VAN-Playlist zum Hören
klub katarakt
»Die erste Begegnung mit der Musik von Christian Wolff lässt dich mit dem Eindruck zurück, dass du gerade etwas gänzlich fremdes, seltsames gehört (oder gespielt oder gelesen) hast, anders als irgendetwas, das du kennst. Aber wenn du dann darüber nachdenkst, wird dir klar: Es ist gleichzeitig etwas vollkommen normales, so vertraut in seinem Verlauf wie alle wiederkehrenden Handlungen, für die das Alltagsleben steht – morgens aufstehen, zur Schule gehen, Arbeiten, Kirche, Geschirr abwaschen, die täglichen Aufgaben des Hauses und der Familie.« Frederic Rzewski in seinem Essay über Wolff, The Algebra of Everyday Life, hier ganz nachzulesen.
So ähnlich geht es mit dem Wort Katarakt. Kenn ich das schon? Habe ich das gerade mit ›Trakt‹ verwechselt? Gibt es das Wort überhaupt? Gibt es. Die Katarakt bezeichnet eine krankhafte Trübung der Augenlinse. Der Katarakt kann für einen Wasserfall oder eine Stromschnelle stehen. Super Name für ein experimentelles Festival, so viel steht fest, weil wenn die Sicht trüber wird, das ist grundlegende Medienwissenschaft, dann werden andere Sinne schärfer, das Gehör zum Beispiel. Stromschnellen wiederum, und das lässt sich auch aufs Akustische übertragen, sind Verdichtungen, die die Kraft des Gesamtflusses spürbar machen.
Die große Nummer beim International Festival for Experimental Music dieses Jahr ist Christian Wolff, der wie sein Laudator Rzewski und Cornelius Cardew von der Revolutionierung der Kompositionstechniken – zum Teil gemeinsam mit John Cage – zum Versuch gelangte, die Musik selbst zu revolutionieren und die politische Dimension aufzunehmen. klub katarakt selbst ist weit gespannt, über den Pfeiler Neue Musik hinweg, genau so wie über die Pfeiler der amerikanischen Avantgarde des mittleren vorigen Jahrhunderts, immer auch an das Konzept Musik selbst stoßend, es befragend, während man den üblichen Rahmen der Präsentation von zeitgenössischer Musik hier und da durchbricht.
Die Komponisten Ernst Bechert, Jan Feddersen und Robert Engelbrecht sind künstlerische Leiter des Festivals, das dieses Jahr zum elften Mal stattfindet. Für VAN haben sie eine Playlist mit unverwüstlichen Inspirationen zusammengestellt.
Ernst Bechert
Fausto Romitelli: Professor Bad Trip, Lesson 1; Ictus Ensemble (Cypres, 2009)
Ein fantastischer Komponist, der leider viel zu jung gestorben ist, 2004, mit grade mal 41 Jahren.
Luciano Berio: Points On The Curve To Find; Ensemble Intercontemporain

Dieses Stück von 1974 hat mich zu Berio gebracht, von dem ich unglaublich viel gelernt habe. Eine rasante, energiegeladene Klangwelt, ständig fluktuierend – aber kein Ton ist willkürlich gesetzt, alles folgt einer am Anfang formulierten, ziemlich einfachen Regel.
John Cage: Music for Piano; Sabine Liebner (Neos, 2013)
Auf Sabine Liebners Konzert beim nächsten klub katarakt freue ich mich ganz besonders. Ein Kosmos an Farben im schwarzweißen Klavier.
Igor Strawinski: Trois pièces pour quatuor à cordes (1914); Alban Berg Quartett (EMI, 2001)
So leicht und witzig konnte Avantgarde im Jahr 1914 auch mal sein …
Jan Feddersen
Anton Webern: Bagatellen für Streichquartett op.9 (1913); Emerson Quartett

Hier in diesen frühen Stücken von Webern ist etwas zu finden, was am Anfang der neuen Musik steht: die Suche. Webern weiß nichts über Zwölftontechnik, einfach weil sie noch nicht existiert, aber er hat schon das Bewusstsein für eine (Aus-) Differenzierung der zwölf Töne und dazu sein ihm eigenes Denken, das jegliche überflüssige Beigabe ausspart.
John Cage: Music für Marcel Duchamp für präpariertes Klavier (1947); Boris Berman

Ein Klassiker für das präparierte Klavier, geschrieben für den Film Dreams That Money Can Buy von Hans Richter. Das Besondere hier ist die Bedeutung des Innehaltens und des Nachklangs.
Morton Feldman: Coptic Light (1986); Royal Concertgebouw Orchestra, Peter Eötvös

Feldmans spätes großes Orchesterwerk.
Phill Niblock: Harm (2003); Arne Deforce (Cello), Johan Vandermaelen (Aufnahme)

Phills Musik arbeitet besonders mit dem Raum (oder den Räumen), in dem sie gespielt wird. Man kann sie eigentlich nicht zuhause oder auf Kopfhörer hören. Durch die extreme Dichte mikrotonal auseinander liegender Töne entstehen sehr viele zusätzliche Töne, so dass dasselbe Stück in zwei verschiedenen Räumlichkeiten auch ganz anders klingen mag. Auf dem kommenden Festival wird Erik Drescher ein neues Stück von Phill spielen, das er vor zwei Wochen in Berlin uraufgeführt hat.
Robert Engelbrecht
Edgard Varèse: Amériques für Orchester

Ein Klassiker. Neue Musik, die einen auch körperlich mitreißt.
Charles Curtis: Ultra White Violet Light (1997)

Anstelle der schwer zugänglichen Musik La Monte Youngs hier ein Drone-Stück seines Schülers Charles Curtis. Der Cellist war schon oft bei klub katarakt zu Gast. Besonders in Erinnerung ist mir sein Solo-Abend 2010, wo er Stücke von Lucier und Feldman mit Machaut und anderer ›alter‹ Musik verband. Ende der 1990er lebte er in Hamburg und veröffentlichte diese Doppel-LP, deren Seiten frei kombiniert werden können. Für mich sehr wegweisend.
Christian Wolff: Burdock; Sonic Youth mit Christian Marclay, Jim O’Rourke, Takehisa Kosugi, William Winant und Christian Wolff, erschienen auf Sonic Youth, SYR 4: Goodbye 20th Century (1999)

Es ist ja schon ein Allgemeinplatz, aber Sonic Youth waren für mich vorbildlich darin, Rock-Strukturen, freie Formen, Pop-Melodien, Dissonanz und Noise mit einer Selbstverständlichkeit zu verknüpfen beziehungsweise dazwischen zu wechseln und so Unterscheidungen zwischen E- und U- obsolet zu machen. Hier interpretieren sie Christian Wolffs Burdocks mit illustren Gästen und dem Komponisten selbst. Besonders gefällt mir daran der elektrische Sound. Wir werden das zur Eröffnung ja auch spielen, und ich freue mich und bin sehr gespannt, wie unsere Version wohl klingen wird.
John Fahey: Red Pony; live in einer TV-Show 1969

Einer der ganz großen Gitarristen, der auf ganz andere Weise, aus der amerikanischen Folk-Tradition kommend, Grenzen aufhob. Dies ist eine vergleichsweise einfach gehaltene Version dieses Stücks, aber sie berührt mich sehr. ¶
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