Den Loop muss man nicht erklären. Dafür fordert er die entwicklungsorientierte westliche Kunstvorstellung heraus.

Text Tilman Baumgärtel · Titelgrafik Alex Ketzer · Gif-Animationen davidope

Einmal habe ich Karlheinz Stockhausen live erlebt. Und ich erinnere mich, dass er mir damals irgendwie leid getan hat. 

Das muss 1999 gewesen sein, und in der Neuen Nationalgalerie in Berlin wurden die Hymnen und ein Auszug aus Licht gegeben – genauer gesagt, von der Festplatte abgespielt. Richtige Musiker/innen oder gar ein Orchester gab es nicht. Alles war vorproduziert, und der Gewinn des Konzertbesuchs gegenüber dem Hören einer CD bestand darin, dass man die Kompositionen in einem von Stockhausen angefertigten Raummix zu hören bekam. Die Nationalgalerie hat – was man wegen ihrer Marmorböden und Glaswände nicht glauben mag – einen ziemlich guten Klang, und für das Konzert war viel technischer Aufwand mit Batterien von unter der Decke hängenden Lautsprechern betrieben worden, die nach einem von Stockhausen ausgetüftelten Plan platziert worden waren. 

Vor dem Konzert trat er – damals bereits 71, aber noch in guter körperlicher und geistiger Verfassung – auf die Bühne, um dem Publikum die besonderen akustischen Eigenschaften der Lautsprecher und deren Positionierung im Raum zu erklären, wie auch die Tatsache, dass man ganz verschiedene Klangeindrücke haben würde, wenn man während des Konzerts den Kopf in verschiedene Positionen legen würde. (Ich habe das während des Konzerts auch probiert, aber leider keinen Unterschied feststellen können.)

Und, ja, wie er da mit hängenden Schultern auf der Bühne stand, machte Stockhausen – dem man ansonsten ja kaum mangelndes Selbstbewusstsein attestiert hätte – auf mich einen irgendwie niedergedrückten Eindruck. Was ich mir damit erklärte, dass er sich nun mit 71 Jahren immer noch vor die Leute stellen musste, um ihnen zu erklären, wie sie den Kopf beim Hören seiner Werke zu halten haben. 

Ich hätte ihn damals gerne an die Hand genommen und die paar hundert Meter zum Leipziger Platz – damals noch eine unwirtliche Stadtbrache – geführt, wo sich zu dieser Zeit der legendäre Technoclub Tresor befand. Ich hätte ihm gerne gezeigt, dass die elektronische Musik, bei deren Entwicklung er so eine wichtige Rolle gespielt hat, längst in der Jugend- und Popkultur angekommen war, dass junge Menschen zu den immer noch so futuristisch klingenden, elektronischen Sounds die Nächte durchfeierten und es keinen Grund gab, in der Neuen Nationalgalerie die Schultern hängen zu lassen. 

Zum Glück ist es nicht dazu gekommen. Stockhausen wäre höchstwahrscheinlich von den zu pumpenden Technobeats durchgeführten Saturnalien im ehemaligen Wertheim-Geldkeller entgeistert gewesen. Und der Gedanke, dass seine nach elaborierten Kompositionsprinzipien entwickelten elektronischen Klänge irgendetwas mit dem Tresor-Sound zu tun hätten, hätte ihn sicher empört. 

