Text Hartmut Welscher· Fotos Wikipedia (CC/PD)


Seit Jahrtausenden treffen sich Menschen aller Zeitzonen und Breitengrade an den religiösen Pilgerstätten dieser Welt: in Mekka, Jerusalem, Kerbela, Varanasi, Rom, Bodhgaya. Man vergewissert sich seines Glaubens, tut Buße, reinigt sich von den Sünden, wünscht dem Nächsten oder einfach sich selbst das Beste. In säkularen Zeiten sind die Reliquien erster Klasse, die Sandalen Jesu oder das Schweißtuch der Veronika, Vielen nichts mehr Wert, aber auch der aufgeklärte Mensch braucht seine Stätten des Kults: Fußballfans pilgern nach Maracanã oder zum Maradona-Schrein in Neapel, Kerouac-Fans nach San Francisco, Elvis-Fans nach Memphis, Film-Fans an den Broadway. Bob Dylan beginnt seine Chronicles mit dem Besuch einer Kultstätte des Rock’n’Roll in New York: Im Pythian Temple an der West 70th Street besucht er das Tonstudio, in dem Bill Haley & His Comets Rock Around the Clock aufnahmen. 

Dem hält die Klassikkultur ihre eigene Landkarte der Heiligtümer entgegen; Orte, an denen die Hausgötter der Zunft geboren wurden, starben oder ihre genialischen Momente erlebten. Oft hat sich dort das Kultische über die Zeit hinweg akkumuliert. Ein solcher Ort ist das norwegische Bergen – Geburts- und Wirkungsstätte von Edvard Grieg, Schauplatz des größten skandinavischen Klassik- und Kulturfestivals und Residenz eines der ältesten Orchester Europas, des Bergen Filharmoniske Orkester (BPO). Zum 250. Geburtstag rief es zur Pilgerfahrt auf.


Polarexpress, Lagerfeuer

Neben mir im Flugzeug sitzt eine Gruppe pilgernder Eiskönigin-Fans: Für das Königreich Arendelle im Film Frozen (dt. Die Eiskönigin – völlig unverfroren) ließ sich Disney vom real existierenden Bergen inspirieren. »Adventures by Disney« bietet eine achttägige Tour an, »Familien erwarten authentische Aktivitäten auf den Spuren der Eiskönigin, die so nur Disney bieten kann.« 

Dann präsentiert Bergen aber statt dem Winterwunderland grauen Schneematsch, der sich wie winterliche Lava über die Stadt ergießt. Der Stau vom Flughafen in die Innenstadt erinnert an die Rush Hour in Jakarta. Zu spät im Hotel, verspätet zur Verabredung in der »Zupperia Vaskerelven«. Dort treffe ich auf den Rest der Pilgergruppe: die Herausgeberin des britischen Magazins International Piano, einen deutschen Musikwissenschaftler und seine Frau, die PR-Vertreterin des Orchesters aus London und Henning Målsnes, den Informasjonssjef des BPO. Wir essen Fischsuppe mit Steinbutt, Muscheln und Garnelen, uns umfängt wohlige Wärme und eine nahrhafte Heimeligkeit, als säße man in der Jurte um das warme Herdfeuer, während draußen der Winterwind tobt.

Brutalismus, Open Office, Festsaal

Apropos Jurte – in der Mongolei heißt alles »Dschingis Khan«: der Wodka, die Bank, der Flughafen, die Prachtstraße, das Hotel. In Bergen gibt es den Edvard Grieg Klavierwettbewerb, das Edvard-Grieg-Museum, das »Grieg in Bergen«-Festival, das »Quality Hotel Edvard Grieg«, natürlich den Edvard Griegs plass und Edvard Grieds vei, und irgendwo da draußen auf der Nordsee fördert das Ölfeld »Edvard Grieg« Reichtum. Es scheint, als müsse die hungrige Seele berühmter Söhne mit immer neuen Ortsnamen besänftigt werden. Im knöcheltiefen Schneematsch waten wir zur Grieghallen, einem Keil aus Glas, Beton und Schwarz, Heimstatt des BPO. Heute und morgen findet hier ein Höhepunkt der Jubiläumssaison statt: Pianist und Bergen-local Leif Ove Andsnes moderiert ein vom ihm selbst kuratiertes Konzert, das die Geschichte des Orchesters nachzeichnen wird. Das norwegische Fernsehen überträgt.

