Die aufgekratzte Freude des Neubeginns beim Ensemble Resonanz im Resonanzraum ist nun vom Vertrauten und Familiären aufgefüllt, alle offizielle Feierlichkeit ist dem befreiten Abhängen gewichen. Wenn Gastmusiker/innen zu »urban string« eingeladen werden, erinnert das Format jetzt ein wenig an die Sendung »Zimmer frei!« im WDR, in der prominente Gäste ihre WG-Tauglichkeit unter Beweis stellen müssen.Heute ist es Kit Armstrong. Kit Armstrong war mal Wunderkind. Mit zehn war er in David Lettermans »Late Show« zu Gast, ein Youtube-Video zeigt ihn als Achtjährigen, wie er Bachs d-Moll-Klavierkonzert spielt – spielt, auch wenn die Audioqualität schwach ist. (»I get goosebumps watching a brain like that«, kommentiert User John Smith.)Armstrong ist eine Allesbegabung. Er besitzt ein Gehirn, in dem sich die chaotischen Formen symbolischer Repräsentationen schnell zum System verfangen, während sie bei den meisten nur amorphe Schlieren ziehen. Mit neun begann er an der Utah State University Biologie, Physik und Mathematik zu studieren. 2003, mit 12, machte er am Curtis Institute of Music mit Klavier weiter, parallel Chemie und Mathematik an der University of Pennsylvania. Von 2004 bis 2008 dann reine Mathematik am Imperial College in London und an der Royal Academy of Music Klavier und Komposition. Bei ihm scheint die Lust aus der Struktur zu kommen, function follows form.

Wenn die Salonière des Abends, Ensemble-Cellistin Saerom Park, mit ihm über das Leitmotiv »Plüsch« plaudert oder er später mit Mitgliedern des Ensembles Schostakowitsch, Kagel und eine eigene Komposition spielt, schaut er manchmal leicht irritiert, als ob er sich fragt, wohinein er da jetzt geraten sei. Aber passen tut er trotzdem in die Wohngemeinschaft, vielleicht weil ihm alles affektierte und jede hohle Gestik abgeht.Dabei schrieb sich bei ihm die Wunderkind-Nummer zunächst in Linearität fort. Alfred Brendel nennt ihn beim eigenen Bühnenabschied die »größte Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin«. An solchen Staffelübergaben konstruieren sich künstlerische Abstammungslinien, sie aktivieren Seilschaften, Freundschaften, Pfründe, sie sind eine Rampe, um ans Klassikfirmament geschossen zu werden. Später steht man dann im Funkenregen des verglühenden Shootingstars und keiner will es gewollt haben. Kit Armstrong dagegen zieht einfach die Reißleine und springt über der Église Sainte-Thérèse-de-l’Enfant-Jésus im nordfranzösischen Hirson ab. Vielleicht müssen wir es uns aber auch weniger als Absprung und eher als das vergnügte Verlassen einer schlechten Party vorstellen, nach der man noch etwas Besseres vor hat. Im Februar 2012 besucht er die 1931 fertiggestellte Art-déco-Kirche zum ersten Mal, ein Jahr später kauft er sie und schafft dort seine eigene Künstler-Einsiedelei. Im Juni 2014 findet das Eröffnungskonzert statt, seitdem gibt es eine regelmäßige Veranstaltungsreihe mit musikalischen Freunden. Er ist ein Solitär, der zwar auch pragmatisch auf der Klaviatur des Betriebs spielt und sich auch mal darüber belustigt, jenseits davon jedoch vor allem sein Ding macht.Am Tag nach »urban string« treffen wir Kit Armstrong zum Interview und steigen hoch auf das Dach des Bunkers an der Feldstraße. Was ist das merkwürdige an einer Unterhaltung mit Kit Armstrong? Ein Gefühl, als hielte man sich an einem anderen Ort, in einer anderen mentalen Landkarte auf, auch wenn man über dasselbe spricht, wie in der buddhistischen Lehre von den zwei Wahrheiten. Er ist zurückhaltend, aber nicht schüchtern, er spricht leise, aber selbstbewusst. Sein deutsch ist auf eine etwas altertümliche Art perfekt. Vielleicht wirkt es aber auch nur altertümlich, weil es perfekt ist. Er hat es sich mit dem Wörterbuch beigebracht, um deutsche Operntexte lesen zu können.

VAN: Gestern hast du hier im Hochbunker gespielt, letzte Woche in deiner Kirche in Hirson. Hat diese für dich eine Bedeutung als religiöser Ort?
