Ein Interview mit dem Countertenor Max Emanuel Cencic
Max Emanuel Cencic, Jahrgang 1976, ist mit Philippe Jaroussky und Valer Barna-Sabadus einer der renommiertesten Countertenöre, jener männlichen Hochtöner, die es ohne physische Defizite mit den Kastraten des Barock aufnehmen können – und mit modernen Partien wie der, die der Komponist Aribert Reimann in seiner Oper Medea für Cencic schrieb. Dass der Sänger auch ein Gespür für das Potential rarer Stücke hat, zeigte sich schon bei Artaserse von Leonardo Vinci, von dessen Opern es davor noch keine Gesamteinspielung gab. Die Box, von Cencic produziert, verkaufte sich 25.000 Mal. Jetzt ist seine Aufnahme von Georg Friedrich Händels Arminio herausgekommen – ebenfalls als erste Gesamteinspielung dieser Oper, die 1737 in London herauskam. Volker Hagedorn sprach mit Cencic in seiner Pariser Wohnung nicht nur über Barockopern, sondern auch über shabby chic, die Erosion der Kultur, sein Studium der Außenpolitik und seinen cholerischen Lieblingskastraten.

VAN: Gerade ist Ihre Aufnahme von Händels Arminio bei Decca erschienen, im Februar war die Oper bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe zu erleben, mit Ihnen in der Titelrolle und als Regisseur dazu. Sie haben den »Arminio« – die Deutschen kennen die historische Figur als Hermann, den Cherusker – in die napoleonische Zeit verlegt. Das ist ungewöhnlich. Meistens werden Barockopern szenisch mehr oder weniger auf das Heute bezogen.
Max Emanuel Cencic: Das ist es auch, was viele verlangen. Mir wurde von einem Opernhaus zugetragen, ich inszenierte zu traditionell. Dabei hatten die sich nur Fotos angeschaut. Die napoleonischen Kostüme waren nur angelehnt an die Zeit, es gab Vergewaltigung, Sex, Exekution, es gab in der Ausstattung von Helmut Stürmer einen shabby chic, der absolut am Nerv der Zeit ist. Natürlich hätte ich Arminio auch als Nazi-Drama in Uniformen aufziehen können, aber ich denke, davon hat man genug gesehen. Alle Vorstellungen waren ausverkauft, das hat gut getan.
Trailer zu Cencics Inszenierung von Händels Oper Arminio am Badischen Staatstheater Karlsruhe im Rahmen der Internationalen Händel-Festspiele 2016.
Wie kamen Sie überhaupt auf Arminio?
Durch den Titelhelden, der damals vom Kastraten Annibali gesungen wurde, dessen Arien ich in Siroe von Johann Adolph Hasse kennenlernen konnte. Die lagen mir sehr gut vom Umfang der Stimme her. Ich habe also weitergesucht, was der noch alles gesungen hat, und stieß auf Arminio.
Kaum jemand kennt diese Oper. Das gilt aber für viele Barockopern, die wieder ihr Publikum finden. Warum hält der Boom von Opern aus der Zeit von etwa 1600 bis 1750 jetzt schon seit drei Jahrzehnten an?
Das sind Schlager! Mit Barock fährt man eigentlich immer sicher. Es wurde schon geschrieben, es hat funktioniert, man muss es nur gut besetzen und ausstaffieren und die richtige Oper auswählen, davon gibt’s Tausende. Die guten Opern des 19. Jahrhunderts wurden schon alle rauf und runter gespielt. Wenn man auf etwas anderes aus dieser Epoche ausweicht, ist es oft so lala. Und im zeitgenössischen Bereich wird’s richtig schwierig, weil es nicht immer das ist, was dem großen Publikum gefällt.
Sind die Opern von Monteverdi bis Händel unterhaltsamer, handlicher und leichter zu konsumieren?
Nein, die Barockopern sind von der Story her sogar komplexer aufgebaut. Im 19. Jahrhundert ist die Geschichte meist relativ straightforward. Der junge Mann kommt, verliebt sich, dann sterben sie oder leben bis ans Ende…
Dafür kann sich kein Mensch ein Barocklibretto merken.
