»Messiaen ist hier nicht wirklich präsent, aber er hat eine große Präsenz in mir selbst.« Am 20. Juni 2016 hat Pierre-Laurent Aimard, Pianist und seit 2009 erster nicht-britischer Künstlerischer Leiter des Aldeburgh Festivals, den Catalogue d’oiseaux des französischen Komponisten im englischen Suffolk realisiert – an ungerwöhnlichen Aufführungsorten, unter anderem unter freiem Himmel – es war sein letztes Projekt für das Festival. Messiaens Sammlung von 13 Klavierstücken wurde in der Café-Halle der ›Snape Maltings‹, einer zum Konzertort umfunktionierten Mälzerei, aufgeführt. Von halb fünf am Nachmittag bis kurz vor Mitternacht konnte man am Ufer der Alde entlangschlendern und der Musik durch strategisch platzierte Lautsprecher lauschen. Wir picknickten und liefen auf den Hügel über dem Minsmere. Aimard brachte Messiaens Vogelgesang-Transkriptionen in einen fast zufälligen Dialog mit dem Geplapper der Drosseln und dem Krächzen der Raben, die am Himmel kreisten. Das letzte Konzert fand im Britten-Studio statt, wo alle Zuhörer auf dem Boden lagen und 30 Minuten dem Teichrohrsänger lauschten, während die Holzbalken an der Decke zunehmend zu einer Repräsentation des Transzendentalen wurden. Am nächsten Morgen, 10 Stunden nach dem Konzert, öffnete Aimard seine Tür für mich und sprach eine Stunde lang mit mir, während er seinen zweijährigen Sohn Arthur auf dem Arm hielt. In den Jahren seiner künstlerischen Leitung hat Aimard nicht nur immer wieder Messiaens reichhaltiges Werk ins Festivalprogramm eingebracht, er hat auch Pierre Boulez, Eliott Carter, George Benjamin, Benedict Mason und Julian Anderson eingeladen. All das lässt sich als ein künstlerisch-politisches Statement auffassen. Was nach dem Konzert passierte, ist reiner Zufall. Am 23. Juni fand das Brexit-Referendum statt, der 26. Juni war das Finale des Aldeburgh Festivals und Aimard verabschiedete sich. Er meinte, dass acht Jahre genug seien und dass es Zeit sei, Platz zu machen für eine neue Ära.

VAN: Warum sollte man jetzt den Catalogue d’Oiseaux spielen?
Pierre-Laurent Aimard: Sechzig Jahre, nachdem das Stück komponiert wurde, wird immer noch versucht, ungewöhnliche Rahmen für seine Aufführung zu finden. Das zeigt, dass dem Stück immer noch das Potenzial innewohnt, unsere Welt zu erneuern. Das ist auch der Grund, warum ich versucht habe, verschiedene Aufführungssituationen zu schaffen, die unterschiedlichen Timings folgten – denn das Stück selbst enthält unterschiedliche Konzepte von Zeit und Raum. Wir haben uns von Ort zu Ort bewegt, um diese verschiedenen Dimensionen wahrzunehmen.

Was bedeutet Messiaens Erbe für Musiker heute?
Ich kenne Messiaen seitdem ich zwölf bin. Ich stand Frau Loriod, seiner zweiten Frau, sehr nahe und er war der Pate meines ersten Sohnes. Ich habe mich seiner Musik immer sehr verbunden gefühlt und ich trage sie bei mir wie meine eigene DNA.
Was für mich immer inspirierend war, ist die unglaubliche und aufrichtige Spiritualität der Musik. Sie steht in engem Kontakt mit Messiaens Zeit, eine Zeit, die er selbst als ein neues Zeitalter aufgefasst hat. Er hat mit ihr eine neue Klangwelt erschaffen.
Wie kann man die Beziehung zwischen der Natur und der menschlichen Sprache im Catalogue d’Oiseaux verstehen?
