Für manche Leipziger sind die Denkmäler in den Köpfen genau so wichtig wie die auf den Straßen.
Es war natürlich nicht so, dass ich eines Morgens am Fenster meiner Leipziger Innenstadtwohnung stand, den dampfenden Kaffeebecher in der Hand, den Bademantel locker geknotet, hinaus auf den Promenadenring blickte und mich fragte: »Warum steht da eigentlich ein Denkmal für den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy?« Denkmäler sind unsichtbar, das hat schon Robert Musil gesagt, darum bemerkte ich nicht, auf wessen Kopf da tagtäglich die Tauben saßen, dass sie überhaupt dort saßen.
Nein, Schludrigkeit zwang mich, die Augen zu öffnen! Ich brauchte dringend einen Schein, das Denkmal wurde mir von der Uni zugeteilt, so dass ich nicht mehr vorbeischauen konnte. Ich beschäftigte mich ein bisschen damit, beschäftigte mich etwas mehr damit, und plötzlich fand ich mich im Postverkehr mit rechtsradikalen Verlagen wieder, und angesehene Mitglieder aus der berühmten Mitte der Gesellschaft wollten Einfluss nehmen. Das alles nur, weil ich mich mit einer Leipziger Denkmalgeschichte beschäftigt hatte, deren Zündschnur bis ins Heute reichte. Aber erst mal bis zu Richard Wagner.
Leipzig ist eine Musikstadt. Es gibt viele Komponisten, denen man hier ein Denkmal setzen könnte. Telemann, Schumann, Grieg, Gade, Albeniz, Janáček und andere waren hier tätig. Heute ist Leipzig vor allem Bach-Stadt, aber das war nicht immer so: Erst vor knapp zweihundert Jahren wurde Bach wiederentdeckt, unter anderem vom damaligen Stern des Leipziger Musikhimmels, Felix Mendelssohn-Bartholdy. Von 1835 bis 1847 lebte dieser – mit Unterbrechungen – hier, komponierte, hielt Salons ab, hob als engagierter Gewandhauskapellmeister das Orchester auf ein neues Niveau. 1843 gründete er das erste Konservatorium Deutschlands, bis heute zieht dessen Nachfolgerin, die HMT, frische Musikergenerationen nach Leipzig. Er war ein einflussreicher Bürger der Stadt, den man 1892, fünfundvierzig Jahre nach seinem Tod, in einem großen Persönlichkeitsdenkmal würdigte. Hoch aufgesockelt stand es vor dem damaligen Gewandhaus.
Dann kamen die Nazis. Die Tatsache, dass Mendelssohn als Kind protestantisch getauft und erzogen worden war, minderte nicht seine Verfemung. Schon Wagner hatte ihn in seinem antisemitischen Pamphlet Das Judenthum in der Musik 1869 verhöhnt, 1936 stürzten unbekannte Mitglieder der Leipziger Stadtregierung in einer nächtlichen Geheimaktion sein Denkmal vom Sockel. Es verschwand für immer, wahrscheinlich wurde Munition daraus. (Das Denkmal, auf das ich nun aus meiner Wohnung blickte, war eine Rekonstruktion eben dieses einst gestürzten Feindbilds. 2008 stellte man es in der Leipziger Innenstadt auf, allerdings nicht in Gewandhausnähe, sondern auf einen Grünstreifen am Promenadenring vor den Haupteingang der Thomaskirche. Das muss betont werden, doch dazu später.)
