»Du kannst mich jederzeit anrufen, ich kann doch immer«, sagt mein Vater und lacht. 

Ich will mit ihm, dem ehemaligen Orchestermusiker, über Carl Nielsen reden. Mein Vater ist Däne, 70 Jahre alt, und hat einen Großteil seines Lebens hinter dem Pult der 1. Oboe im Odense Symfoniorkester auf der Insel Fünen verbracht. Mit dem ›Carl Nielsen Philharmonic‹, wie sich das Orchester auf Auslandsreisen nennt, hat er alle Orchesterwerke Nielsens aufgeführt, alle Sinfonien aufgenommen, das Violinkonzert 38 Mal, »nein, öfter«, sagt er, aufgeführt. Nicht nur in Dänemark, sondern auch in Europa, China, Russland, den Vereinigten Staaten. Mittlerweile ist er Rentner und lebt mit meiner deutschen Mutter und dem Hund Flocke im Norden Schleswig-Holsteins.

Wir sind also zum Skypen verabredet, und als ich ihn anrufe, müssen wir das Gespräch doch noch um eine halbe Stunde verschieben, denn er backt gerade Brötchen.

Ich beginne mit der Frage, welches Werk Carl Nielsens er für das Beste hält. Unbeantwortbar natürlich. Mein Vater überlegt trotzdem und nennt als erstes die 4. Sinfonie, Det Uudslukkelige (»Das Unauslöschliche«). Aber dann zögert er und beginnt gegenüber den anderen fünf Sinfonien abzuwägen, um festzustellen, dass er sich nicht entscheiden kann.

Es ist schwer, das kann ich nicht sagen … Also zum Beispiel Fynsk Foraar, diese kleine Kantate, ist ja so unprätentiös, aber voller Herzlichkeit – auch herrlich …

Damit zeigt sich schon ein Gegensatz, der das Werk Nielsens prägt: einerseits eine Vorliebe für alles liebliche, ländliche, andererseits eine Orchestermusik, die an den kühnsten Stellen wirklich modern ist, kantig, hart, oder, wie mein Vater sagt, schroff. 

Aber ist er nicht auch naiv?

Er ist sehr naiv. Aber bewusst naiv. Seine Philosophie war ja, so simple Melodien zu schreiben wie möglich, so, dass alle mitsingen konnten. Und das haben sie ja auch getan. So ist er zum dänischen Allgemeingut geworden.

Auch ich bin mit den Liedern Carl Nielsens aufgewachsen, so richtig wird mir das erst jetzt bewusst. Nielsen ist mit seinen Liedern in Dänemark so präsent, dass es gar nicht mehr auffällt. Wir haben im Kindergarten seine Lieder gesungen, danach im Gymnasium; am liebsten habe ich immer das melancholische Lied von »Jens Vejmand« gesungen, in dem ein armer Greis seinen geringen Lohn damit verdienen muss, die Steine für den Straßenbau zurecht zu schlagen. 

Das Lied ist, vergleichbar mit dem deutschen Lindenbaum (Schubert) oder Guten Abend, gut’ Nacht (Brahms), in den dänischen Volksmund übergegangen, genau wie viele weitere Lieder Nielsens. Umso interessanter ist, dass Nielsen es in Dänemark zunächst nicht leicht hatte.

Mein Vater: Er war ja auch bahnbrechend. Sein Klarinettenkonzert ist total wild, mit der Kleinen Trommel, die einfach macht, was sie will.

Also einerseits hat er diese schlichten Melodien geschrieben, die ja überaus beliebt geworden sind, und andererseits ist er dieser moderne Komponist, der völlig rücksichtslose Orchestermusik schreibt?

Ja, ich finde wirklich, dass das Klarinettenkonzert modern ist. Gleichzeitig hat er aber auch nie seine Wurzeln verraten. Irgendwie spielt die Zeit, in der er Spielmann war, in seiner Musik auch immer eine Rolle.

Nielsen ist auf dem Land auf Fünen aufgewachsen, hatte elf Geschwister, von denen einige noch als Kinder starben; sein Vater war ein Maler, der sich als Dorfmusikant etwas Geld dazu verdiente. Der kleine Carl hörte seinem Vater zu, wie dieser auf Festen spielte, und wurde im Alter von 14 Jahren selber Mitglied in einer Militärkapelle. Später studierte er dank eines Stipendiums Violine am Konservatorium in Kopenhagen. Nielsen beschreibt in seiner Autobiografie die Armut seines Elternhauses und wie seine Mutter sich für ihre Kinder aufopferte, um dem Hunger zu entgehen. 