Zuvor führt uns Henning in die Büroräume des Orchesters, die sich ebenfalls im Gebäude befinden. Orchesterverwaltungen ähneln in Deutschland öfter mal Katasterämtern, hier blickt man durch Glastüren und auf Holz, an Grünpflanzen vorbei und auf Sofas mit psychedelisch-grafischem Blumenmuster. Das erinnert wenig altehrwürdig eher an ein Start-up. In einer Kammer türmen sich die Aufnahmen des Orchesters der letzten Jahrzehnte; viele norwegische Komponisten – Halvorsen, Svendsen, Thoresen, Irgens-Jensen, die Einspielung aller Orchesterwerke Griegs auf sieben CDs. Der US-Amerikaner Andrew Litton, seit 2003 Chefdirigent des BPO – Simone Young nachfolgend – legte den Fokus auf russisches Repertoire, daraus ergab sich eine Gesamteinspielung der Prokoview-Sinfonien, der Ballette Tschaikowskis und Strawinskis, Musik von Skrjabin. Henning lädt zur Selbstbedienung ein. Im Fahrstuhl treffen wir David Stewart, den kanadischen Konzertmeister des Orchesters. »Heute ist kein Konzert, heute ist Party.« Er lädt uns für später an die Orchesterbar ein, da werden die Getränke die Hälfte kosten. 

Im Foyer herrscht unter Glühbirnenfirmament Konfirmationssonntagsstimmung: Leif Ove ist ja so groß geworden, mal gucken, ob er noch Manieren hat. Er spielt ja heute auch ein bisschen vor.

Auch im Saal selbst ständelose Ordnung, keine Logen und Ränge, kein »Weinberg» und keine »Schuhschachtel«, stattdessen Modell Hörsaal, 1.500 akustisch ziemlich gleichwertige Plätze. Das Konzert beginnt als Hauskonzert: Links an der Bühne versammeln sich Musiker/innen neben einem erleuchteten Kerzenständer, Andsnes begleitet vom Klavier aus ein Boccherini-Quintett, eine Reminiszenz an die Entstehung des Orchesters als private Musikselskabet (Musikgesellschaft) Harmonien. »Harmonien«, so nennt man das Orchester bis heute. Die Wortbedeutung und die Tatsache, dass ein Orchester überhaupt einen Kosenamen hat, fühlen sich irgendwie gut an. Zwischen den Musikstücken betritt Ansdnes die Bühne und erzählt begleitet von Bildern und kleinen Filmschnipseln auf einer heruntergefahrenen Leinwand die Geschichte der Harmonien, von Beethoven, dessen zweite Sinfonie in Bergen schon im Jahr der Entstehung, 1804, aufgeführt wurde, vom Geiger, Staatengründer und Frauenschwarm Ole Bull, der bereits mit acht Jahren Orchestermitglied wurde, von Grieg, der zwischen 1880 bis 1882 künstlerischer Leiter des Orchesters war, von einem Konzert 1941, als ein Nazimob den Saal stürmt und gegen den Auftritt des jüdischen Geigers Ernst Glaser protestiert – und dieser entkommen kann, weil das Orchester kurzerhand zur Ablenkung die Nationalhymne anstimmt, von Leopold Stokowski, der das Orchester zur ersten Ausgabe des Bergen Festivals 1953
dirigierte. Das Publikum fiebert mit wie bei einem guten Abenteuerfilm, während Andsnes so aufgeräumt konferiert wie Claus Kleber. Er lässt sich auch nicht verrückt machen, als der Beamer kurz ausfällt. 