Kit Armstrong: Eigentlich nicht, die Kirche ist bereits vor zehn Jahren entweiht worden, in der Stadt gibt es noch eine andere, ältere Kirche, die auch als solche genutzt wird.
Du wohnst jetzt auch in deiner Kirche?
Ja, sie hat zwei Teile, den großen Saal, in den 600 Personen passen, und die frühere Sakristei, in der ich für mich eine Wohnung habe herrichten lassen.
In der es bisher noch keine Küche gibt, wie du gestern im Konzert erzählt hast. Wie hast du dich ohne ernährt?
Es gibt da eine Kochplatte (lächelt). Aber die Küche kommt nächste Woche.
Hirson hat nur 9.000 Einwohner, da ist ein Konzertraum für 600 Zuschauer ganz schön groß. Wie wurdest du mit deinem Projekt dort aufgenommen?
Bisher war es immer erstaunlich voll, zum Eröffnungskonzert kamen 620 Besucher, das war fast zu ungemütlich, jetzt sind es immer um die 500 herum. Ich habe einen Verein gegründet für die Freunde des Projekts. Das Gebäude ist in meinem Privatbesitz, aber das Projekt gehört der Bevölkerung. Ich verändere auch nichts wesentliches am Gebäude, weil es schon eine sehr schöne und warme Beziehung zwischen ihm und den Einwohnern gibt, die auch in Zukunft weiter existieren soll.
VIDEO VOM ERÖFFNUNGSKONZERT IN DER ÉGLISE SAINTE-THÉRÈSE-DE-L’ENFANT-JÉSUS IM NORDFRANZÖSISCHEN HIRSON AM 3. JUNI 2014
Deine Mutter kommt aus Taiwan, du bist in Los Angeles geboren, wohnst in einer nordfranzösischen Kirche, sprichst viele Sprachen. Brauchst du ein Heimatgefühl?
Vielleicht habe ich patriotische Gefühle für die Menschheit. Wenn wir einen Krieg erleben, wo es um Menschen gegen Außerirdische geht, wäre ich schon sehr für die Menschen, aber auf ein Land beschränkt ist es mir kein vertrautes Gefühl.
Brauchst du Inspiration aus deinem Umfeld?
Auch Impulse von außen kommen von innen, oder? Manchmal lasse ich mich aber sehr direkt von der bildenden Kunst inspirieren.
Zum Beispiel?
Ein Beispiel, das noch nicht manifestiert ist: Ich war vor ein paar Jahren in Taiwan, da gibt es in diesem wunderbaren Palastmuseum in Taipeh eine Gemäldealbum, das aus 25 Porträts (Wu Bin [ca. 1550 bis ca. 1621], Twenty-five Buddhist Figures of Perfect Wisdom from The Shurangama Sutra, Ming dynasty, Anm. der Redaktion) von Unsterblichen besteht, die eine gewisse Geistesverfassung erreicht haben und in vollkommenem Frieden mit der Welt und dem Universum leben. Das Frappierende bei diesen Bildern war, dass diese Menschen trotz der gemeinsamen Geistesverfassung als sehr unterschiedliche Charaktere dargestellt worden sind. Und ich habe gedacht, das wäre auch ein sehr interessantes Musikstück, weil es letztlich auch das ist, worum es in der Musik geht.
Mit dem Ensemble Resonanz spielst du Chopins 1. Klavierkonzert. Chopin spielst du eigentlich nicht so oft im Konzert, oder?
Ja, komischerweise habe ich gerade die Chopin-Konzerte in letzter Zeit eher selten gespielt, ich weiß nicht warum, vielleicht wollen die Veranstalter das von mir nicht (lacht). Das 1. Klavierkonzert habe ich so vor drei, vier Jahren etwas viel im Programm gehabt, da war fast jedes zweite Konzert mit diesem Stück, und ich habe mich schon gefragt, was das soll. Aber am Dienstag ist es was anderes, ein kleines Ensemble, eine andere Fassung (Bearbeitung für Klavier und Streichorchester von Richard Hofmann, d. Red.), ein neues Erlebnis, darauf freue ich mich total.
Gibt es bei dir »Lebensabschnittskomponisten«, die du eine Weile viel gespielt, und dann beiseite gelegt hast?
Beethoven vielleicht. Als ich in Curtis studierte, bei Claude Frank, einem Schüler von Schnabel, da war meine Begeisterung und Verwunderung für diese Musik fast grenzenlos. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem ich festgestellt habe, dass Beethoven mich nicht braucht. Es ist nicht meine Priorität, mich für schon bekanntes einzusetzen, was schon zu einer Legende geworden ist. Es gibt in der Geschichte soviel Musik, die noch auf der Suche nach einem Interpreten ist.
