Der brasilianische Regisseur Marcelo Gomes über Musik und Freiheitskampf
Der Film Joaquim des brasilianischen Regisseurs Marcelo Gomes lief vor zwei Wochen im Wettbewerb der 67. Berlinale. Im Mittelpunkt steht Joaquim José da Silva Xavier, genannt Tiradentes, Freiheitskämpfer, brasilianischer Nationalheld und ein Anführer der Inconfidência Mineira (Minas-Verschwörung), einem Aufstand gegen die portugiesische Kolonialherrschaft im 18. Jahrhundert. Gomes geht in seinem Film der Frage nach, welche Motive es gewesen sein könnten, die aus einem einfachen Soldaten der portugiesischen Krone einen Revolutionär gemacht haben. Der Film stellt einen möglichen Bewusstwerdungsprozess Joaquims in den Mittelpunkt. Den sichtbaren Wandel zum Revolutionär vollzieht er erst ganz zum Schluss, der Film endet dort, wo der (historisch belegte) Freiheitskampf beginnt. Gomes verzichtet auf historische Einordnung und faktische Leitplanken, er lässt den Zuschauer mit der Existenz der Protagonisten allein. Die sich auflösende Loyalität gegenüber der Kolonialmacht und die schleichende Politisierung Joaquims finden in Sinneseindrücken statt, schreiben sich in Körperlichkeit ein. Auf diese muss man sich einlassen, damit der Film psychologisch stringent erscheint. Wir treffen Marcelo am Tag nach der Premiere (und deren Party) in der Presselounge im 4. Stock des Berlinale Palasts am Potsdamer Platz.

VAN: Zu welchem Zeitpunkt deiner Arbeit kommt bei dir Musik ins Spiel, während des Drehs, beim Schneiden, hast du sie schon vorher im Kopf, oder konstruierst du auch manchmal Szenen auf der Basis von Musik?
Marcelo Gomes: Es kommt drauf an. In meinem Film Cinema, Aspirinas e Urubus (Cinema, Aspirins and Vultures) verbringen die Protagonisten eine Menge Zeit im Auto und hören dabei Radio. Da habe ich einfach zehn Songs gewählt, die 1942, in dem Jahr, in dem der Film spielt, viel im Radio liefen, um dem Film einen natürlichen Tonfall zu geben. Ich mag keine Filmmusik, die quasi aus dem Nichts, von Gott kommt und mit der der Regisseur bestimmte Gefühle hervorrufen will. Ich mag es lieber, wenn sie organisch aus der Dramaturgie oder Atmosphäre des Films entsteht. In Joaquim ist die einzige Ausnahme Bachs Chaconne...
…die in einer Schlüsselszene des Films erklingt. Wie kamst du darauf?
Als ich das Stück vor langer Zeit das erste Mal hörte, wusste ich noch nicht, um welche Musik es sich handelt. Ich hörte diese Geige klagen und dachte, ›das muss ein Requiem sein!‹ Ich hatte das Gefühl, dass in dieser Musik jemand seinen Tod ankündigt. Und diese Vorstellung blieb in mir haften. Als ich im Film Joaquim (Júlio Machado) mit den anderen Männern essen sah, erschien mir die Szene auf einmal wie das letzte Abendmahl und mir war schlagartig klar, dass da Bachs Chaconne hin muss.
Gidon Kremer spielt die Chaconne aus der Partita No. 2 d-Moll von Johann Sebastian Bach
Es gibt außerdem eine Menge Musik, die die Protagonisten selbst einbringen und die durch ihre unterschiedlichen kulturellen Identitäten geprägt ist: Die Índios singen, die Sklavin Zua (Isabél Zuaa) singt das Lied eines Vogels, der sich nach Freiheit sehnt, Maria Clara singt und spielt ein Barocklied aus dem 18. Jahrhundert.
… auf einer Original 12-saitigen Gitarre aus der Kolonialzeit, die wir für 8.000 Dollar versichern mussten. Die Gitarre war teurer als das gesamte Budget des Films (lacht). Wir waren ganz krank vor Sorge um diese Gitarre.
Welche Rolle spielt für dich die Musikalität im Film?
Als man in Minas Gerais Gold entdeckte, rannten alle dorthin um reich zu werden, die Portugiesen, die Spanier; es gab auch indigene Völker in der Region, die sich mit anderen mischten, und Sklaven aus verschiedenen Regionen Afrikas. Minas Gerais wurde ein kultureller Schmelztiegel, alle hatten unterschiedliche Sprachen und Dialekte. Ich habe mich gefragt, wie sich diese Leute einander mitgeteilt haben, um zu überleben. Niemand konnte ja die Sprache des anderen. Es gibt im Film diese Szene, in der der Índio den Expeditionstrupp anführt und auf einmal ruft ›Tivi, Tivi‹, was in seiner Sprache ›Puma‹ bedeutet. Der Afrikaner hinter ihm weiß nicht genau, was es bedeutet, aber merkt, dass da etwas vor sich geht. Dann sehen sie das Tier, und der Portugiese fragt, was das sei, und er kriegt die Antwort, ›Ein Sussuarana.‹ ›Was ist das, ein Sussuarana (dt. Puma)?‹ ›Eine Art Onça (dt. Jaguar).‹ Was ist ein Onça?‹ ›Ein Tier, das Dich frisst.‹ Vielleicht haben die Menschen dort so angefangen, zu kommunizieren, und ich stelle mir vor, dass vielleicht der erste Dialog, den Afrikaner und unsere indigenen Völker miteinander gehabt haben, die Musik gewesen sein könnte. Was ist die größte Errungenschaft der brasilianischen Kultur? Es ist die Musik. Noch mehr als die Literatur, mehr als der Film und die Populärkultur, alles in Brasilien ist Musikalität, der Akzent der Leute, wie wir singend reden, jeder mit seinem eigenen Gesang.