Als ihm die britische Musikzeitschrift »The Wire« 1996 die Werke einiger Techno-Produzenten zur Begutachtung vorlegte, fertigte er diese barsch ab und empfahl ihnen seine eigenen Werke zur Weiterbildung. Dem Technoproduzenten Daniel Pemberton etwa, der unter anderem mit The Prodigy und Orbital gearbeitet hat, schrieb er ins Stammbuch: »He likes loops, a loop effect, like in musique concrète, where I worked in 1952, and Pierre Henry and Schaeffer himself, they found some sounds, like say the sounds of a casserole, they made a loop, and then they transposed this loop. So I think he should give up this loop; it is too old-fashioned.«  

Zwei Jahre später ließ Die Zeit Stockhausen die Musik von Krautrock-Gruppen verkosten, von denen einige klar durch sein Werk beeinflusst waren. Abermals äußerte der Meister sich mit  adornitischer Strenge und konnte auch an dieser Musik wenig Diskutables finden: »Irrengesang« war noch einer der gewählteren Ausdrücke, mit denen er die Klangbeispiele bedachte. Und abermals war es – neben der »süßlichen« Harmonik – vor allen Dingen der repetitive Charakter der Musik, der ihn aufbrachte. 

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»Er redet die ganze Zeit davon, dass unsere Musik so repetitiv ist, aber seine Musik ist das genaue Gegenteil: so unrepetitiv, dass sie sich nie irgendwo hin entwickelt«, erwiderte der von Stockhausen gescholtene Daniel Pemberton im erwähnten Wire-Artikel. »Nicht unbedingt schlecht, aber es gibt darin keine Entwicklung … Ich finde, er sollte seine Musik ein bisschen mehr entwickeln. Versuch mal, ein paar Ideen zu wiederholen, an ihnen zu arbeiten, sie auszubauen …«  

Und der Techno-Konzeptkünstler Scanner erinnert an Brian Enos scheinbar paradoxe Einsicht »Repetition is a form of change«: »Das ist ein Konzept, dem man entweder zustimmt oder nicht. Ich mag Wiederholungen; ich mag die Arbeit von Richie Hawtin aus genau diesem Grund. Es ist eine religiöse Erfahrung … es ist ein unglaubliches Gefühl, wie es einen bewegt, besonders auf der Tanzfläche.«   

Stumpf, langweilig, geistlos, öde – so erschien Techno ja übrigens auch vielen Rockfans (deren Lieblingsmusik von ihren Eltern freilich als ebenso monoton abgetan worden war). Die Arbeit mit Aufzeichnungsmedien wie Schallplatten, Tonband, analogen S
equenzern bis hin zu digitalen Samplern und letztlich dem Computer hat zu einer Wiederentdeckung und Neubewertung von repetitiven Strategien in der Musik geführt. 

Es gibt aber eine verblüffende Vielseitigkeit und Flexibilität, die die Methode des Loops als musikalisches Werkzeug bietet. Beginnend mit den frühen »Lärm-Etüden« von Pierre Schaeffer werden Loops zu Grundelementen von so verschiedenen Avantgarde-Musikrichtungen wie der Musique Concrète oder der Minimal Music. Und ja, auch Stockhausen selbst hat zu Beginn seiner Karriere mit Tonbandschleifen gearbeitet, auch wenn man das Werken wie der Studie II von 1954 nicht anhören mag. (Die Methode des Tonband-Loops hat er übrigens von Schaeffer gelernt, dessen Werk er in dem Gespräch mit »The Wire« und auch bei anderer Gelegenheit gerne klein redete.) Elvis und später die Beatles integrieren diese Methode in das Vokabular der Popmusik, was letztlich zu Musikstilen wie Techno, House oder Hip Hop führte. 

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Loop-basierte Musikstile wie Techno oder Hip Hop oder wie auch die Minimal Music – die sich in ihrer Frühzeit gegen ebensolche Ressentiments wie Techno bis hin zum Faschismusvorwurf verteidigen musste – widersprechen auf einer ästhetischen Ebene unserer Vorstellung von Musik als etwas, das sich verändern und weiterentwickeln muss – wie wir es im Musikunterricht in der Schule beigebracht bekommen haben. Sie macht ein Konzept von Zeit sinnlich erfahrbar, das dem westlichen Fortschrittsglauben ebenso widerspricht wie der teleologischen Annahme, dass sich die Welt und unser Leben auf bestimmte Ergebnisse hinbewegt und sich alles fortwährend weiter entwickelt – sei es zum Besseren, sei es zum Schlechteren. 