In seinen Werken äußert sich diese Herkunft einerseits in sozialkritischen Liedern, andererseits auch in der schwärmenden Verklärung der Landschaften Fünens und generell Dänemarks. Beliebt war er dadurch trotzdem noch lange nicht, vor allem nicht bei den Kritikern des Landes. 

Man sagt ja oft, dass seine Instrumentation klobig und komisch ist, und das stimmt vielleicht auch, aber die kleinen Melodien sind wirklich gut. Aber ganz klar gibt es Dinge in seinen Stücken, die den Leuten damals nicht gefallen haben. Zum Beispiel der Anfang des Violinkonzerts, der ist sehr komisch. Ich hab das so oft gespielt, aber man muss das wirklich mögen, man muss sich daran gewöhnen.

Nielsen wurde bald nach seinem Studium Geiger in der Königlichen Kapelle, dem herausragenden Orchester des Landes. Die Karriere als Komponist trieb er zunächst nur nebenbei, aber umso konsequenter voran, und gelegentlich dirigierte er. Das Orchester führte schon in seiner Zeit bei den 2. Violinen einige seiner Werke auf; unter den Musikerkollegen stieß das nicht nur auf Wohlwollen. Später wurde er einer der hauptamtlichen Dirigenten des Orchesters. 

Wie siehst du denn als Oboist Nielsens Musik?

Ich finde die sehr gut. Es gibt in den Sinfonien viel zu spielen und es ist gut geschrieben. Das Bläserquintett ist auch wirklich sehr gut, ich kenne kein besseres aus der Zeit. Das einzige Problem daran ist, dass man das Englischhorn für den letzten Satz warmhalten muss. (Mein Vater lacht.) 

Gibt es denn etwas, das dir an seiner Musik nicht gefällt?

Nein, also ich bin seine Musik ja so gewohnt, bin ja mit ihr aufgewachsen. Huch, jetzt muss ich mal zum Ofen und nach meinen Brötchen gucken.
(Der Ofen piept, mein Vater unterbricht das Gespräch.) Die brauchen noch eine Minute. Wo war ich? Ach ja. Also, seine Lieder waren regelrechte Landplagen, Hvem sidder der bag skærmen oder Jeg ved en lærkerede … in meiner Generation kennt man die alle. Wie das heute ist, weiß ich nicht. Aber selbst jüngere, Kim Larsen oder Shu-bi-dua haben ja Carl Nielsen mit großem Erfolg gesungen.

Kim Larsen ist eine Art dänischer Herbert Grönemeyer, Shu-bi-dua eine Popband, die in den 80ern und 90ern ihre größten Erfolge hatte. Dass Popgrößen des Landes Nielsen-Lieder adaptieren, spricht für die musikalische Qualität der Lieder und dafür, dass die vertonten Texte noch immer aktuell sind. Sie sind teilweise explizit nationalistisch, aber nicht militaristisch. In den Jahrzehnten nach 1864, nach der verheerenden Niederlage gegen Preußen und Österreich, war Militarismus nicht wohlgelitten. Im 1. Weltkrieg blieb Dänemark dann auch neutral. In den Liedern und Chorälen Nielsens steht folglich eher das empfindsame, von der Natur angerührte Individuum im Mittelpunkt. Ein immenser Kontrast hierzu bildet seine Orchestermusik, die vor Expressivität nur so strotzt. 

Mein Vater und ich beginnen darüber zu reden, wie man Nielsen einordnen könnte. Dass Nielsen es zunächst so schwer hatte, lag daran, dass er schon von Anfang an eine ganz eigene Position eingenommen hat. Lange-Müller oder Gade, die damals dominierenden Komponisten, schrieben im Grunde in der deutschen Tradition, ohne etwas Originelles zu schaffen. Nielsen machte von Anfang an etwas ganz Eigenes, ich weiß nicht, mit wem man ihn vergleichen könnte. Ich glaube, dass hat es ihm am Anfang auch erschwert.

Ich glaube, dass das bis heute das ganze Problem Nielsens ist. Seine Musik ist speziell – aber irgendwie auch nicht so speziell, dass sie eine völlig eigene Stellung einnehmen könnte, wie Strawinski oder Schönberg.

