Oksana Lyniv ist keine, die darauf wartet, dass man ihr Fragen stellt. Oksana Lyniv fängt an zu erzählen. Und sie erzählt das, was ihr wichtig ist. In dieser forschen, ja fast etwas überfallartigen Gesprächskultur offenbart Lyniv etwas, das in ihrem Job prägend ist: Lyniv übernimmt die Führung. Unsympathisch ist das in ihrem Fall nicht. Vielmehr ist ihr Mitteilungsbedürfnis eher von einer Euphorie und Begeisterung getrieben als von Machtbewusstsein.
Auch ästhetisch reiht sich die 1978 im ukrainischen Brody geborene Musikerin, die gerade ihre erste Saison als Chefdirigentin der Oper Graz hinter sich hat, in die Riege jüngerer Dirigenten ein, deren berühmteste Vertreter derzeit wohl Andris Nelsons und Kirill Petrenko sind. Diese Musiker gehören weder der kühl-analytischen Schule noch der dominanztrunkenen Karajan-Prägung an. Enthusiasmus, Emotionalität und musikalische Transparenz mischen sich hier mit großem Respekt vor den Orchestermusikern. Heraus kommt warme, greifbare Musik ohne Überwältigungssucht, die dennoch berührt.
Als Oksana Lyniv 2015 mit La traviata in München ihr Debüt gab, war das nicht nur in der Musik spürbar. Sie, damals musikalische Assistentin an der Bayerischen Staatsoper, applaudierte beim letzten Vorhang als Dirigentin ihrer Solistin Ermonela Jaho. Eine Geste, die die Sicherheit auch für das Publikum sichtbar machte, die Lyniv Jaho zuvor musikalisch gegeben hatte und die es Jaho ermöglichte, sich ohne Rückhalt in die Rolle der Violetta zu werfen.

Drei Jahre später erinnert sich Lyniv noch an diese Vorstellung; auch, weil die Traviata sowieso ein Stück ist, das sie begleitet. Etwa zu ihrem Probe-Dirigat nach Graz. »Das ist kein einfaches Stück, auch, weil es alle so gut kennen«, sagt sie. In Graz spielen sie eine »besonders sensitive Traviata, inszeniert von Peter Konwitschny«, da müsse man am Klang arbeiten, um die Komplexität der Musik erfahrbar zu machen. Das ist ihr gelungen, die Grazer waren überzeugt von ihrer Traviata, das Orchester mochte sie und sie mochte das Orchester. Sie wechselte vor einem Jahr, im Herbst 2017, in die steirische Hauptstadt. Damit zerschlug sich die sowieso sehr geringe Hoffnung, dass Lyniv Petrenko nach dessen Wechsel zu den Berliner Philharmonikern als Generalmusikdirektorin in München ablösen könnte.
Im Gespräch mit Lyniv nach ihrer ersten Saison in Graz ist spürbar, wie sehr sie an der Verantwortung der Chefposition gewachsen ist. Wie sicher sie sich fühlt mit dem, was sie da tut. Sie weiß, was sie will und sie kann das auch formulieren. Dieser Aspekt wird beim Job des Dirigenten oft vergessen. Es geht nicht nur um Führung und Dominanz, um Visionen und Interpretationen. Es geht auch viel darum, all das anderen Menschen, ja anderen Künstlern zu vermitteln. Verbal.
Das kann Lyniv. Sie redet über Musik. Sie erklärt die Werke, ihre Ideen, ihre Ziele. Wenn sie ein Musikstück erwähnt, etwa die zweite Symphonie von Karol Szymanowski, mit der sie gerade ihre zweite Saison in Graz eröffnet hat, kommt sie nicht umhin, die Musik schnell einzuordnen. In dieser Symphonie etwa liege der Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts, aber auch der Impressionismus eines Debussy. Sie hört darin auch die flirrende und fransende Spätromantik von Richard Strauss, das mache die Musik kompliziert. Sie müsse mit klaren Punkten versehen werden, damit die Hörer ihr folgen können und das vor allem auch wollen. In Graz sei das jedoch viel schwieriger als in München. In München sei das Publikum geschulter im Umgang mit moderner Musik, die Grazer seien »konventioneller«.
Bevor sie zur Spielzeit 2013/14 mit Kirill Petrenko an die Bayerische Staatsoper kam, war sie stellvertretende Chefin am Opernhaus in Odessa. Graz ist ihr erster Chefposten. Petrenko, der sie von Odessa nach München geholt hatte, habe ihr zu Beginn ihres dortigen Engagements gesagt: »Pass auf, in zwei Jahren kommen die ersten Angebote für Chefpositionen.« Die Prophezeiung erfüllte sich, Lyniv, die in Lviv studiert hat, 2003 den dritten Platz beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb der Bamberger Symphoniker machte und im Anschluss dort Assistentin von Jonathan Nott wurde, bekam Angebote aus Karlsruhe und Graz. Dass sie sich letztlich für Österreich entschied, hat eher pragmatische Gründe: Die Zusage von dort kam schneller und sie musste mit möglichen Vertragsverlängerungen und Kündigungsfristen hantieren. Jetzt sei sie dort, trotz des konventionelleren Publikums, sehr glücklich. Und dieses hindere Lyniv auch nicht daran, Programme zu gestalten, die in die Moderne blicken. Im Gegenteil. Denn für die hat sie – neben der Oper und dem Musiktheater – ein großes Faible.
