Emmanuel Pahud in Tokio

Text Annette Zerpner · Fotos privat

Emmanuel Pahud, Solo-Flötist der Berliner Philharmoniker, ist gerade in Japan unterwegs. Annette Zerpner erwischte ihn in Tokio, der ersten Station seiner Herbsttournee.


VAN: Emmanuel, oft bist du mehrmals im Jahr auf Tour in Japan – mit den Berliner Philharmonikern, aber auch als Solist, mit dem Bläserquintett Les Vents Français, dem Pianisten Eric Le Sage oder jetzt mit dem Gitarristen Christian Rivet. Wieso mögen die Japaner dich so? 

Emmanuel Pahud: Generell liebt man in Japan die Flöte, weil sie sehr nah an einer Familie traditioneller Instrumente ist: Das bekannteste ist die Shakuhachi, die ursprünglich der Meditation diente und nur von einem Bettelmönchorden aus der Kaste der Samurai gespielt und gehört werden durfte. Es gibt aber fast 50 weitere Varianten. Als Japan sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts der westlichen Kultur und der klassischen Musik öffnete, war die Flöte schon vertraut und blieb hoch geschätzt. Das hat sich auf ihre Spieler übertragen – vom großen Flötisten Jean-Pierre Rampal gibt es in einem Park sogar eine Statue. 

1985 fand in Kobe zum ersten Mal der weltweit einzige große Wettbewerb nur für Flöte statt. Die zweite Ausgabe habe ich vier Jahre später gewonnen. Wenn man etwas besonders gut kann, und das offiziell anerkannt ist, erfährt man in Japan automatisch besondere Hochachtung und Respekt. 

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Ist das Land eine der letzten Inseln der Seligen, was klassische Musik angeht?

In Japan sind die Ruhe beim Zuhören und die Bereitschaft, durch Musik auf eine spirituelle Reise zu gehen, noch viel größer als in Europa. Aber der Kobe-Wettbewerb ist ein gutes Beispiel, wie sich die Mentalität auch hier langsam ändert: Der neue Bürgermeister der Stadt hat keinen Bezug zu klassischer Musik und möchte ihn einstellen. Ich habe in einem offenen Brief protestiert, der in der landesweiten Zeitung »Asahi Shimbun« veröffentlicht wurde. Es gibt außerdem eine Online-Petition. Bisher ist noch nichts entschieden.

Stehen hinter dieser Entwicklung neben einem Mentalitätswandel auch wirtschaftliche Gründe?

Wie bei uns spielt beides eine Rolle. Im ganzen 20. Jahrhundert galt eine gute bürgerliche Bildung im westlichen Sinne mit Literatur, Kunst und Musik den Japanern als erstrebenswert. Heute ist das weniger wichtig, man ist in dieser Hinsicht Teil der westlichen Konsumgesellschaft geworden. Einerseits hören heute weltweit so viele Leute wie noch nie Musik mit ihren Smartphones. Aber keiner ist bereit, dafür zu zahlen. Andererseits wird Kultur oft als reiner Kostenfaktor ohne return on investment wahrgenommen, und so betrachtet ist man schneller daran, sie abzusägen. Dagegen müssen sich Künstler und vor allem die Intendanten engagieren.

Ist Japan ein Land, das du eher mit Hektik oder mit Ruhe verbindest? 

Japanische Großstädte sind bei weitem nicht so hektisch und laut wie westliche. Dazu sind sie zu gut organisiert und die Leute zu diszipliniert, alles fließt. Auf Tourneen sehe ich oft nur die Strecke vom Flughafen zum Hotel und dann zur Konzerthalle, aber ich liebe Zugfahrten durchs Land. Das Bahnnetz ist extrem gut entwickelt – nicht nur der Shinkansen, der viel besser funktioniert als TGV oder ICE, auch die regionalen Linien. Vom Zugfenster aus ist die Perspektive ja gleich ganz anders: Man erfährt die Konturen der Landschaft, entdeckt kleine Tempel, besondere Häuser in jeder Stadt oder Bäume wie auf einer traditionellen Zeichnung. Das verbinde ich mit Ruhe. 

Deine aktuelle Tournee steht unter meditativen Vorzeichen.