https://vimeo.com/129561464

Nach dem Konzert Empfang im Salon Nina, benannt nach Griegs Ehefrau. Geladen ist der Freundeskreis und die Sponsoren des Orchesters, es gibt Büffet und Reden. Andsnes ist da mit seiner Frau Ragnhild, die Hornistin im BPO ist. Jeder will kurz seine Aufmerksamkeit, jeder bekommt sie. Wie auf einem Familientreffen halt. Die Manieren hat er sich bewahrt, der großgewordene Sohn. 

Archiv, Literaturhaus

»Lieber Herr Grieg! Ich richte diese Zeilen an Sie aus Anlaß eines Planes, mit dessen Ausführung ich umgehe, und weswegen ich Sie fragen möchte, ob Sie mitthun wollen. Es handelt sich um Folgendes. Ich beabsichtige, ›Peer Gynt‹ – von dem jetzt bald eine dritte Auflage erscheinen wird – für die Aufführung auf der Bühne einzurichten. Wollen Sie die erforderliche Musik komponieren?«

Im Grieg-Archiv der Bergen Offentlige Bibliotek zeigt uns Abteilungsleiterin Siren Steen Manuskripte, Originalpartituren, Haushaltsbücher, die letzten, schon mit schwacher Handschrift geschriebenen Eintragungen aus Griegs Tagebuch, und eben jenen Brief von Ibsen, der selbst eine Art Nationalschatz ist, da er den berühmtesten Beitrag Norwegens zur Musikgeschichte vor a-ha initiierte. Der die Weltmeere besegelnde Peer Gynt, Trinker, Phantast, Herumtreiber, Sucher und Zweifler, ein Größenwahnsinniger. Eigentlich mochte der bodenständige und vielleicht ein bisschen pedantische Kaufmannssohn Grieg diesen »nordischen Faust« nicht besonders, genauso wenig wie Ibsen, über den er sich schon während eines gemeinsamen Aufenthalts in Rom geärgert hatte: »zu pessimistisch«, »ständig besoffen«. Auch Teile der eigenen Bühnenmusik zu Peer Gynt, der Tanz der Tochter des Bergkönigs etwa, kamen Grieg wie »Mist« vor, »den anzuhören ich buchstäblich nicht ertragen kann, so sehr stinkt er nach Kuhdünger und norwegischer Beschränktheit und Selbstüberhebung!«. Viele Jahre nach der Bühnenmusik kondensierte er daraus die Peer-Gynt-Suiten, die weniger einer existentiellen Selbstbeschau als eher pathetischer Nationalromantik folgen, und die zum vielleicht meistverwursteten Musikstück aller Zeiten avancierten: Fritz Lang, Kamelot, Duke Ellington, The Who, The Social Network, Rama, Licher Bier, you name it. Die musikhistorischen Reliquien liegen dort ausgebreitet vor einem wie unter einem Weihnachtsbaum. Es herrscht Verunsicherung: Darf man die jetzt einfach so anfassen? Wir trauen uns nicht.

Beim Mittagessen mit Rote-Beete-Suppe im Literaturhaus erzählt Bernt E. Bauge, der CEO des Orchesters, von dessen Entwicklung. Seit diesem Jahr gibt es ein kostenloses Live-Stream-Angebot (digitaltkonserthus.no), mit circa 10 Konzertaufzeichnungen pro Spielzeit, im Juni ist man zu Gast beim Kissinger Sommer mit einem Grieg – Grieg – Grieg Programm, im August in Amsterdam, Dublin und bei den BBC Proms in London. Und ab der Spielzeit 2015/2016 übernimmt der Schotte Andrew Gardner als Chefdirigent.

So richtig konzentrieren kann ich mich allerdings nicht, weil gegenüber an der Hauswand ein Bajuware mit Lederhose Bierhumpen stemmt.