Dazu passt die schöne poetische Szene, in der der Sklave João (Welket Bungué) und der Índio Inhambupé (Karay Rya Pua), die sich über Sprache nicht verständigen können, plötzlich anfangen, zusammen Musik zu machen, die einen Ausdruck von Würde und Widerstand zugleich hat.
Ja, vielleicht hat Joaquim dort die Geburtsstunde der brasilianischen Nation gesehen, als der schwarze Sklave und der Índio diese Version eines 18. Jahrhundert-Hip-Hop aufführen. Danach taucht Joaquim seinen Kopf ins Wasser und fragte sich, wer bin ich in all dem? Ich bin kein Portugiese, kein Índio, kein Afrikaner, wer bin ich?
Die Frage nach einer brasilianischen Identität ist eines der zentralen Themen des Films, die Geburt der Nation aus der Vielfalt aber auch der Ungerechtigkeit, einem System der Ausbeutung. Außerhalb Brasiliens waren die Reaktionen auf den Verzicht auf ein lineares, vertrautes Revolutions-Narrativ und eine historische Einordnung Joaquims eine Mischung aus Unverständnis und Überforderung. ›Joaquim wird zum Revolutionär, ohne dass man genau wüsste, warum.‹ schreibt der Tagesspiegel. Auch die doppeldeutige Poesie von Joaquim bleibt in vielen deutschsprachigen Kritiken ungesehen. Zu den beiden oben beschriebenen Szenen schreibt der Kritiker des RBB lapidar: ›Ein Jaguar brüllt bedrohlich im Gebüsch. Ein Indio und ein Schwarzer aus der Reisegruppe messen sich im Liedersingen.‹ Es scheint so, als setze sich die im Film thematisierte Herausforderung interkulturellen Verstehens in seiner Rezeption fort. Tiradentes ist in Brasilien Teil eines jeden Geschichtsunterrichts, hierzulande ist er weitestgehend unbekannt, ebenso wie die (Kolonial-)Geschichte Brasiliens.
Die ersten Reaktionen auf deinen Film waren sehr unterschiedlich. Es scheint, als käme dort, wo das historisch und kulturell Fremde nicht im Offensichtlichen, sondern in der Subtilität bleibt, das Bemühen ums Verstehen an seine Grenzen?
Vielleicht ist es ein Mangel an Neugierde, vielleicht erwartet man auch einen eher stereotypen Helden. Das ist insofern ein bisschen amüsant, als dass es im Film ja um sehr universale Dinge geht, die Unmöglichkeit einer Liebe, Betrug, Habgier…

Und Träume, jeder der Protagonisten träumt von etwas, daraus entsteht die Schönheit und auch eine gewisse Leichtigkeit, trotz aller Frustrationen und körperlicher Herausforderungen. In einer Szene sagt die Sklavin Zua zu Joaquim: ›Du bist noch nicht am Schlafen, und schon träumst du‹. Joaquim ist für dich auch ein naiver Träumer …
Ja, das ist die Schönheit seines Charakters, deswegen verliert er auch seinen Kopf. Als ein Mann, der in einer amoralischen Gesellschaft wie der brasilianischen im 18. Jahrhundert lebt, die die Índios ausrottet, die Afrikaner versklavt, aus den geringsten Motiven tötet, wie kann so jemand aufhören, Soldat der portugiesischen Krone zu sein und Revolutionär werden? Für mich gibt es einen möglichen Erklärungsansatz: Er hat sich in eine Frau verliebt, die die schlimmsten Verbrechen des Kolonialismus am eigenen Leib erfahren hat, eine Sklavin, die vergewaltigt und missbraucht wurde. Über die Liebe spürt er das erste Mal den Schmerz der Ausgeschlossenen in dieser Gesellschaft. Dann kommen persönliche Frustrationen hinzu, aufgrund der verweigerten Beförderung und weil er das Gold, das ihn aus seiner Situation befreien könnte, nicht findet. Als er dann noch von der Frau, die er liebt, zurückgewiesen wird, weil sie schon ihre Revolution gemacht hat und kein Weißer sie jemals mehr berühren kann, kommt Hass hinzu.
Auf der Pressekonferenz und nach der Premiere des Films verliest Gomes ein von mehr als 300 brasilianischen Filmschaffenden gemeinsam unterzeichnetes Manifest. In diesem wird die aktuelle politische Situation in Brasilien als Verfassungskrise und die amtierende brasilianische Regierung unter Präsident Temer als illegitim bezeichnet.