Nach dem Sturz des Mendelssohn-Denkmals legte der damalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler (parteilos, 1945 als Widerstandskämpfer hingerichtet) sein Amt nieder. Ausgerechnet dieser Mann hatte 1933 noch dazu beigetragen, dass Adolf Hitler auf ein ganz anderes Denkmalprojekt aufmerksam geworden war. Schon seit längerem hatte man in Leipzig ein Monument für den dort geborenen Richard Wagner geplant. Einen Entwurf gab es schon, aber das Geld fehlte. Goerdeler hoffte deshalb, dass die neue Regierung das Projekt finanziell unterstützen würde. Hitler allerdings zeigte sich so begeistert, dass er das geplante Werk kurzerhand zum Nationaldenkmal beförderte. Der Bildhauer Emil Hipp hatte seinen Entwurf, einen reliefverzierten Marmorblock, jetzt den Wünschen des Führers entsprechend als »Richard Wagner Nationaldenkmal des Deutschen Volkes« zu erweitern. Er konzipierte eine gigantische, mauernumspannte Platzanlage. Reliefs zeigten Parsifal, Rienzi, Siegfried und die Anderen als muskulöse, kriegsbereite Männer. Eine Wagner-Darstellung war nirgends vorgesehen, stattdessen ließ Hitler hier vor allem NS-Ideale und sich selbst inszenieren. Als er am 6. März 1934 in einer pompös angelegten Feier den Grundstein legte, sang ein mit 1.600 Sänger/innen besetzter Chor nicht nur Teile aus Wagners einzigem geistlichen Chorwerk (Das Liebesmahl der Apostel), sondern auch den Halleluja-Chor aus Händels Messias.
Das »Richard Wagner-Nationaldenkmal des Deutschen Volkes« wurde nie vollständig errichtet. Obwohl alle Bestandteile fertig waren, erschwerte sich ihr Transport im Laufe der Kriegsjahre. Emil Hipp kämpfte bis zu seinem Tod für die Aufstellung seines »Lebenswerks«, doch niemand in Leipzig wollte jetzt noch ein Denkmal für Hitlers Lieblingskomponisten. Es solle endlich Schluss sein mit dem »monströsen Wagnerkult«. Stattdessen stellte man schon 1947 eine kleine Mendelssohn-Büste vor das kriegszerstörte Gewandhaus.
Bruchstücke des Wagner-Nationaldenkmals lagern heute noch in Hipps einstigem Atelier in Kiefersfelden. Fotos davon sind im vom Verfassungsschutz beobachteten Grabert-Verlag erschienen, auch der französische Rechte Alain de Benoist hat sich ein wenig damit befasst. Im Jahr 2008 plädierte der Leipziger Richard-Wagner-Verband für die nachträgliche Errichtung des Denkmals. Er begründete diesen Wunsch unter anderem damit, dass doch auch das Mendelssohn-Denkmal rekonstruiert worden sei und von der Bevölkerung gut »angenommen« werde. Dieser »Bezug zu einer Tradition« solle auch im Zusammenhang mit Wagner zur Geltung kommen. Zur Zeit meiner Recherchen stellte mir selbiger Verband, vermeintlich gönnerhaft, eine finanzierte Veröffentlichung in Aussicht – gewiss unter Voraussetzung bestimmter Aussparungen und »korrigierender« Ergänzungen. So sei zum Beispiel Hipps Entwurf kaum als nationalsozialistisch zu bewerten, der Künstler vollkommen unpolitisch.
Dabei ist gerade die Rekonstruktion des Mendelssohn-Denkmals weit weniger traditionell, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Deutlich wird dies, wenn man einen Blick auf die Musikkritik und musikwissenschaftliche Literatur der vergangenen Jahrzehnte wirft. 2002 veröffentlichte der Musikwissenschaftler Albrecht Riethmüller einen Artikel unter dem Titel
Das »Problem« Mendelssohn, anlehnend an den 1974 von Carl Dahlhaus herausgegebenen Sammelband Das Problem Mendelssohn, der noch ohne Anführungszeichen auskam. Riethmüller legt dar, dass auch nach 1945 eine unbestimmt festgemachte »Ambivalenz« gegenüber der Person und Musik Mendelssohns bestehen blieb. Diese sei »rückprojiziert« worden in das eigentliche musikalische Werk. So sei eine Auseinandersetzung mit Mendelssohn auch nach Ende des NS-Regimes jahrzehntelang vor allem mit Relativierungen verknüpft gewesen. Der Standort des rekonstruierten Denkmals spiegelt diese Neigung wieder. Hier steht Mendelssohn nicht wie ursprünglich im Kontext seines eigenen Wirkens, sondern vielmehr im Zusammenhang einer in Leipziger verankerten Erinnerungskultur um Bach. Mendelssohn als ehrbarer Wiederentdecker, als Torhüter eines noch größeren Denkmals: der Thomaskirche mitsamt ihrer Johan Sebastian Bach-Grabstätte. »Angenommen« wird das Denkmal nicht zuletzt auch deshalb, weil der Akt der Rekonstruktion selbst einen Symbolcharakter darstellt, nämlich das nachträgliche Trotzen wider eine Diktatur.