Zum Eröffnungskonzert ließ sie Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 auf Szymanowski, dessen Oper Król Roger dann im Februar in Graz Premiere hat, treffen. Quasi Zuckerbrot und Peitsche für das Publikum. Sie lacht, während sie das erzählt; auch weil es funktioniert. Man habe ihr vorher gesagt, dass das Publikum nach dem Rachmaninow gehen würde. Doch es blieb und es sei auch nur drei Mal gehustet worden. Das Publikum habe die Haltung »jetzt kommt das schwierige Stück« eingenommen und dann höchst konzentriert zugehört, erzählt sie zufrieden.
»Bei moderner und neuerer Musik ist es wichtig, dass die Ideen der Musik beim Publikum ankommen«, erklärt sie. Dazu gehöre ihr intensives Partiturstudium im Vorfeld genauso wie die Vermittlung der Spannung dieser Musik an das Orchester: »Das 20. Jahrhundert braucht eine genaue Interpretation.« Die Einspielungen, die man etwa zum Szymanowski auf Youtube finde, sind ihrer Meinung nach jedoch nicht die »ideenreichsten«. Deshalb müsse sie nah und eng mit ihren Musikern zusammenarbeiten, damit diese eine Vision des eher unbekannten Stücks bekommen, die über die Youtube-Beispiele hinausgehen.

Hier greift Lynivs neue Position. Sie tritt nicht als Gast vor dieses Orchester, dem sie dann in drei Proben ihre Ideen oberflächlich beibringen kann. Sie ist Chefin. Es geht also um Klangformung und längerfristige Visionen. »Die Chefposition fühlt sich gut an«, sagt sie. Nicht nur, dass sie nun bei den Programmen der Saison mitredet, auch das Ausformen des Orchesters sei ihr wichtig: »Das ist ein tolles Orchester«, sagt sie, erzählt aber auch: »Es hat sich schon im Klang umgestellt, früher hat es mehr auf Kraft gesetzt, jetzt spielen die Musiker feiner.«
Hier klingt nicht nur die Schule Petrenkos durch, sondern auch der Wille Lynivs zur Führung: »Wir haben kein eigenes Instrument, das Klang erzeugt, das Orchester ist unser Instrument. Wir müssen den Musikern unsere Ideen so vermitteln. So, dass sie sie umsetzen können und auch wollen.«
Mirga Gražinytė-Tyla ist Chefin in Birmingham. Joana Mallwitz in Nürnberg. Lyniv in Graz. Ariane Matiakh wird es ab der kommenden Spielzeit in Halle sein. Doch weibliche Dirigier-Vorbilder sind immer noch rar. Lyniv freut sich, wenn junge Musikerinnen sie kontaktieren, sie besetzt dann auch immer wieder bewusst Frauen als Assistentinnen oder Hospitantinnen. »Da gibt es bei vielen immer noch eine innere Blockade, auch weil es so wenig Vorbilder gibt«, sagt sie. Doch Dirigieren lebe vom Impetus. Und dafür müsse man frei sein und dürfe keine Angst haben. Das sei rein psychologisch. Als Dirigent müsse man scharf und klar formulieren, was man möchte. »Die Fähigkeit dazu liegt nicht am Geschlecht sondern an der Kommunikation«, sagt sie.
Das Opernhaus Graz hat da gerade Vorbildcharakter: Die Leitung hat mit Intendantin Nora Schmid, Ballettdirektorin Beate Vollack und Oksana Lyniv als Chefdirigentin ein weibliches Triumvirat inne. »Und das in Österreich«, sagt Lyniv und grinst. Bis 2020 läuft ihr Vertrag dort noch, was danach kommt wisse sie noch nicht. Bis dahin aber stehen diverse Debüts an Opernhäusern und bei Orchestern weltweit an. Und die Arbeit mit ihrem Jugendorchester. 2016 gründete sie das Youth Symphony Orchestra of Ukraine. 70 Musiker aus der ganzen Ukraine spielen dort. »Dieses Land braucht ein Gefühl der Einigkeit, das ist die neue Generation, das sind die neuen Botschafter aus diesem Land.« Ästhetisch und musikalisch bleibt sich Lyniv jedoch auch bei den jungen Musikern treu. Beim Berliner Konzert des Orchesters standen Tschaikowsky und Beethoven sowie die deutschen Erstaufführungen der modernen und zeitgenössischen ukrainischen Komponisten Vitaliy Hubarenko und Yevhen Stankovych auf dem Programm. ¶