Ja, wenn´s schlecht erzählt ist! Wenn man´s gut erzählt, ist es sehr dynamisch, weil es immer unterschiedliche Geschichten gibt, die sich verbinden. Die Leute müssen sich ein bisschen anstrengen. Sie müssen mitlesen, um zu verstehen, was da los ist. Barockoper fordert!
Max Emanuel Cencic singt die Arie Notte Amica aus Johan Adolph Hasses Oper Il Cantico de’ Tre Fanciulli. Armonia Atenea, George Petrou (Leitung)
Sie haben ein internationales Sängerensemble zusammengestellt und ein Orchester aus Athen geholt, die Armonia Atenea …
Das ging nur, weil es die Festspiele waren, nicht, weil es sich das Opernhaus leisten könnte. Unabhängige Produktionen einzuladen, ist ein finanzielles Problem. Dadurch ist die Kommunikation in der Kultur, der internationale Austausch von Künstlern, sehr zurückgegangen. Dabei wird in Deutschland immer noch das meiste Geld für Kultur ausgegeben.
Und es reicht nicht.
Dann können sie sich vorstellen, was in Frankreich los ist, in Italien, Spanien. Griechenland ist Schlusslicht. Es gibt weltweit eine Erosion der Kultur. Kürzlich war ich in Amerika auf Tournee und musste teilweise das Publikum erziehen. Ich hatte Konzerte, wo die Leute mitten in meiner Arie aufgestanden und gegangen sind, weil es denen plötzlich zu spät wurde. Ich hab’ gesagt, ›bitte stehen sie doch während des Klatschens auf und nicht, während ich eine Pianopassage singe.<
Bizarr.
Nicht nur bizarr. Das ist einfach barbarisch. Ich glaube nicht, dass im Amerika der 1960er und 70er so etwas passiert wäre. Das Internet hat die Leute nicht klüger gemacht, eher dümmer. Von all den Informationen sind 80 Prozent Mist. Und dieser ganze Mist führt zu einer Erosion. Dass zum Beispiel die Republikaner, die vor 50 Jahren in Amerika als die Elite galten, mit Absolventen von Harvard und Princeton – dass die heute nichts besseres als einen Donald Trump aufbringen können, ist der geistige Bankrott eines Landes. Und auch das Resultat einer permanenten Sparpolitik im Bereich der Kultur.

In Deutschland besteht die Gefahr, dass Politiker, die man auf die grandiose Dichte von 140 subventionierten Theatern hinweist, sich denken, ach, dann können wir ja ruhig mal 20 davon schließen.
Deutschland ist der Motor der gesamten Wirtschaft in der EU, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Dass dieses Land prosperiert, ist ein positives Resultat von Kultur. Denn was ist mit Ländern, in denen die Unterstützung von Kultur und Bildung fehlt? Es sind Desasterländer. Jeder Politiker, der das nicht sieht, ist ein Idiot.
Sie sprachen eben von den Eliten. Aber die Erosion der Kultur und die Beschränktheit einiger Superreicher sind doch nicht dasselbe.
Eine Gesellschaft braucht eine intellektuelle und finanzielle Elite, die miteinander zu tun haben oder sogar identisch sind. Wir haben aber in den letzten 20 Jahren eine Inflation an Millionären gehabt, die nicht zu einer intellektuellen Elite gehören. Innerhalb von kürzester Zeit ist es einer kleinen Gruppe von Menschen gelungen, extrem viel Geld zu vereinen, die aber nicht die Verantwortung übernehmen, die das mit sich bringt. Die junge Generation der Hyperreichen, und ich kenne so einige von ihnen, sind oft Menschen ohne viel Charisma und ohne viel Ziel im Leben.
Ganz naiv könnte man sich vorstellen, dass gelangweilte junge Erben die Kultur für sich entdecken …
Tja … (er lacht schallend) Es gibt eine bekannte Stiftung hier in Paris, die immer noch viele Ensembles und Künstler unterstützt. Aber ich weiß, dass die Stiftungspräsidentin seit Jahren einen Riesenkrach mit der ganzen Familie hat, weil die Anderen ans Stiftungsgeld ran, das Stadthaus verkaufen, alles rausnehmen und irgendwo anlegen wollen.