Es gibt zwei Arten von Musik in diesen Stücken. Einmal ist da die Transkription des Vogelgesangs, auf der anderen Seite wird die Landschaft, die Atmosphäre und das Licht abgebildet. Letzteres passiert natürlich viel subjektiver. Manchmal werden die Vögel auch idealisiert dargestellt – das menschliche Element ist jedenfalls immer da. Der zentrale Punkt ist, dass er den Vogelgesang als Ausgangspunkt für eine Erneuerung der musikalischen Sprache nutzt.
Was ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen der Avantgarde des 20. und des 21. Jahrhunderts?
Unsere künstlerische Kultur gründet traditionell nicht auf Imitation oder der Weitergabe von Modellen, sondern auf deren Transformation. Je nach Epoche gab es mehr oder weniger starke Bezüge zur Vergangenheit und mehr oder weniger Bedarf nach neuen Dimensionen – einer Moderne. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, in der Messiaen seine Musik geschrieben hat, war ein großer Avantgarde-Moment. Heute leben wir in einer ganz anderen Zeit. Aber die Geschichte ändert sich permanent, sie verläuft in Wellen, wird unterbrochen. Unerwartete Umstände treten plötzlich ein, in denen Alt und Neu immer unterschiedlich ausbalanciert werden.
Zeitgenössische Musik wird von Leuten gemacht, die heute leben. Ich persönlich fühle mich eher angezogen von Leuten, die probieren, neue Wege im Umgang mit Sprache zu finden und dabei neue Ausdrucksmöglichkeiten kreieren. Ich interessiere mich mehr für Leute, die irgendwie versuchen, einen Ausdruck für ihre eigene Zeit zu finden, nicht für vergangene Epochen – Leute, die versuchen uns zu bereichern, uns zu leiten und uns Schlüssel zu unserem eigenen Leben zu geben.
Was war Ihre Vision, als Sie das Festival 2009 übernahmen?
Ich war vor allem überrascht (etwa: dass ich das machen konnte; d. Red), weil ich überhaupt keine Erfahrung hatte. Das Festival wurde von Benjamin Britten gegründet, einem strammen Konservativen. Man hat mich damals gebeten, diese Position zu übernehmen, obwohl ich eher dafür bekannt bin, dass ich mich für Avantgardemusik interessiere und ganz sicher nicht konservativ bin.
Ich hab es damals, wenn auch nur zum Teil, als meine Aufgabe begriffen, das Festival zu modernisieren und zu europäisieren, Künstler aus der Mitte Europas zu holen und auch den britischen Künstlern Aufmerksamkeit zu schenken, die vorher nicht im Festival involviert waren.

Haben Sie das umsetzen können?
Am Anfang habe ich gleich vier Künstler hierher gebracht, die meine künstlerische Politik symbolisch repräsentierten. Da gab es Pierre Boulez, der vorher so etwas wie der Teufel für diese Institution war, weil er für eine komplett andere Welt stand. Dann war da George Benjamin, der für fast zwei Jahrzehnte nicht mehr auf dem Festival war. Matthias Goerne habe ich für drei Schubert-Abende, die hier große Tradition haben, von außen geholt. Als ich 2009 bei der Pressekonferenz verkündet habe, dass Boulez kommen wird, haben erst einmal alle geschluckt. Offensichtlich geschah das also genau zum richtigen Zeitpunkt.
Im Jahr 2014 haben Sie sich einige Zeit freigenommen, bevor sie das Wohltemperierte Klavier aufgenommen haben. Was haben Sie während dieser Monate gemacht?
Ich hatte mir schon lange gewünscht, mir einmal für längere Zeit freizunehmen. Das war damals genau der richtige Moment dafür, mir ein Jahr zu nehmen und ein anderes Leben zu führen. Ich hatte mich damals dazu entschlossen, das in einem anderen Kontext zu machen. Ich war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Es war faszinierend, dort Biologen, Mathematiker und Historiker zu treffen und ein Jahr mit ihnen zu verbringen. Das war einer der wichtigsten Momente in meinem Leben, weil es ein Moment des Innehaltens war, der dazu führte, dass ich besser verstand, was im Leben sonst noch wichtig ist.

Was ist im Leben sonst noch wichtig?