Auch wenn der Vorschlag des Richard Wagner-Verbands auf Unverständnis stieß – in Leipzig mehrten sich um das Jahr 2008 herum die Stimmen weiterer Wagner-Verehrer: Bis zum 22. Mai 2013 (dem 200. Wagner-Geburtstag) müsse die Stadt endlich ein Wagner-Denkmal vorweisen können. Der Hipp-Entwurf war nämllich schon das zweite gescheiterte Projekt; 1904 schon war Max Klinger beauftragt worden. Der hatte eine fünf Meter hohe Monumentalskulptur entworfen, die bis auf den Sockel nie fertig wurde; vielleicht auch deshalb, weil Klinger zeitgleich mit einem Denkmal für seinen Lieblingskomponisten (und Wagner-Antipoden) Brahms beschäftigt war und Wagners Opern ihm wie ein anstrengender »Renaissance-Bier-Palast« vorkamen.
Im 21. Jahrhundert geriet Klingers Entwurf wieder ins Licht der Aufmerksamkeit. Gleich drei verschiedene Leipziger Wagner-Vereine diskutierten die neue Denkmalfrage und verdeutlichten dabei, dass Wagner auch seine Anhänger stark polarisiert. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner gabe es: die Erinnerung an Wagner in seine Geburtsstadt zurückzuholen. Gar nicht so einfach, denn woran könnte man diese knüpfen? Bach und Mendelssohn hatten an zahlreichen Orten in Leipzig gewirkt – aber Wagner? Verließ die Stadt als Kleinkind. Kam später für kurze Zeit als Schüler und Student zurück, kehrte der Stadt dann den Rücken und erreichte anderswo seine Erfolge. Trotzdem, Wagner ist doch Leipziger! So ließ der Wagner-Verband kurzerhand einfach Straßenbahnwaggons mit eben dieser Aussage bekleben: »Richard ist Leipziger …«
Die Bahnen drehen seit 2008 ihre ratternden Runden und führen den Leipzigern gezwungenermaßen vor Augen, was sie jahrzehntelang kaum interessierte. Als Mitfahrer/in kann am Goerdelerring seit Mai 2013 daraus auch einen Blick auf das erste Leipziger Wagner-Denkmal erhaschen. Nach erbittert geführten Diskussionen wurde es errichtet, wo vor hundert Jahren der Klinger-Entwurf stehen sollte. Obwohl konservative Wagner-Verehrer gegen eine moderne Vollendung des Klinger-Sockels gewettert hatten, (»Keinen Witz-Wagner auf noblen Klinger-Sockel!«) beauftragte die Stadtregierung den Bildhauer Stephan Balkenhol mit der Vollendung.
Eine lebensgroße, also verhältnismäßig kleine Wagner-Figur steht heute auf dem knapp drei Meter hohen Klinger-Postament. Dahinter erhebt sich ein vier Meter hoher, dunkler Schatten. Er ist den Umrissen des Klinger-Entwurfs nachempfunden und gleichzeitig ein vielfältig zu interpretierendes Symbol. Wagner als Mensch vor dem Hintergrund seines eigenen Werks, das laut Balkenhol »wie ein Schatten über ihn hinauswachse«. Wagner vor dem Hintergrund des NS-Kults, also auch vor dem Hintergrund einer Leipziger Denkmalgeschichte, die den Komponisten noch heute in ein fahles Licht stellt. Zwei Kilometer entfernt bezeugen poröse Mauerreste die einst geplanten Ausmaße des Hipp-Entwurfs am Richard Wagner-Hain. Dort finden mittlerweile Hörspielsommer, Open-Airs und Picknick statt. Auch wirklich unsichtbare Denkmäler können also lange Schatten werfen.¶