Die sind nicht stolz auf dieses Engagement?
Nein, es ist ihnen egal. Und das ist eine Stiftung, die seit über 100 Jahren existiert. Die haben schon Picasso unterstützt.
Claudio Monteverdi: L’incoronazione di Poppea, Duett Pur ti miro; Sonya Yoncheva (Sopran), Max Emanuel Cencic, Le Concert d’Astree, Emmanuelle Haim (Leitung), Live-Mitschnitt vom März 2012 aus der Opéra de Lille.
Sie haben ja selbst mal von einer ganz anderen Seite als von der Bühne auf die Welt geguckt. Sie haben als singendes Wunderkind begonnen, kamen mit neun Jahren aus Zagreb als Solist zu den Wiener Sängerknaben, mit neunzehn Jahren hatten Sie 2.000 Auftritte hinter sich. Und dann studierten Sie in den USA International Relations. Worin bestand das Studium?
Soziologie, Diplomatie, politische Strategie, alles mögliche, was mit Außenpolitik zu tun hat. Ich hab´ das drei Jahre lang gemacht. Das hat mich einfach interessiert. Ich find´s immer schwierig, sich mit etwas zu beschäftigen, ohne das größere Bild zu sehen, die Zusammenhänge.
Hatten Sie keine Sorge, aus dem musikalischen Bereich herauszugeraten?
Ich wollte ja weg. Ich wollte nicht in diesem Bereich bleiben.
Inzwischen haben Sie aber Ihre eigene Produktionsfirma und sind einer der schätzungsweise fünf gefragtesten Countertenören der Welt. Ist das eigentlich die treffende Bezeichnung?
Also, Kastrat bin ich nicht, da muss ich wohl ein Counter sein … Da unterscheidet man die unterschiedlichen Lagen Alt, Mezzo und Sopran, auch bei den Kastraten hat es die gegeben. Aber diese Bezeichnungen haben sich erst im 19. Jahrhundert herauskristallisiert. Im 18. Jahrhundert gab es die nicht, weil jeder Sänger individuell betrachtet und für ihn und seine natürliche Lage geschrieben wurde. Daher werden Sie nie so eine Bezeichnung sehen in den Autografen, sondern ›Aria sung by Farinelli‹ oder ›Per Signor Annibali‹ und wenn´s keine berühmten Sänger waren, stand meistens ›canto‹ drauf.
Mittlerweile ist die Szene der Counter so entwickelt, dass Sie zum Beispiel den Artaserse von Leonardo Vinci mit vier ebenbürtigen Kollegen neben sich besetzen konnten, etwa Philippe Jaroussky. Das wäre vor 20 Jahren noch kaum denkbar gewesen, auch wenn es schon ein paar Pioniere gab.
In den 80ern haben sich die Leute nicht getraut, das zu studieren, weil es komisch war und nicht als echte Stimme galt. In den 90ern habe ich es noch in Italien erlebt, dass ein Intendant von ›falsa voce‹ sprach, Falsett! Oder es hieß, ›das ist eine kleine Stimme und klingt grauenvoll‹. Ende der 90er hat sich das geändert, mit Jochen Kowalski, David Daniels, Gerard Lesne – das klang toll und hatte Durchschlagskraft. Daraufhin haben sich die Leute mehr getraut, und die Gesangslehrer, begannen zu experimentieren.

Jetzt haben Sie ein ganzes Programm rund um den Kastraten Senesino zusammengestellt, der als Francesco Bernardi ein Jahr nach Georg Friedrich Händel geboren ist. Hauptsächlich wegen des passenden Tonumfangs?
Es ist ein tiefer Alt, und mein Register erlaubt es mir, sein Repertoire zu singen. Er war sicherlich der virtuoseste Altist überhaupt. Ich kenne niemanden, für den so viel Tolles geschrieben wurde, es gibt eine unglaubliche Palette an Ausdruck bei ihm. Er gehört definitiv in die Liga von Cafarelli oder Carestini.