Loop-basierte Musik handelt von der Zeit als einem Kreis, nicht als Pfeil, der auf ein Ziel zuschießt – um die Terminologie aufzunehmen, die Stephen Jay Gould in seinem Buch Time´s Arrow, Time´s Cycle entwickelt hat. Und damit macht Loop-Musik eine Zeiterfahrung sinnlich erlebbar, die sich mit unserer Wahrnehmung von den zyklischen Prozessen deckt, die wir von den größten kosmischen Prozessen – der Bewegungen der Planeten, den dadurch ausgelösten Gezeiten – bis in die mikroskopisch kleinsten Vorgänge, unserem Herzschlag, oder der Zellteilung kennen. Letztlich sind die meisten Prozesse in der Natur zyklisch, was nicht heißt, dass sie nicht auch enden können. 

Es geht mir nicht darum, das eine ästhetische Prinzip gegen das andere auszuspielen. Stockhausens Musik kann genauso tief bewegende ästhetische Erfahrungen auslösen wie eine Nacht auf einer mit pumpendem Techno beschallten Tanzfläche, einer Aufführung von Terry Rileys In C oder von Drumming von Steve Reich. 

Aber die Auseinandersetzung mit Loops liefert wenigstens einen Teil der Antwort auf die Frage, die der britische Journalist David Stubbs in seinem Buch Fear of Music provokativ stellt: warum die Leute Rothko kapieren, aber nicht Stockhausen. Warum die avantgardistische und experimentelle bildende Kunst der Nachkriegszeit heute dem interessierten Publikum wesentlich leichter zu vermitteln ist (wenn sie überhaupt vermittelt werden muss) als die Musik, die zur selben Zeit und aus ähnlichen Gründen entstanden ist. Oder warum Karlheinz Stockhausen am Ende seines Lebens immer noch bei einer Aufführung seiner Werke vors Publikum treten musste, um ihm die korrekte Rezeptionshaltung bis hin zur korrekten Positionierung des Kopfes zu verklickern. 

Es gibt berechtigen Grund zur Annahme (und in meinem Buch über Loops versammle ich einige Indizien dafür), dass Daniel Pemberton nicht ganz unrecht hatte: Weil Stockhausen die unglaublichen Klänge, die er geschaffen hat, nie in einer vom/von der Hörer/in nachvollziehbaren Rhythmik organisiert hat, hat er jener/m auch die Chance genommen, sich diesen Klängen auf eine Weise zu nähern, die den Bedingungen unserer auf Wiederholung gepolten Wahrnehmung entsprach. Dafür spricht auch die Tatsache, dass spätere Techno-Produzenten ihr Publikum mit dem wüstesten Lärm strafen konnten, so lang dieser nur durch Loops metrisch organisiert war. 

Nicht dass ich mir ernsthaft vorstellen könnte, dass Stockhausen jemals in seiner Musik hörbare Loops eingesetzt hätte. Als jemand, der die Instrumentalisierung von repetitiver Musik durch den Nationalsozialismus erlebt hatte, war er für jedes Verständnis für die so entstehenden schlichten Kopfnick-Metren verloren. 

Aber, verdammt, jetzt tut es mir doch leid, dass ihn niemand jemals in den Tresor mitgenommen hat. So sehr er sich darüber wohl später beschwert hätte.¶


Das Buch (Schleifen. Zur Geschichte und Ästhetik des Loops von Tilman Baumgärtel zeigt anhand einer historischen Darstellung des Einsatzes von Loops, dass die so entstandene repetitive Musik – wie Minimal Music, Hop Hop oder Techno – nicht so regressiv ist, wie Stockhausen (und mit ihm mindestens eine ganze Generation von Avantgarde-Komponisten) geglaubt haben. 

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