Zum Beispiel?
Ich möchte die Renaissancemusik für Tasteninstrumente aus der englischen Schule wieder in die klassische Literatur einführen. Das ist für mich ein sehr schöner und wesentlicher Teil der Musikgeschichte.
Wie näherst du dich dem? Wo fängst du an?
Bei solchen Entdeckungen finde ich es immer wichtig, den eigenen ersten Eindruck nicht zu verlieren, weil das für viele Leute eben auch der erste Eindruck sein wird. Ich empfand es so, dass man der Musik nicht so gut folgen konnte, vor allem auf dem Cembalo. Ich finde immer noch, dass eine Musik wie die von William Byrd, die so vokal angelegt ist, auch eines Instrumentes bedarf, auf dem man »singen« kann, also: den Stimmen unterschiedliche Charaktere verleihen und die Linien besser gestalten kann, so dass das Stück dadurch plastisch wird. Auf dem Cembalo fällt das beim ersten Hören nicht so auf, und das ist für mich ein wichtiger Punkt. Vielleicht bin ich da von meinem Beruf sehr beeinflusst, von der Tatsache, dass ich normalerweise bei jedem Publikum nur eine Chance habe, etwas rüberzubringen.
Wie oft wünscht du dir, dass es anders wäre?
Das mache ich in meiner Kirche, wo mir die Präsentationssituation viele Möglichkeiten für die Interpretation eröffnet. Oft muss man auswählen zwischen dem, was man sofort versteht, und dem was man interessant fände, wenn man das andere schon verstanden hat. Und im Konzert muss man manchmal das machen, was offensichtlich ist, was das Stück auf der Oberfläche will, aber vielleicht nicht unbedingt darunter. Kunst als Information oder Kunst als Unterhaltung sind zwei Extreme. Für die Kunst als Unterhaltung ist das Konzerterlebnis das Entscheidende. Und ich fühle mich da auch verführt.

Siehst du dich als Komponist als Teil einer Szene oder Schule?
Ich gehöre zu keiner festen Schule, das Komponieren ist für mich etwas persönliches, ich verstehe es nicht als eine Arbeit oder einen Dienst, den ich zur Weiterentwicklung der Musik leiste. Heute strahlen die meisten Komponisten ein gewisses Satellitengefühl aus, das ist gar nicht schlecht, finde ich. Trotzdem merke ich, dass Neue Musik allmählich mehr im Mainstream ankommt.
Woran machst du das fest?
Wenn wir an Filmmusik denken. Da gab es eine ganze Periode, in der sie ihrer Zeit hinterherhinkte, es wurde immer kitschiger und spätromantischer. Jetzt wäre es wieder akzeptabel und vorstellbar, in Filmen etwa Zwölftonmusik zu verwenden. Die Kunst des Komponierens ist in so einer Phase, in der sich eine neue Ästhetik herauskristallisieren muss. Und das ist noch nicht geschehen. Ich kann mir vorstellen, dass am Ende des 14. Jahrhunderts die französische Komposition in einer ähnlichen Situation war. Zwei Generationen nach Guillaume de Machaut haben die Komponisten so komplex, manchmal unnötig kompliziert und raffiniert und künstlich geschrieben, dass es in dem Sinne nicht weiterging, und dann war die Zeit reif für eine neue Ästhetik, also zum Beispiel die Renaissancemusik von John Dunstable.
Und warum meinst du, dass wir gerade wieder an dem Punkt sind?
Weil es so viele verschiedene Richtungen gibt. Das war immer ein Zeichen dafür, dass es einen gewissen Zeitgeist in der Kunst gegeben hat, der ausgeschöpft war. Vielleicht war das auch ein bisschen die Übergangsphase vom Barock zur Klassik, die Barockmusik wurde so manieriert, so unnatürlich, dass man dadurch die frühklassische Musik geschätzt hat, die für uns heute gar nicht interessant ist, weil sie so einfach und platt ist. Und das ist vielleicht die Popmusik. Ich hoffe sehr, weil es das Potenzial für extrem Schönes hätte, dass sich die Musikwelt noch mal vereint, dass das Populäre aufgenommen wird, indem man einfach ein gemeinsames Klang- oder Bedeutungsbild innerhalb der Möglichkeiten der klingenden Musik findet. ¶