»Ist es wirklich der richtige Weg, den Einzelunterricht jede Woche 90 Minuten per Videokonferenz stattfinden zu lassen?« Diese Frage beschäftigt gerade Lehrende, Studierende und Hochschulleitungen an den Musikhochschulen. Dieser Text will vorhandene Ideen und Beispiele gebündelt bereitstellen, so dass nicht jede:r Einzelne von Null beginnen muss. Vielleicht kann er helfen die Kreativität, falls nötig, etwas anzuregen, Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze abzuwägen oder schlicht ein Austausch über bestehende Ideen sein:
Bei den meisten Musikhochschulen dauert es noch drei Wochen, bis das Semester wieder beginnt, man arbeitet mit Hochdruck an Ideen, wie Lehre und Unterricht stattfinden können. Fachhochschulen und Universitäten verfügen vielfach über den Vorteil, durch Stabsstellen oder eigene Expert:innen in Hochschuldidaktik oder Weiterbildung auf Vorwissen zu digitalen Lehrangeboten zurückgreifen zu können. An einigen Stellen findet sich auch gebündeltes Erfahrungswissen im Netz, wie im Hochschulforum Digitalisierung. Dort wird ein Überblick gegeben zu Konferenztools, Plattformen zur Bereitstellung von Lernmaterialien oder grundlegenden Fragen wie: Sollten Lehrveranstaltungen synchron oder asynchron konzipiert sein (vorher aufgezeichnet, oder live)? An den Musikhochschulen sind die Fragen zumeist die gleichen wie an den Universitäten und Fachhochschulen, die Antworten an vielen Stellen nicht. Der künstlerische Einzelunterricht bleibt doch zu speziell.
Zunächst also die Gretchenfrage der digitalen Hochschullehre: Synchron oder asynchron? Bei synchronen – also live stattfindenden Formaten – lässt die Audioübertragung von Zoom/Skype/Facetime/Alfaview etc. neben der unterschiedlichen Handhabung der Anbieter mit der Datensicherheit eine Menge zu wünschen übrig. Gleichzeitig kann die Verschiebung des Fokus beim Unterrichten den Blick auf Handstellung, Ansatz etc. aus Perspektiven lenken, die vielleicht bislang so gar nicht möglich gewesen sind. Verschiedene Lehrende berichten aber, dass sie nach ersten Versuchen, den Unterricht über Videokonferenzformate abzuhalten, wieder davon abgekommen sind und mit ihren Student:innen voraufgezeichnete Video- oder Audiodateien in einer Videokonferenz mit geteiltem Bildschirm analysieren.

Es ist in dieser Situation vermutlich ein großes Glück, dass Musikstudierende in der Lage sind, über weite Strecken selbständig Stücke, Übungen, Probespielstellen oder Konzertkonzepte zu erarbeiten. Auf Grundlage dieser Besonderheit scheinen andere, asynchrone, Lehrformate bedenkenswert: Besonders attraktiv könnten Edubreak oder vergleichbare Softwares in einer Art Off Label Nutzung aus dem Training in der Sportwissenschaft sein. Bei Edubreak wird ein Video hochgeladen, das dann sekundengenau mit Markern von mehreren Benutzer*innen kommentiert werden kann. Die Software bietet außerdem die Möglichkeit, das Abspieltempo zu verringern und damit Bewegungsabläufe genau zu untersuchen und zu kommentieren. Ein Ampelsystem gibt einen schnellen Überblick über positive und/oder kritische Bemerkungen. Es ist damit möglich, über die Instrumentalprofessor:innen hinaus Mitglieder der Instrumentalklasse kommentieren zu lassen, eine Vielzahl von Anmerkungen zu generieren und damit eine Art Klassenunterricht stattfinden zu lassen. Mit der Home Spezial Ausgabe wird derzeit für eine überschaubare Summe eine schlanke Version der Software angeboten. Für solche Zwecke stellen manche Länder wie beispielsweise Berlin zusätzliche Mittel für die Beschaffung von Soft- und Hardware zur Verfügung. Solche oder ähnliche Softwares haben den Vorteil, dass Studierende in Peerlearningformaten eingebunden werden können und damit gleichzeitig Variationen der Meister:in-Schüler:in Konstellation geschaffen werden.