Diesmal gibt es ein besonderes Projekt mit dem nationalen Fernsehen NHK, wir drehen eine Sendung zum 20. Todestag des Komponisten Toru Takemitsu im nächsten Jahr. Ich spiele alle seine Werke für Flöte in verschiedenen Besetzungen. Das letzte Konzert wird in Yatsugatake sein, Takemitsus Einsiedelei im Wald. Dort hat er einen Philosophenweg angelegt, um Vögel zu beobachten und ihnen, dem Wind und dem Wasser zu lauschen. Ein Stück wie I hear the water dreaming für Flöte und Orchester ist komplett von Naturgeräuschen inspiriert. In dieser Umgebung kann man absoluten Frieden finden – als ob einem plötzlich ein Stecker gezogen würde. 

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Wie lässt sich Toru Takemitsus Musik beschreiben?

Für mich – und viele japanische Musikliebhaber – ist sie eine Verbindung aus klassischer Musiksprache und unglaublich suggestiven, phantasievollen Elementen. Sie arbeitet mit einfachen, manchmal ja fast kitschigen Harmonien. Da sind ganz besondere Farben, fast eine Art Lichteffekte in seiner Musik. Und er hat eine sehr spezielle Art, mit der Zeit umzugehen, um den Klang entstehen und wieder auslaufen zu lassen. Momente, wo es dichter wird und sich dann wieder entspannt. Es sind zeitgenössische Stücke, die Zuhörer trotzdem unmittelbar ansprechen.

In Japan existiert eine ausgeprägte »Kümmererkultur« – nervt es manchmal, auf Tourneen überumsorgt zu werden?

 Einerseits ist der Gast dort König, deswegen macht man alles für ihn. Andererseits wollen die Konzertagenturen sicher sein, dass alles gut geht – dazu gehört Kontrolle. Heraus kommt eine Superorganisation, die sich mi
t Spontanität nicht immer so gut verträgt. Inzwischen kann ich immerhin vorher anmelden, wenn ich mal einen freien Tag brauche, um etwas für mich zu machen. Früher wäre das unmöglich gewesen. Das Management hätte sich zu große Sorgen gemacht, ob ich es allein überhaupt schaffe, rechtzeitig zum nächsten Konzert zurückzukommen.

Wie gehst du mit dem Zeremoniell um?

Es wird bis heute enormer Wert auf respektvolle Formen gelegt. Wenn man sich besser kennt, kann man natürlich lockerer sein und schon mal »dreckige« Sachen erzählen (lacht). 

Grundsätzlich gilt, dass nicht viel schief gehen kann, wenn man höflich ist. Wenn man ein Mitglied der kaiserlichen Familie oder einen hochgestellten Firmenboss treffen soll, wird man vorher sehr gut in das Prozedere eingewiesen. Japaner unter sich erkennen an der Sprache sofort ihre Hierarchiestufe – nicht nur am Tonfall, sondern schon durch die Art der Ansprache. Es gibt z.B. Suffixe wie »-chan«, »-san«, »-sama« am Vor- oder am Nachnamen, die das regeln. Ich habe verschiedene Stufen durchlebt, inzwischen bin ich meistens »-sensei«, der Lehrende oder Wissende.

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Gibt es Dinge, die du nur in Japan tust?

Nudelsuppen essen (lacht). Nein, das mach’ ich auch in Berlin. In Japan esse ich immer einheimisches Essen: es ist enorm vielfältig, und ich kann nie genug davon kriegen. Etwas anderes, was ich wirklich nur hier mache, ist Reiki, eine Art Energie-Behandlung bei dem Mann einer früheren Studienkollegin. Er ist Energiemediziner, Kikko- und Tai-Chi-Meister, kommt immer in unsere Konzerte und strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Seine Massage lässt sich am ehesten mit Akupunktur ohne Nadeln vergleichen, ganz fein und filigran, geknetet wird da nicht. Trotzdem spürt man die Hitze jedes einzelnen Fingers durch den Stoff des Bademantels. Er hat mich ein paar Mal gerettet, als ich wegen der Zeitumstellung müde war oder unruhig. Ich weiß nicht genau, was er da macht, aber es wirkt. ¶

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