Es hat Priorität, jeden Tag andere Prioritäten zu finden. Für einen Künstler kann das manchmal eine sehr intuitive Sache sein – so eine Frage lässt sich dann nicht in einem Satz beantworten. Man muss mit seiner eigenen Essenz im Kontakt sein, versuchen, so unabhängig wie möglich zu sein in einer Welt, in der man laufend manipuliert wird.
Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt, mit dem Sie 2003 die Klavierkonzerte von Beethoven aufgenommen haben?
Harnoncourt hat sich mit seinen Interpretationen sehr stark kreativ positioniert. Er war damals auf der Suche nach einem Solisten, der diese Konzerte nicht schon hunderte Male gespielt hatte – und das war bei mir der Fall. Ich wollte erst mit etwa 40 anfangen an diesem Repertoire zu arbeiten, weil ich dachte, dass man dafür eine gewisse Reife bräuchte. Die Anfrage kam dann auch ungefähr zu diesem Zeitpunkt. Er wollte jemanden mit einem frischen Blick, jemanden, der keine Routine mit diesen Stücken hatte.
Weil ich viel Neue Musik mache, gehe ich auch ältere Sachen mit einer etwas anderen Herangehensweise an. Ich habe nicht das Ziel, die Routinen von allen Kollegen zu imitieren, die sich über Jahrhunderte mit dieser Musik beschäftigt haben, Interpretationen, die manchmal gut und manchmal sehr schlecht sind. Das ist dann oft mehr eine Art kollektive Angewohnheit als ein persönliches Statement. Mich interessiert der ganz persönliche Prozess der Reflexion, wenn man vor dem Manuskript sitzt. Denn das ist es, was wir tun, wenn wir uns einer neuen Partitur nähern. Das ist es auch, was mich interessiert, wenn ich Musik spiele, die ganz oft gespielt wird.
Vorletztes Jahr haben Sie eine Website auf den Weg gebracht, die Pianisten helfen soll, Györgi Ligetis Klavierwerke zu lernen. Wie steht es mittlerweile um das Projekt?
Ich hatte Unterricht bei Ligeti, seit ich angefangen habe Klavier zu spielen. Da ich dem Komponisten so nahestand, denke ich, dass es meine Pflicht ist, die Essenz seines Werkes zu vermitteln. Er ist einer der inspirierendsten Künstler seiner Zeit, geprägt von großer Originalität und Kommunikationsfähigkeit. Das ist ein laufendes Projekt – wir haben mittlerweile Aufnahmen von einem Drittel der Werke, die online verfügbar sind und ich hoffe, dass wir Geld finden, um weitermachen zu können.
Haben Sie eine Beziehung zu Musik außerhalb der westlichen klassischen und zeitgenössischen Musik?
Leute in der akademischen Welt betrachten die westliche Musik als die wichtigste Kultur der Welt. Das ist eine imperialistische Sichtweise, sehr destruktiv und arrogant. Sie ist nur eine von vielen Kulturen auf dieser Welt. Unsere Welt ist viel reicher, wenn wir viele Kulturen mit allen möglichen Unterschieden anerkennen.
Folklore kann viel Genuss bereiten und man kann viel davon lernen – gleichzeitig sind wir uns immer bewusst, dass diese Musik irgendwann einmal verschwinden könnte. Wir leben in einer Zeit, in der nicht nur die Natur gefährdet ist, sondern auch menschliche Kulturen. Es ist wichtig, dieser Musik Aufmerksamkeit zu schenken, nicht nur, um unsere eigene kulturelle Welt für sie zu öffnen, sondern auch, um dazu beizutragen, dass diese Musik bekannt wird und nicht verschwindet.
Ich habe mich immer der polyphonen Musik Zentralafrikas, der Musik der Pygmäen sehr verbunden gefühlt – damit habe ich auch einige Konzerte gemacht. Auch der Musik aus Georgien, wo es eine großartige polyphone Tradition gibt. Ich habe einige Male mit einer Gruppe von dort zusammengearbeitet. Man kann vieles in dieser Richtung machen, es darf aber nicht oberflächlich werden. Wenn wir keine globale ›Kultur‹ wollen, müssen wir Originalkulturen erhalten. Es gibt noch viel zu tun. ¶