Der Hügel

Der Höhepunkt der Pilgerfahrt: Troldhaugen, der »Troll-Hügel«. Griegs Zeitgenosse, Ole Bull, errichtete sich auf der Insel Lysøen vor Bergen eine Art Alhambra. (Seine popkulturellen Erben suchen sich heute Domizile auf Sizilien, nachzulesen in einem Artikel beim Zeit Magazin über Erlend Øye.) Der Nationalkomponist Grieg baute sich hier am See Nordås sein kleines hölzernes Sommerhaus im viktorianischen Stil. Damals noch als Landsitz, wobei es heute zu einem Randbezirk der Stadt zählt, eine Viertelstunde mit dem Auto vom Zentrum Bergens entfernt. Grieg nannte es »mitt beste opus hittil« (»mein bestes Werk bisher«); am 16. April 1885 zog er mit Nina ein. Die letzten 22 Sommer seines Lebens, bis zu seinem Tod 1907, verbrachte er hier; im Winter zog er (Konzert-)Reisen in mildere Gefilde vor. 

Der Spesialkonsulent von Troldhaugen, Eilif Løtveit führt uns durch »sein« Haus. Gleicht sich Herrchen irgendwann an Hund an, so gilt das vielleicht auch für Museumsführer und seinen Schrein. Troldhaugen wirkt wie ein zu voll gestelltes Museum, bis man auf Bildern sieht, dass auch Grieg schon in diesem ganzen Nippes gewohnt hat. Die Wände voller Zeugnisse eines frühen Fotozeitalters, auf denen der 1,52 Meter große hutzelzwergige Grieg irgendwo in der Natur drapiert liegt oder Gäste auf dem Troll-Hügel empfängt, immer ganz Contenance, mit Hut und der Hand im Sakko. Büsten und Partituren von Bach und Beethoven, Wagner und Brahms (den er mehrmals nach Troldhaugen einlud, der aber nie kam). Diesen Kollegen, die sich an den großen Formen verausgabten, fühlte sich Grieg immer auch ein wenig unterlegen: »Bach und Beethoven haben Tempel und Kirchen auf den höchsten Bergen errichtet. Ich wollte nichts weiter als Behausungen für die Menschen zu schaffen, in denen sie sich wohl fühlen können.« Die Sechs Lieder op. 48, der Liederzyklus Haugtussa oder die 66 Lyrischen Stücke zum Beispiel, Entschwundene Tage, Traumgesicht oder Vorüber, musikalische Tagebucheintragungen, kleine Miniaturmelodien, die heran- und wieder fortwehen.

Im Salon der Steinway-Flügel, den Nina und Edvard zur silbernen Hochzeit geschenkt bekamen, im Gästebuch Eintragungen von Prince Charles und der Queen. Wilhelm Kempff schreibt: »Troldhaugen, dieser Ort der für mich schon seit der Kindheit einen besonderen Klang hat.« Die bescheidene Enge des Hauses steht im grandiosen Kontrast zum weiten Blick über den See, das hier ist ein Sehnsuchtsort. Weiter unten am Hang das Berggrab von Nina und Edvard und seine Komponistenhütte. Mittlerweile ist es dunkel geworden und der Pfad dorthin im Schneematsch versunken. Eines Tages müssen wir also wiederkommen. Auf dem Weg zurück in die Stadt hängen die Häuser an den sieben Hügel Bergens wie Lichterketten. Es sieht hier jetzt tatsächlich aus wie Arendelle. 

»In 100 Jahren wird meine Musik vergessen sein«, sagte Grieg kurz vor seinem Tod. Auf dem Rückflug lese ich in der Zeitung, dass beim NSA-Untersuchungsausschusses eine große Metallkiste aufgestellt wurde. Alle Handys und Tablets sollten da hinein. Dann schaltete der Ausschussvorsitzende Patrick Sensburg auch noch Musik ein. Zu hören war Edvard Griegs Klavierkonzert in a-Moll. ¶

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