Die Kompositionen zeigen also sein Profil.
Ja. Sowas konnte nur einer singen, der höchstes Raffinement von Ausdrucksfähigkeit und technischer Kontrolle hat. Wenn man sich die großen Arien von Händel für ihn anschaut, merkt man, das kann man nicht schmalbrüstig singen. ›Alma mia‹ in Floridante oder ›Ombra cara‹ in Radamisto, das geht nicht mit so einem (er pfeift dünn) schmalbrüstigen, kleinen Ton, da muss man schon eine Palette an Farben ausbreiten!
Wie muss man sich die Zusammenarbeit der beiden vorstellen?
Die waren wie ein altes Ehepaar. Sie hatten eine Hass-Liebe-Beziehung, 20 Jahre lang. Denn Senesino war natürlich unglaublich eitel und eine Diva. Komponisten wurden damals als Diener der Sänger gesehen, und Händel hat sich darüber hinweggesetzt und sie dazu gebracht zu tun, was er wollte. Aber es war ein künstlerisch sehr befruchtender Streit, denn Händel hat seine besten Opernpartien für Senesino gemacht. Und in dem Moment, wo Senesino nicht mehr dabei war, waren seine Opern nicht mehr so … brillant.

Welche schrieb er denn für diesen Kastraten?
Cesare, Radamisto, Floridante, Tolomeo, dann Siroe, Etio, mindestens 30 Prozent seiner Opern. Orlando, Admeto, Alessandro … immer in einer definierten Form: Es startet oft mit einer Einsingarie, ein langsames Stück mit Continuo, dann folgt eine Bravourarie, als drittes wieder eine langsame …
Man kann sich das gut vorstellen. Erst einsingen, dann gehen wir in der zweiten Arie ein bisschen weiter, Koloraturen (er deutet eine Tonkette an), so, jetzt haben wir uns warmgesungen, jetzt kommen wir zur dritten und vierten Arie, dann muss mal ein Duett kommen, und am Ende des ersten Akts ist die Arie meist für Senesino reserviert. Aber er tritt nicht immer am Anfang auf, man lässt die Leute ein bisschen warten, bis sie warmgesungen worden sind von den anderen, und dann kommt erst der Star des Abends … .
Sie haben ihn ein bisschen kennengelernt! Es klingt, als sei er für Sie eine Art Schutzpatron, ein Bruder.
(lacht) Wir sind im cholerischen Charakter nicht allzu weit voneinander entfernt! Wenn ich mit George Petrou, dem Leiter der Armonia Atenea, an meinen Händelpartien arbeite, gibt es sehr rege Diskussionen: ›Ich will das so machen!‹ – ›Wieso?‹ – ›Weil ich das so will!‹ – ›Aber nein.‹ – ›Ich möchte es aber so!‹

Sie singen hauptsächlich Italienisch. Wollten Sie nie in Italien leben?
Nein, mein Land ist Frankreich, ich hab´ hier sehr viele Freunde. Italien ist schön, aber es lebt nicht seine Kultur. Frankreich ja. Die Leute haben noch einen gewissen Stolz, nicht nur auf ihre Gastronomie und Mode wie in Italien. Da dreht sich alles nur um Pasta und Gucci, das ist mir zu beschränkt. Der Rest hat dort nur noch Museumscharakter. In Frankreich werden die Literatur, die Kunst, die Musik gelebt. Das Leben wird gefeiert. Diese Globalität ist für mich bereichernd. Aber man kann das nicht generalisieren. Es gibt auch viele Franzosen, die sagen, sie könnten nie in Paris leben, eine schreckliche Stadt, schmutzig und chaotisch!
Und teuer.
Ja. Die Wohnungspreise sind hier in 20 Jahren um das Zehnfache hochgeschossen. Für 400.000 Euro kriegen Sie nicht mal mehr eine chambre de bonne.
Ein Dienstmädchenzimmer? Dann möchte ich nicht wissen, was Sie hier bezahlen.
(lacht) Man setzt sich Prioritäten im Leben. ¶