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Der schwedische
Klarinettist Martin Fröst
Bei der Befreiung der Musik darf es keine Kompromisse geben
Text Breandáin O’Shea · Übersetzung Tobias Schnettler · Fotos Nicolaj Lund
Der Klarinettist Martin Fröst ist einer der besten Instrumentalisten der Welt. Er spielt nicht nur als Solist und Kammermusiker, sondern auch bei Klezmer- und Jazzkonzerten. Ohnehin will er musikalische Etiketten hinter sich lassen und Tanz und Theater enger mit der Musik verflechten. Das sagen auch andere; nur dem Schweden ist es damit nicht genug: Er will im großen Stil das Klarinettenrepertoire ausweiten und weiterentwickeln und das bekannte Konzept von Konzertbesuchen und Aufführungen mit dazu.
In der letzten Spielzeit konnte Martin Fröst all das in seinem Projekt Dollhouse verbinden, in dem er nicht nur als Solist und Dirigent, sondern auch als Tänzer, Schauspieler und, wie er es nennt, Zeremonienmeister agiert.
Vier verschiedene Orchester, darunter das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra und die Göteborger Sinfoniker, nahmen teil. Außerdem spielen – neben Fröst und dem jeweiligen Orchester – zwei junge Soloklarinettisten neue und traditionelle Repertoirestücke, komplett mit Choreografie, Bühnenbild und Lichtdesign.
Fröst tritt dem traditionellen Rahmen klassischer Musik mit Respekt gegenüber, so avantgardistisch das Projekt auch ist. Dollhouse ist sein Versuch, neue Perspektiven zu schaffen und die Zuhörer, aber auch die Musiker auf die Frage zu stoßen: »Wer führt hier wen?«
Auf dem Weg zum Gelingen eines solchen Projektes sieht Martin Fröst wenig Spielraum für Kompromisse.

VAN: Wie haben die Orchestermusiker auf das Konzept reagiert?
Martin Fröst: Ich habe mit vier verschiedenen Orchestern an dem Projekt gearbeitet, und ich hatte das Gefühl, dass jedes einzelne von ihnen sich im Laufe des Projektes weiterentwickelt hat. Es war eine lange Reise für mich, an deren Ende ich mich viel lebendiger fühlte. Ich konnte deutlich spüren, dass das Orchester begeistert davon war – und das ganz bestimmt nicht, weil ich der beste Dirigent gewesen wäre, den es je hatte. Nein, ich habe ihnen etwas überreicht, und zwar Verantwortung –
dafür, einander zuzuhören, die Regeln zu brechen, Verantwortung für die Nichtbeantwortung der Frage: Wer führt wen?
Was ich mit diesem Projekt erreichen wollte, ist, unser Geschäft ein wenig zu hinterfragen. Natürlich gibt es fantastische, geniale Dirigentinnen und Musiker, aber die größten sind doch die, bei denen man das Gefühl hat, dass sie wirklich zuhören, um dann etwas zurückzugeben und die Musiker dazu zu bringen, einander zuzuhören. Die schlechtesten sind die, die sich zwar fantastisch bewegen können, aber bei denen man sich fragt, was er oder sie da eigentlich hört. Die Choreografie ist sehr schön, aber was ist da noch? Ich glaube, in diese Richtung muss es gehen: Wir haben alle die Nase voll von klassischen Konzerten. Jeder in diesem Geschäft klagt doch: »Was, schon wieder ein Konzert?«, und so sollte es nicht sein.
Frustriert Dich Deine derzeitige Situation? Wie ist die Idee zu Dollhouse entstanden?
Ich habe mich gefragt, wohin die klassische Musik geht: Was sind ihre Ursprünge, und was machen wir heute daraus?
Ich glaube, wir verlieren diese Ursprünge aus dem Blick. Als wir heute zum Beispiel diese Beethoven-Sinfonie gespielt haben (Fröst hatte gerade Beethovens 1. Sinfonie mit dem Stavanger Sinfonieorchester dirigiert), dachte ich, wir sind so weit weg von dieser Musik. Nicht nur zeitlich – wir haben auch nicht mehr diese enge Verbindung zu den Tänzen, die darin enthalten sind.