Auch denkbar wäre eine Audioaufnahme des Übeprozesses: Der oder die Studierende zeichnet zum Beispiel eine Viertelstunde des Übens auf und kommentiert den eigenen Übeprozess. Warum ist diese oder jene Stelle schief gegangen? Wie versuche ich, das Problem zu lösen? Ist es mir gelungen? Warum nicht? Einblick in den Übeprozess von Studierenden erlangen Hauptfachlehrer:innen in der Regel selten. Gleichzeitig berichten sie immer wieder, dass ihrer Vermutung nach dort viele Studierende Aufholbedarf hätten. Auch für die Studierenden könnte so – mit der/dem zuhörenden Hauptfachprofessor:in im Hinterkopf – ein zusätzlicher Anreiz geschaffen werden, etwa bei Technikübungen noch einmal ganz genau hinzuhören. Eine Art Übetagebuch zu führen und als Gegenstand zum klassenweiten Austausch zu nutzen wäre die analoge Variante dazu.
Ähnlich konventionell aber attraktiv sind Interpretationsvergleiche, die zu aktuellem Repertoire der Student:innen durchgeführt werden könnten. Der Weg zu der eigenen Interpretation ist häufig ein eher intuitiver und das ist weder schlecht noch falsch. Lockt man jedoch eher unbewusst stattfindende Prozesse an die Oberfläche, erhöht sich sicherlich die Flexibilität und das Bewusstsein über die eigenen interpretatorischen Entscheidungen. Sich in ihrer Verbalisierung und Diskussion zu üben, gehört bei allen Schwierigkeiten, die mit der außerordentlich internationalen Studierendenschaft einhergehen, für professionelle Musikerinnen und Musiker dazu.
An der HfMT München hat Professor Christiane Iven sich bereits eine Toolbox angelegt, die unter anderem eine Bibliothek von Klavierbegleitungen, eingespielt durch die Korrepetitor:innen, vorsieht. Die Studierenden können so auf diverse Klavierbegleitungen per Dropbox zugreifen. Aus Studierendensicht berichten Musiker:innen der Jungen Norddeutschen Philharmonie (jnp) davon, dass sie gemeinsam mit ihren Hauptfachlehrer*innen ein Portfolio aus synchronen und asynchronen Lehr- bzw. Lernformaten zusammengestellt haben: Man motiviert sich gegenseitig in Teams via Whatsapp – und tauscht sich täglich über Übefortschritte aus, wöchentlich finden Videokonferenzen und -vorspiele mit der ganzen Klasse statt. Anton Schultze, Hornstudent bei Professor Sibylle Mahni, hat ein personalisiertes »Arbeitspaket« erhalten, das unter anderem das Verfassen eines Essays zum Thema »Wie bleibt man körperlich und seelisch über 30-40 Dienstjahre als Musiker gesund?« vorsieht.

In vielen Fällen werden Studierende ganz direkt in die Entwicklung und technische Umsetzung der Formate einbezogen – immerhin zählen die meisten von ihnen zu den Digital Natives. Eine Vielfalt an Formaten ausprobiert und diskutiert zu haben, könnte ein großer Gewinn am hoffentlich bald eintretenden Ende der momentanen Isolation sein. Teresa Emilia Raff, Studentin im Fach Harfe am Mozarteum in Salzburg, meint, dass gerade Studierende im Master von der Erprobung der digitalen Möglichkeiten in der Zukunft profitieren könnten. Wer bereits professionell als Musiker*in tätig ist, wäre so in der Lage, an Veranstaltungen teilzunehmen, ohne vor Ort sein zu müssen.
Vermutlich kapitulieren müssen wird der Betrieb wohl vor der Herausforderung des Ensembleunterrichts, insbesondere des Orchesterspiels. Aber wer weiß, noch vor drei Wochen hätten viele wohl auch die aktuelle Situation für unmöglich gehalten. Bei allen kreativen Ideen und aller Flexibilität müssen wir uns alle jedoch immer wieder vor Augen halten, dass es Bedingungen gibt, die die aktive Teilnahme an digitalen Lehr-/Lernformaten verhindern: Finanzielle Nöte von Studierenden durch den Wegfall von Nebenjobs und/oder Konzerten sind vielfach akut und auch der Zugang zu Aufnahmegeräten oder anderen technischen Werkzeugen kann nicht vorausgesetzt werden. Gleichzeitig kann die Verlässlichkeit von Hauptfachlehrerinnen und -lehrern in einer beispiellosen Situation Halt geben. Solidarität und Unterstützung auch auf dieser Ebene wird wertvoll für alle sein. ¶