Rund 55.000 Menschen arbeiten in Deutschland als Freischaffende für die Musik. Schon vor Corona taten sie das überwiegend am Existenzminimum, jetzt stehen sogar Spitzenensembles am Abgrund. Volker Hagedorn fragt sich, was die Arbeit dieser Künstler:innen für unsere Gesellschaft bedeutet.
Mich erreichte die erste Absage auf der Rückreise von einer Lesung, der letzten für unabsehbare Zeit. Immerhin verbunden mit dem Angebot, mir die Hälfte des Honorars zu erstatten. So etwas können sich nur wenige Veranstalter und Festivals leisten, oder besser: konnten. In den zehn Tagen seitdem sind Europas Podien so vollständig stillgelegt worden, dass es völlig unmöglich ist, auf Basis der geplanten Etats Künstlern auch nur einen Bruchteil dessen zu zahlen, womit sie gerechnet hatten – den Freischaffenden, wohlgemerkt, von denen jetzt deutlicher wird denn je, wie viele es sind, die mit Auftritten, Unterricht, Vermittlungsarbeit die Kultur am Leben halten. Es sind in Deutschland allein im Bereich der Musik rund 55.000 Menschen.
Es wird einiges deutlich inmitten eines Ozeans von Ungewissheiten und existentiellen Ängsten. Wer in dem angenehmen Bewusstsein lebte, dass Deutschland über die weltweit höchste Dichte musikalischer Institutionen und Festivals verfügt, sieht diese Dichte jetzt durch eine geradezu dröhnende Stille bestätigt, aber keineswegs ihre Stabilität. Ein Kulturleben, bei dem Menschen mit Seele und Leib zusammenkommen, dieselbe Luft atmend, Stunden ihres Lebens und erweiterte Perspektiven miteinander teilend, ist so generell auf Null gefahren worden, wie es über die Jahrhunderte hin nicht einmal in den Kriegen geschah.
Und das mit einer Rasanz, die eine zähe alte Frage ans leere Ufer steigen lässt: Ist Kultur »ein angenehmer Luxus, nice to have, aber im Grunde entbehrlich«? So beschreibt Daniel Graf im Onlinemagazin »Republik« eine von zwei »gleichermassen irrtümliche [n] Vorstellungen über die gesellschaftliche Rolle von Kultur. Der ersten zufolge kommt sie dann ins Spiel, wenn die wirklich wichtigen Dinge getan sind…« Es geht in seinem Essay zwar um Demokratie und nicht um ruinierte Akteure, in der Konsequenz aber doch. Das Widersprüchliche und Diverse der Kultur (und nicht eine »Schule der Tugend«, laut Graf der andre Irrtum) ist ein Kern von Demokratie und eben kein Sahnehäubchen, das in Krisenzeiten mal eben weggepustet werden darf.
Natürlich verschwindet dieser Kern nicht gleich, wenn notwendigerweise auf unbestimmte Zeit alles storniert wird, was mit realem Kontakt zu tun hat. Dass er aber schwer und nachhaltig beschädigt werden kann, ist offenbar auch der Bundesregierung klargeworden, die am vergangenen Freitag bekanntgab, dass Bund und Länder in Abstimmung mit den Kommunen »im erforderlichen Umfang Finanzhilfen (…) insbesondere für freie Kulturschaffende« zur Verfügung stellen wollen. Eine Absichtserklärung, für deren Umsetzung die Zeit knapp wird – viele Kulturschaffende arbeiteten schon vor Corona am Existenzminimum. Auch Spitzengruppen wie das Ensemble Modern, die eine Grundförderung erhalten, durften laut Zuwendungsrecht nie Rücklagen bilden und stehen nach Absage sämtlicher Konzerte am Abgrund.
Schnell wurden zahlreiche Eigeninitiativen auf die Beine gebracht. Sollte die Politik ihnen nicht beistehen, wäre das eine Bankrotterklärung der Zivilisation. Es geht wie bei fast allen Selbstständigen um soziale Not, dazu aber um eine unschätzbare Struktur aus in Deutschland rund 400 Ensembles, die sich nicht reanimieren lässt, wenn sie nach drei Monaten erstickt ist – und für die keine Hilfsgelder auf schnellem Weg sind, wie sie Bayern jetzt bedrohten Unternehmen garantiert. Machen wir zur Orientierung mal eine Milchmädchenrechnung auf: In Deutschland konzertieren hauptberuflich rund 7.500 freischaffende Klassikprofis. Eine Kompensation von 10.000 Euro pro Kopf ergäbe einen Betrag von 75 Millionen Euro. So viel enthält der aktuelle Euro-Jackpot. Das ist jedenfalls keine Dimension, die die Politik in Schreckstarre versetzen müsste, noch weniger mit Blick auf die Synergieeffekte des Kulturlebens.
Zu dem gehören auch die öffentlich finanzierten Theater und Orchester, die keineswegs auf der sicheren Seite sind. Schon vor zwei Wochen schätzte Gerald Mertens von der Deutschen Orchestervereinigung, dass die Häuser zwar bis zu 20 ausgefallene Spieltage »wegdrücken« könnten, aber alles darüber hinaus massive Spuren hinterlassen werde. Unnötig zu sagen, dass weniger abgepufferte Formationen (und Jazzer und Clubs und alle weiteren, die jede Milchmädchenrechnung sprengen) sich jetzt nicht mit Spuren, sondern Schneisen befassen. Wer noch irgendetwas zu arbeiten hat – etwa Musik komponieren für die Zeit, in der wieder gespielt werden kann – und Kinder dazu, ist mit dem Abfassen von Begründungen zur Notbetreuung beschäftigt.
Wie immer macht die Not auch erfinderisch, und digitale Liveübertragung, die lange nicht recht einschlug, findet jetzt ein großes Publikum, bis hin zu Twittersonaten aus der Pianistenwohnung. Bei Geisterkonzerten vor leeren Reihen wird aber deutlich, was eigentlich Kunst in echter menschlicher Präsenz bedeutet. Bei Liveauftritten geschieht etwas nicht zu Ersetzendes, mit Folgen selbst für die, die es gar nicht interessiert. In der DDR träumte auch nicht jeder davon, auf den Eiffelturm zu klettern. Aber es prägt das Bewusstsein, diese Möglichkeit überhaupt erwägen zu können. Was, wenn nun der Eiffelturm selbst schwankt? Die Livekultur droht schweren Schaden zu nehmen über die Zeit hinaus, in der sie nicht stattfindet – parallel zu einer Demokratie, die durch Zwangsmaßnahmen unvorbereitet ins künstliche Koma versetzt wird.
Wenn so viele Gewissheiten perforiert werden, muss man auch daran erinnern, dass Kultur kollektive Erfahrungen und Traumata umfasst, an denen wir unsere eigenen besser erkennen können. »Vnter andern freyen Künsten«, schrieb Heinrich Schütz 1636, mitten im Dreißigjährigen Krieg, sei »auch die löbliche Music / von den anhaltenden gefährlichen Kriegs-Läufften (…) nicht allein in grosses Abnehmen geraten / sondern an manchem Ort gantz niedergeleget worden«. Deswegen schrieb er seine Kleinen geistlichen Konzerte I für eine Minimalbesetzung, mit einer bis fünf Singstimmen nur mit basso continuo, eine Art survival kit, damit trotz toter Musiker und aufgelöster Kapellen noch etwas zu hören war. Wir können diese Musik in fantastischen Aufnahmen hören. Aber die Musiker, die sie gemacht haben, fürchten um ihre Existenz. ¶