Ich habe ein bestimmtes Bild vor Augen, von Mönchen, die in der Kirche singen, während draußen vor der Kirche der Narr singt und spielt. Natürlich haben sie sich gegenseitig beeinflusst.
Aber manche Komponisten hatten Komplexe, die Musik des Volkes, Folk Music und Tänze zu verwenden. Sie hatten das Gefühl, es sei unter ihrer Würde. Sibelius war so einer, richtig?
Sibelius hat einmal gesagt, er sei nicht sonderlich an Volksmusik interessiert. Aber in seinen Werken hat er Volkslieder verwendet. Klar, nicht wie Bartók – der ging auf die Straße, stellte ein Schild auf und machte sich förmlich auf die Jagd nach Volksmusik. Aber ja, grundsätzlich hast Du Recht. Viele hatten Komplexe in Bezug auf Volksmusik.
Du sagst, Du hast mit vier verschiedenen Orchestern gearbeitet. Was haben die dazu gesagt? Da kommt ein Klarinettist, der wird tanzen, schauspielern, deklamieren und viele andere Dinge tun, die Orchestermusiker normalerweise nicht tun.
Ich nenne meine Figur den Zeremonienmeister, master of ceremony, und es geht mir dabei um die Frage, wie wir miteinander kommunizieren. Wir werden einfach alle Teil derselben Schöpfung. Deswegen hatte ich nicht das Gefühl, dass sie einen Widerstand aufgebaut haben. Aber es gab Momente, in denen man spürte, dass sie realisieren: Oh, das wird wirklich sehr, sehr schwierig für uns. (Sie sind solche Dinge nicht gewohnt, ich bitte zum Beispiel jemanden aus dem Orchester, aufzustehen und fünf Takte lang zu dirigieren.) Aber würde man das als Widerstand bezeichnen? Nein, es war eher ein wirkliches Erstaunen. Und nur
wenige Momente später hatte ich wieder das Gefühl, dass alles flüssig läuft und alle glücklich sind.
Weißt Du, wir leiden in diesem Geschäft unter zu viel Kontrolle. Alles ist so durchstrukturiert, man kommt rein und kennt schon das Stück, das gespielt wird, »mal wieder die Sinfonie« und so weiter.
Ich glaube, wir sehnen uns nach Menschenkontakt, und jeder Einzelne von uns muss begreifen, dass das, was er tut, von Bedeutung ist. Selbst wenn man in der achten Reihe der Violinen sitzt, kann man trotzdem inspiriert sein. Viele dort sind aber frustriert und haben das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden und keine Wahl zu haben.
Deshalb ist es so wichtig, ein bisschen Verantwortung an die MusikerInnen zu übertragen. Bei einem Kammerorchester ist es einfacher, weil sie dort eh mehr Verantwortung gewohnt sind.
Ich hatte den Eindruck, Dein Dollhouse-Projekt hat einen sehr subtilen, aber dennoch mächtigen Einfluss auf Deine Spielweise. Als ob Du damit vielleicht nicht nur ein paar atmosphärische Wände einreißen, sondern gleichzeitig einen neuen Zugang zum Repertoire entdecken wolltest. Muss die Ausbildung der MusikerInnen neu gedacht werden? Müssten sie sich, anstatt sich auf einen bestimmten Bereich zu konzentrieren, vielmehr mit verschiedenen Aspekten ihrer Kunst beschäftigen?
Ich glaube, es kommt immer darauf an, was der oder die Einzelne für die eigene Entwicklung braucht. Ich habe seit Dollhouse ein paar Ideen, die ich gerne weiterverfolgen möchte. Nicht bloß Zukunftswege für die Musik, sondern auch Schritte für meine eigene Entwicklung. Ich habe so viel Repertoire gespielt – ich glaube, im letzten Jahr mehr als 30 Mozart-Konzerte. Und wenn ich so viel Repertoire spiele, habe ich fast das Gefühl, ein wenig eingeschränkt zu sein, und dann versuche ich, so verschiedene Dinge zu tun, um mich weiterzuentwickeln, zum Beispiel mit den Projekten, die ich mache.
