Kognitiver Juckreiz
Ohrwürmer

Text Volker Schmidt · Foto id-iom (CC)

 

Unwillkürliche musikalische Imagination nicht so harmlos wie viele meinen.
Neulich im Großraumbüro. »Bing«, E-Mail: »The Song The Final Countdown is now playing in your head«. Es ist eine Massenmail an alle KollegInnen, Office Spam. Prompt wippen Fußspitzen, mancher summt mit: »Dadadaaada, dadadadada«. Der wirtschaftliche Schaden, den solche Sabotage anrichtet, die Kosten nicht gefasster Gedanken und verzögerter Produkte, wurde bisher leider nie beziffert. 


Die Deutschen nennen es »Ohrwurm«, wenn ihnen Musik hartnäckig im Kopf herumgeht. In Großbritannien kennt man den Plagegeist als »earworm«, spricht aber auch vom »sticky tune«, der klebrigen Melodie. Franzosen plagt »musique entêtante«, hartnäckige Musik, Italienerinnen gar das »canzone tormentone«, das quälende Lied. Wissenschaftler nennen das Phänomen »kognitiven Juckreiz«, »Steckengebliebenes-Lied-Syndrom« oder »involuntary musical imagery (INMI)«, etwa »unwillkürliche musikalische Imagination«. 

Nun könnte man süffisant resignieren: Liegt alles an der Dauerbeschallung unserer Zivilisation, an Büroradio, Supermarktberieselung und Werbejingles. Aber das Phänomen taucht nicht erst mit der Erfindung von Schallplatten und Tonbändern auf. Mark Twain veröffentlichte schon 1876 die Kurzgeschichte A Literary Nightmare, in der eine ganze Gesellschaft von einem eingängigen Liedchen ergriffen wird. Einem gedruckten.


Going Gaga: Investigating, Creating, and Manipulating the Song Stuck in My Head.


Vor allem die eher schlichten Melodien springen uns aus dem geringsten Anlass oder scheinbar völlig aus dem Nichts in die Köpfe, das zeigen Studien. Wer allerdings unter dem Tristan-Akkord als Ohrwurm leidet, sollte sich als rares Exemplar bei Ira Hyman von der Western Washington University melden. Seinen Ergebnissen zufolge spielen Harmonien kaum eine Rolle. Am lebendigsten im inneren Ohr ist demnach die Melodie eines Songs, und am häufigsten tauchen Refrains auf. Seine Studie heißt Going Gaga: Investigating, Creating, and Manipulating the Song Stuck in My Head.

Tröstlich ist, dass es in der Regel Lieblingsstücke sind, die zur Dauerschleife taugen. Dass wir sie trotzdem so nervig finden, erklären sich Wissenschaftler damit, dass sie wegen ihrer Hartnäckigkeit sozusagen rückwirkend bei den unbeliebten Songs eingeordnet werden. Das ist die eine These; die andere: Es fällt uns einfach mehr auf, wenn uns ein ungeliebtes Lied attackiert.

Der finnische Forscher Lassi Liikkanen befragte mehr als 10.000 Menschen zum unsichtbaren Lautsprecher im Kopf. 91,7 Prozent sagten ihm, sie erlebten mindestens einmal pro Woche einen Ohrwurm, ein Drittel einmal am Tag, ein Viertel mehrmals am Tag. Die australische Oboistin und Musikologin Freya Bailes rief Probanden zu zufälligen Zeiten an und fand so heraus, dass die lästigen Viecher vor allem dann auftreten, wenn wir gerade Zeit überbrücken, etwa in einer Warteschlange.

Und wie funktioniert nun ein Ohrwurm? Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie in Hannover erklärt ihn als eine Art Kurzschluss zweier Hirnregionen. Ausgelöst werde das Lied im Kopf oft durch die Erinnerung an die Situation, in der es lief, sagt der Neurophysiologe. Schlicht gesagt: Wer an einen Schulkameraden zurückdenkt, hat plötzlich das Live-Is-Life-Gewummer von der Abi-Party im Ohr: »Live – na naaa na na na …«. 

Weniger schlicht schildert Marcel Proust in Eine Liebe von Swann, wie Charles Swann nach dem ersten Treffen mit seiner Odette immer wieder die »Kleine Sonate« des fiktiven Komponisten Vinteuil hört, wenn er an die Frau denkt. Proust schrieb in einem Brief, eine »charmante, aber mittelmäßige Phrase aus einer Violinsonate von Saint-Saëns« habe ihn zu diesem Motiv inspiriert.


