist. So ist die Idee entstanden.



Diese Werke sind, ihrem Wesen nach, absolut einzigartig – jede Aufführung ist ein bisschen anders als die vorherige, aufgrund der Schwankungen im Rhythmus des Herzschlags und der Atmung der einzelnen Musiker. Wie wusstest du während der Aufnahmen, die »richtige« Version im Kasten zu haben?

(lacht) Das war schon manchmal schwer. Mir gefiel zum Beispiel eine Live-Aufnahme des (Music For Heart And Breath) Duets aus dem Jahr 2005 besonders gut. Letzen Endes muss man sich einfach immer klarmachen, dass es ausreicht, wenn alles funktioniert und »gut genug« klingt. Es gibt keine perfekte Version, wie bei einer Rock-Aufnahme. Man darf nicht erwarten, dass es jedes Mal radikal anders wird, aber jedes Mal wird es eine neue und interessante, schöne und zerbrechliche Qualität haben, und genau das macht es aus. Die Aufnahme ist deshalb eher eine Art Dokumentation. Trotzdem habe ich sehr viel Arbeit darin investiert und Teile aus verschiedenen Versionen zusammengeschnitten. Es ist also nicht völlig ohne äußere Kontrolle entstanden.

Bei den Live-Auftritten ist das Interessante, dass das Herz am Anfang sehr schnell schlägt und im Laufe des Konzerts langsamer wird – das ist eine sehr spezielle Erfahrung. In der Probe ist man meist entspannt, so dass ein Stück manchmal ewig dauert, wenn man sich an das Tempo des eigenen Herzschlags hält. Wenn man dann auf der Bühne steht, dauert es nur noch halb so lang.


Music for Heart and Breath

Für das Quartet lassen sich Einspielungen vom New Yorker Kammerensemble ymusic und dem Kronos Quartet vergleichen, es handelt sich um dieselbe Passage der Komposition. Auszüge mit freundlicher Genehmigung von Deutsche Grammophon.

HEART AND BREATH SEXTET; YMUSIC (ENSEMBLE) NICO MUHLY (PIANO); (AUSZUG)

FOR HEART, BREATH AND ORCHESTRA; YMUSIC (ENSEMBLE); 
NICO MUHLY (PIANO); RICHARD REED PARRY (DOUBLE BASS) U.A.; (AUSZUG)
QUARTET FOR HEART AND BREATH; YMUSIC (ENSEMBLE)
QUARTET FOR HEART AND BREATH; KRONOS QUARTET

Offenbar gibt es inzwischen eine richtige Bewegung von Künstlern, die die Grenzen zwischen Mainstream-Rock und klassischer Musik hinter sich lassen – eine Szene, in der unter anderem du, die Dessner-Brüder und Jonny Greenwood von Radiohead aktiv sind.

Ja, es gibt so eine Art lockerer Szene, und die ist aus einer bestimmten Generation entstanden. Wir sind alle in einem Klima aufgewachsen, in dem es all diese Dinge bereits gegeben hat: Debussy, Rock’n’Roll, Frank Zappa, Steve Reich, Bang on a Can … all das gab es schon, und das ist toll. Wir sind unter dem Paradigma aufgewachsen, dass klassische Musik oder Rockmusik oder was auch immer so langweilig geworden ist, dass man die jeweiligen Grenzen ausloten muss. Unsere Generation ist, wenn man so will, nicht mehr mit dem Glauben an das Kloster der Klassik oder des Rock aufgewachsen. Wir sind mit allen Arten von Musik groß geworden, nicht nur in der Klassik-Akademie oder im Rock-Ghetto – wir haben schon immer Debussy und dann die Beatles und AC/DC und Nick Drake und John Cage gehört. Es ist ganz natürlich, dass es fließende Übergänge zwischen den Genres gibt – das kommt mir nicht mal mehr wie eine These vor. Es ist eher eine Art tief verwurzeltes Ethos, eine Grundeinstellung. Bei Arcade Fire machen wir es genauso: »Lasst uns hier einen Marvin Gaye-Part einbauen« oder »da würde was Debussy-mäßiges gut passen, und da ein Dancehall-Part oder ein Pixies-Riff«. Richtig spannend wird es aber, wenn man etwas hört, das man noch nie zuvor gehört hat. ¶