Der Paradigmenwechsel hin zu einer konservativen und neoliberalen Politik zeige sich in Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kultureinrichtungen (Teil der ersten Amtshandlungen von Temers Kabinett war die Ankündigung wirtschaftsliberaler Reformen und die Auflösung der beiden Ministerien für Kultur und für Frauen, Gleichstellung und Menschenrechte. Über die Proteste und die Rolle der Musik darin haben wir im Juni 2016 berichtet.) Die Unterzeichner eint die Sorge, dass über die Neubesetzung zweier Direktorenstellen bei der nationalen Filmagentur Ancine die Förderung audiovisueller Kultur und insbesondere kleinerer Independent-Produktionen untergraben wird. ›Wir müssen gegen diese unrechtmäßige Regierung Widerstand leisten‹, sagt Gomes am Abend nach der Premiere von Joaquim auf der Bühne des Berlinale Palasts und widmet den Film ›allen Brasilianern, die sich gegen die illegitime Regierung stellen und Widerstand leisten‹. Ein Teil der brasilianischen Zuschauer antwortet darauf mit ›Fora Temer‹-Rufen (›Temer raus‹; Präsident Temer war über ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) an die Macht gekommen, d.Red.).
Die Inconfidência Mineira, die für die Loslösung der Provinz Minas Gerais von der Kolonialmacht Portugal kämpfte, wurde vor allem von der weißen Oberschicht getragen. Tiradentes war der Einzige aus der Gruppe der Verschwörer, der nach der Verurteilung hingerichtet wurde, weil er von allen der Ärmste war und nicht die richtigen Netzwerke besaß. An ihm konnte ein Exempel statuiert werden.
Die Portugiesen kamen nach Brasilien und bauten eine Gesellschaft auf, deren Ziel in der Ausbeutung der Erde bestand. Dieser Prozess der Ausbeutung schrieb sich auch ein in die Köpfe der in Brasilien geborenen weißen Elite. Sie begann, die portugiesischen Kolonialherren zu imitieren: das Land auszubeuten und in den Händen Weniger zu behalten. Der Wunsch hinter der Inconfidência Mineira war: Lasst uns die Macht den portugiesischen Eliten wegnehmen und uns geben. Lasst uns keine Steuern mehr an die Portugiesen zahlen, sondern damit unser Land selbst verwalten. Es war nur eine Änderung der Machtkonstellation. Auch im heutigen Brasilien müssen wir weiter an der Entkolonialisierung arbeiten.

Du hast auf der Pressekonferenz gestern davon gesprochen, dass die aus dem Kolonialismus entstandenen Brüche, die im Film thematisiert werden, auch heute noch sichtbar sind. Welche meinst du?
Brasilien ist auch heute noch das Land der überkommenen Pfründe. Du musst schon das Kind von ›jemandem‹ sein, um aufzusteigen. Wenn du ›gewöhnlich‹ bist, bekommst du nichts, egal wie sehr du dich anstrengst. Ich denke, es ist wichtig, jeden Tag aufzuarbeiten, sich bewusst zu machen, welche sozialen Spuren der europäische und amerikanische Kolonialismus in Brasilien, Südamerika, Afrika und Asien hinterlassen hat. Der Kolonialismus beschleunigte einen grausamen, ungezügelten Kapitalismus, der zur selben Zeit großen Reichtum und große Armut schuf. Bis heute ist Brasilien ein Land der überkommenen Eliten, die die Macht und Privilegien haben, und die diese nicht mit dem Rest der Bevölkerung teilen wollen. In Brasilien haben wir unter Lula viele Jahre Fortschritte gemacht im Gesundheits- und Bildungsbereich, die jetzt von einer reichen Elite zurückgedreht werden.
Die Proteste dagegen werden zu einem Großteil von der Mittelschicht und den Intellektuellen getragen, gar nicht unbedingt von denen, die am meisten unter den geplanten Kürzungen leiden werden. Das ist ein Phänomen, das auch in anderen Ländern zu beobachten ist. Wie erklärst du dir das?
Das ist ein großes Problem. Ich denke es gibt unter den Armen und Ausgeschlossenen eine weit verbreitete Desillusionierung gegenüber dem, was Politik leisten kann und will. Und das ist sehr gefährlich. Wir haben in der Geschichte gesehen: Immer wenn die Leute sich von der Politik abwandten, haben in diesem Moment politischer Ernüchterung Faschisten und die extreme Rechte die Macht übernommen. Es gibt viele Ursachen für diese Ernüchterung, aber sie entschuldigen trotzdem nicht, den politischen Raum rechten Parteien und einem oberflächlichen, vereinfachenden Diskurs zu überlassen. Vielleicht kann unser Film dabei helfen, auf eine tiefere Art zu verstehen und zu diskutieren, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt, und wie wir trotz dieser sozialen Brüche eine Zukunft aufbauen können, an der die ganze brasilianische Gesellschaft teil hat. ¶