Ich habe eine Idee für ein neues Projekt, das ich in den nächsten drei Jahren umsetzen will, von 2015 an. Daran werden verschiedene Orchester beteiligt sein, und wir werden gemeinsam eine Reise unternehmen; ich werde mehrere Konzerte innerhalb von zwei Programmen pro Jahr leiten, und jedes Orchester wird darum herum ein eigenes Programm spielen. Der Arbeitstitel lautet »Genesis«, weil es sich mit dem Ursprung der klassischen Musik befasst. Das erste Projekt dreht sich um göttliche und volkstümliche Einflüsse auf die klassische Musik. Es fängt an mit der ersten notierten Musik, und dann geht es durch die Geschichte bis hin zur Frage, wie es in Zukunft aussehen kann.
In welche Art von Programm passt so ein Projekt? Es gibt viele Konzerthäuser und Festivals, die sich für Innovatives anscheinend nicht so interessieren. Viele scheinen es nicht als ihre Aufgabe anzusehen, die Programme weiterzuentwickeln. Das verlangsamt alles, oder? Ich fürchte, es könnte dazu führen, dass deren Konzerte mehr und mehr aussterben.
Ja, das sehe ich auch so. Das ist der Grund, wieso ich bei dieser Projektierung nicht bereit bin, Kompromisse einzugehen. Das ist nämlich ein weiteres Problem. Manche Veranstalter sagen: »Oh, fantastisch, das wollen wir – aber könnten Sie in der zweiten Hälfte nicht noch eine klassische Sinfonie spielen?« Oder: »Sie können dirigieren – wie wär’s mit maximal 20 Minuten hiervon?« Und schon ist es nicht mehr die ursprüngliche Idee.
Und das ist ein Problem, denn wir sind auf eine Art von den Agenten und Veranstaltern abhängig, und die wollen nur das, was populär ist. Aber wenn man nichts Neues ausprobiert, geht man von Anfang an Kompromisse ein. Wir sind zu vorsichtig. Vor einem Konzert, das ich mit dem Concertgebouw Orchester gegeben habe, habe ich mich lange mit Joel Ethan Fried (dem künstlerischen Direktor des Concertgebouworkest Amsterdam, d. Red.) unterhalten. Er sagte: »Wir haben nicht mehr nur ein Publikum, wir haben zehn verschiedene.« Wenn man sich vor dem Konzert unterhält, sagen Hunderte aufgebracht: »Macht das nicht!« Und hundert andere finden es fantastisch.
Es gibt also nicht mehr nur diesen einen Typus des konservativen Hörers – es gibt viele verschiedene Hörer. Wir könnten tatsächlich mehr Zuhörer ansprechen, aber man muss sich gegen diese Argumente zur Wehr setzen: Ach, spielen Sie doch diese Brahms-Sinfonie, dann kommen die Leute. Es gibt so viele Dinge, an denen man ein bisschen drehen kann, und wir können noch viel aggressiver sein, als wir es sind.
Du lehnst also Kompromisse ab, siehst aber zugleich, dass man auch die Finanzierung im Blick haben muss. Aber wenn man sich darum zu viele Gedanken macht, könnte man der klassischen Musik insgesamt mehr schaden als nutzen, verstehe ich das richtig?
Genau, die jetzige Klassikkultur wird einen langsamen Tod sterben, und deshalb sage ich, wir sollten keine Kompromisse eingehen, und wenn die heutigen Veranstalter es nicht wollen, machen wir eben etwas völlig anderes, aber wir fangen nicht an, beides zu kombinieren. Dieses Abwägen bedeutet, dass man niemals eine richtig gute Idee auf die Bühne bringt. Was bringt das? Das bringt gar nichts. Es heißt, »Ach, könnten Sie vielleicht hier ein bisschen an Ihrer Sinfonie ändern? Da ist sie zu lang oder zu kurz, sowas mag unser Publikum nicht«. Nein, wir wollen es nicht ändern. ¶