Er ist ja auch älter, und die Herkunft spielt da sicher auch eine Rolle. Was man aber sagen kann, ist, dass er sich immer treu geblieben ist, und sich nicht darum geschert hat, was andere gemacht haben. Wenn man die 1. und die 6. Sinfonie miteinander vergleicht, dann ist das ein himmelweiter Unterschied. Vergleicht man ihn zum Beispiel mit Richard Strauss, muss man sagen, dass Strauss  viel weniger experimentierfreudig war. Nielsen dagegen hat immer wieder neue Dinge ausprobiert.

Und im Vergleich mit anderen skandinavischen Komponisten?

Nielsen ist ohne Zweifel der größte dänische Komponist … Ich weiß natürlich, dass Sibelius und Grieg vielleicht berühmter sind, aber mit denen ist er auf jeden Fall auf Augenhöhe. Obwohl der Vergleich mit Grieg vielleicht etwas unfair ist, er ist ja älter und deshalb auch konservativer. Ich will jetzt nicht schlecht über Grieg reden, das ist süße Musik. Aber Grieg ist nicht gefährlich.

Und Nielsen ist gefährlich?

Carl Nielsen ist gefährlich, oft sogar. Zum Beispiel im Klarinettenkonzert, wo die Kleine Trommel ausrastet. Oder wie er die Klarinette auswringt wie einen Wischlappen, er ringt da um jeden Ton. Er hat da eine Kühnheit, die man einem Bauernjungen von Fünen nicht unbedingt zutrauen würde. Und diese Wildheit hat Grieg ja gar nicht. Sibelius hat da schon mehr mit ihm gemein. Nielsen hat niemals ein Stück geschrieben und danach einen Titel darauf geklebt. Er wollte jedes Mal etwas wagen.

Mein Vater ist beeindruckt von der Sturheit Nielsens. Wahrscheinlich hat diese Eigenschaft ihm auch dabei geholfen, seine sinfonischen Konzepte so stringent umzusetzen. Mir fällt bei der Durchsicht der Sinfonien auf, dass er tatsächlich ein grandioser Konstrukteur ist. Gelegentlich ist seine Musik polyphon, er spielt mit Fugati, aber sowohl Kontrapunkte als auch Themen sind oft so krude, vertrackt und schlenkernd, dass ich mir als Jugendlicher nicht sicher war, ob da ein Dilettant oder ein Genie zu Werke ist. Heute fällt mir auf, dass es in den späteren Sinfonien Elemente gibt, die später im 20. Jahrhundert noch viel bedeutender werden würden: Die 5. Sinfonie (1921–22), die aus zwei Sätzen besteht, ist eher in Texturen instrumentiert als in klassischer Manier, in der die Instrumentation nur Ausschmückung von Harmonik und Melodieführung ist. Die Kleine Trommel spielt teilweise in einem anderen Tempo als das übrige Orchester; ein Effekt, der an Charles Ives erinnert, und den Schostakowitsch später aufgriff. Der letzte Satz der 6. Sinfonie, die zwar »gemäßigter« ist, als die 5., ist »Tema con variazioni« überschrieben, nimmt sich aber vielmehr wie eine wüste Collage aus. Die dritte Sinfonie beginnt mit der 26-maligen Wiederholung des Tons a.

Die Erfahrung, sich durchkämpfen zu müssen, um sich durchzusetzen, steckt in dieser Musik. Nielsen hat das mit dem anderen großen Füner, Hans Christian Andersen, gemein. Andersen ist später weltbekannt geworden, aber Nielsen ist nur weltberühmt in Dänemark, wie mein Vater sagt. Der Ofen piept wieder, færdig, bumm. Er zeigt mir über die integrierte Kamera die fertigen Brötchen, fast habe ich das Gefühl, sie riechen zu können. 

Nielsen wurde zwar nicht wirklich weltbekannt, starb in Dänemark aber letztlich doch als hochangesehener Mann. An seinem sechzigsten Geburtstag 1925 wurde er im ganzen Land gefeiert, und 1931, kurz vor seinem Tod, wurde er zum Direktor des Kopenhagener Konservatoriums ernannt. In seinen letzten Lebensjahren prägte er das dänische Musikleben so sehr, dass kaum Platz für andere Ansätze blieb. Der Außenseiter war zum Vorbild geworden. Mein Vater führt das auch darauf zurück, dass man Dänemark in seiner Musik hören könne: Man ist nicht in einer Gebirgslandschaft, man ist in einem Gebiet mit viel Himmel. Man hört diese hellblauen Sommernächte, die es bei uns gibt. Dann ist es aber auch ein bisschen rau, es gibt Wind und Wetter. Das unterscheidet Nielsen von anderen. ¶