»Diese Musik! Sie ist hier in meinem Kopf! Schützt mich vor ihr!«


Auch eine Machart der Popindustrie könnte dazu beitragen, Songs im Kopf zu verankern: der Fadeout, das Ausblenden am Ende eines Liedes. Ohne amtlichen Schlussakkord bleibt ein Lied unvollendet und spukt im Kopf weiter wie der Geist eines Mordopfers aus einer Gruselgeschichte auf der Suche nach einem friedvollen Ende. Das liegt am Zeigarnik-Effekt, der Tatsache, dass uns unterbrochene Gedanken und unvollendete Aufgaben unbewusst beschäftigen. Die litauische Psychologin Bluma Zeigarnik hat das Phänomen 1927 an der Universität Berlin, der heutigen Humboldt-Uni, erstmals beschrieben, drei Jahre, bevor der amerikanische Bigbandleader George Olsen die erste Single durch Herunterfahren eines Reglers am Mischpult enden ließ.

Für manche Menschen sind Ohrwürmer mehr als nur ein kleines Ärgernis. Peter Tschaikowski soll als Kind schon weinend im Bett gesessen und gejammert haben: »Diese Musik! Sie ist hier in meinem Kopf! Schützt mich vor ihr!« Robert Schumann litt an »Gehöraffektionen«, ihm raubten Akkorde und ganze musikalische Stücke den Schlaf – Symptom einer möglicherweise durch Syphilis ausgelösten psychischen Störung. Auch Drogenkonsum kann die Schleife im Kopf bis in den Wahnsinn verstärken.

Über Dmitri Schostakowitsch hält sich die Legende, dass ihn während der Belagerung von Leningrad ein Granatsplitter in den Kopf traf. Fortan hörte er jedes Mal, wenn er den Kopf schief hielt, Musik. Richtete er ihn gerade, stoppte die Musik wieder. Für einen Komponisten kann so etwas nützlich sein: Schostakowitsch ließ den Splitter angeblich nie entfernen. 

Der populäre Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Musicophilia (2007; deutsch als Der einarmige Pianist) viele solcher Fälle zusammengetragen. Der wohl kurioseste ist der des Orthopäden Tony Cicoria, der 1994 nach einem Blitzschlag eine plötzliche Gier danach entwickelte, Klaviermusik zu hören und – trotz mäßiger Vorkenntnisse auf dem Klavier – auch selbst zu spielen. Insbesondere einige Stücke von Chopin bekam er nicht mehr aus dem Kopf. Bald hörte er auch neue Werke im inneren Ohr, und seit 2007 tritt er als Komponist und Pianist öffentlich auf. 


»Hör Musik, die du magst, dann suchst du dir deine Ohrwürmer selbst aus.«


Zumindest Menschen, die nicht von Syphilis, Granaten oder Blitzen getroffen wurden und schulmedizinisch als gesund gelten, tragen eine Mitverantwortung für die Playlist in ihrem Kopf: Laut Ira Hyman ist jemand, der selten gezielt Musik hört, besonders anfällig für Melodieattacken aus der Umgebung, aufdringliche Werbejingles etwa. Hyman empfiehlt: »Hör Musik, die du magst, dann suchst du dir deine Ohrwürmer selbst aus.« D
ie Website unhearit.com bietet auf dieser Basis erste Hilfe gegen Wurmbefall: Die dort beschworene neueste »reverse-auditory-melodic-unstickification technology« besteht darin, den Ohrwurm durch eine andere eingängige Melodie zu ersetzen – ist aber ein Marketinggag für eine ganz gewöhnliche Musik-Abspiel-Seite.

Was wirklich hilft, wenn der Wurm wimmelt, ist Konzentration. Das Untier fühlt sich im entspannten Hirn am wohlsten. Also, den Denkapparat beschäftigen, aber nicht zu sehr: Das Musikmonster kann auch auftauchen, wenn wir uns an schwierigen Aufgaben einen Teil unserer grauen Zellen ausbeißen. Die unbeschäftigten schalten dann auf Automatik und sind der Dudelattacke ausgeliefert. James Kellaris von der Universität von Cincinnati, der Anti-Ohrwurm-Methoden im Menschenversuch erprobt hat, empfiehlt deshalb das Lösen von mittelschweren Sudokus. 

Noch zu testen wäre, in welchem Maße das gezielte Hören eingängiger, aber anspruchsvoller Musik zur Immunisierung taugt. Mein Geheimrezept: Jesus bleibet meine Freude. Die Triolen (in meinem Ohr mit der Oboe von Albrecht Mayer besetzt, aber darauf kommt es nicht an) kleben gerade gut genug, um jeden Plagegeist zu verjagen, aber nicht so lange, dass es lästig würde. Alles ist besser als »… the final countdown, dadadaaada, dadadadada«. (Kleben geblieben? ‚tschuldigung.) ¶