Vor 200 Jahren kam in Köln Jacques Offenbach zur Welt – heute ist er noch längst nicht fertig entdeckt. Verblüfft lauscht Volker Hagedorn der frühen Cellomusik und liest ein spätes Reisebuch, um festzustellen: Der Virtuose Offenbach und der politische Beobachter – beide sind höchst aktuell.
»Wie von der Tarantel gestochen« lautet die Redewendung, die mit der Tarantella verbunden ist, dem wilden Tanz aus mediterranen Regionen. Aber nicht der Spinnenbiss löst die Tanzwut aus – letztere hat man vor ein paar Jahrhunderten umgekehrt als Entgiftungstherapie eingesetzt. Ein eigenes Genre rasanter Tanzstücke wurde daraus, seinen Gipfel erreichte das mit einem Stück, das dann 120 Jahre lang nicht mehr zu hören war. Nämlich die Tarantelle von Jacques Offenbach, für Cello und Klavier, passenderweise komponiert in jener Stadt Köln, in der Offenbach am 20. Juni 1819 zur Welt kam. Dass er freilich 1848 längst ein Pariser war und es bleiben würde, funkelt aus jedem Ton.
Unfassbar virtuos, überreich an Esprit – diese Tarantelle hat jetzt die Münchener Cellistin Raphaela Gromes erstmals aufgenommen (Offenbach, Sony Music) und entzündet neben extrem guter Laune auch helles Licht auf Offenbachs Jahre vor seiner Karriere als Bühnenkomponist. Er war wohl der virtuoseste Cellist seines Jahrhunderts. Doch was er sich in seiner Pariser Salonzeit auf den Leib schrieb, ist wenig bekannt. Man weiß nur, dass die Leute ihm zu Füßen lagen. Nach der Februarrevolution 1848 floh Offenbach mit seiner Familie nach Köln, ein Jahr später kam er zurück mit diesem Stück im Gepäck. Es blieb ungedruckt, bis Jean-Christophe Keck es ausgrub. Raphaela Gromes spielt es nicht nur druckfrisch, sondern sogar tintenfrisch: Mit dem Jacques im Nacken.
Diese Musik kommt nicht aus gaslichtdämmernder Vergangenheit, sondern aus so geistvoller Souveränität, dass wir beim Hören erst merken, wie klamm und ängstlich wir in unseren aktuellen Höhlen hocken. Offenbach lockt uns heraus. Und kaum blinzeln wir in die Sonne dieser Musik, schon mit beschleunigtem Herzschlag, da legt Offenbach noch eins drauf mit einem Viertonmotiv im Flageolett, einer neuen Ebene mit ironischen Flötentönen, falls so etwas überhaupt möglich ist. Wenn Übermut entgiften kann – um auf die Tarantella als Therapie zurückzukommen – dann ist dieses Stück ein Detox-Konzentrat erster Wahl.
Man ahnt nun auch, woher in Offenbachs Bühnenwerken eigentlich das Unmittelbare im Doppelbödigen kommt, diese Verbindung von Sinnlichkeit und Witz, in der Friedrich Nietzsche »Augenblicke übermütigster Vollkommenheit« erlebte. Sie ist beim Cellisten Offenbach schon vollständig da, ebenso die – oft überhörte – Melancholie, die Raphaela Gromes in anderen Stücken mit Julian Riem am Klavier erkundet.
Aber noch ein Offenbach ist neu zu entdecken, der politische. Obwohl er und seine Librettisten andauernd Autoritäten und Mythen zerlegen, Verkalkungen und Verlogenheiten bloßstellen, obwohl die Zensoren des Zweiten Kaiserreichs mehr als einmal ausgetrickst werden mussten, damit diese Frechheiten auf die Bühne kommen konnten, gilt er als eigentlich unpolitischer Komponist. Einer, der es sich gut eingerichtet hat und die politische Spottlust der Pariser mit Blick auf die Kasse bedient. Vielleicht rührt dieses Image auch daher, dass niemals etwas oder jemand bitter bis missionarisch angeprangert wird – es macht, von Orphée aux Enfers bis Le Roi Carotte, ja alles Spaß, nie wird man bevormundet.
Wie ernst es Offenbach aber ist mit der »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, das offenbart er nach dem Kaiserreich und mit Blick auf ein fernes Land. Offenbach en Amérique – Notes d´un musicien en voyage heißt das Buch, das er 1877 in Paris erscheinen lässt. Er hat die Vereinigten Staaten genau hundert Jahre nach ihrer Unabhängigkeitserklärung bereist, vom 5. Mai bis zum 8. Juni 1876, kurz vor seinem 57. Geburtstag. Ein Star aus Paris, eingeladen, in New York und Philadelphia eigene Werke zu dirigieren. Er ist begeistert vom Empfang, der Qualität der Musiker, vom Zuspruch des Publikums – aber das Kapitel »Freiheiten in Amerika« ist ein sehr finsteres in diesem Reisebuch.
Nach launigen Beginn kommt Offenbach zu den »Negern«, wie zu seiner Zeit Afroamerikaner noch selbstverständlich genannt wurden, les Negres. »Die Neger sind gleichgestellt worden«, schreibt Offenbach »Die schöne und bombastische Reform! Die braven Neger sind frei, erzfrei. Sehen Sie, auf welche Weise. Omnibusse und andere öffentliche Fahrzeuge sind ihnen verboten. Die Theater dürfen sie unter keinen Umständen betreten, die Restaurants nur, um dort zu bedienen. Sie sehen also: Liberté, Égalité, Fraternité! Sie denken vielleicht, allein den Negern seien die wünschenswerten Freiheiten versagt: Irrtum. Der Hotelier des Cataract-Hotels in Niagara hat in den großen Zeitungen folgende Notiz inseriert: ›(…) Ab heute sind Juden aus meinem Hotel ausgeschlossen.‹«
»He departed with good feelings on both sides«, so folgert erstaunlicherweise Laurence Senelick aus seiner Lektüre des Reisebuchs (in Jacques Offenbach and the Making of Modern Culture, 2017). Da hält man sich besser an Ralf-Olivier Schwarz, der für sein neues Buch Jacques Offenbach – ein europäisches Porträt die Quellen gründlich gelesen hat und auch den wachsenden Antisemitismus genau dokumentiert, dem sich der gebürtige Deutsche und französische Staatsbürger nach dem Deutsch-Französischen Krieg ausgesetzt sah. Im Pariser Le siècle bezweifelt 1877 ein Anonymus, »dass ein deutscher Jude für die alte französische Heiterkeit stehen könnte«, im Leipziger Puck karikiert man ihn 1876 als »semitisch-musikalischen-akrobatischen Gorilla«, »in Paris gezüchtet«.
Auf beiden Seiten von Rhein und Atlantik erlebt der späte Jacques Offenbach Verspannungen und Verhältnisse, mit denen wir bis heute nicht fertig sind. Im Blick auf die Gegenwart, im Rückblick auf die jüngere Geschichte wird selbst so ein rasend gut gelauntes Stück wie die Tarantelle politisch: als klingende Freiheit, als Angstlöser und Entgiftungsmittel aus der Werkstatt eines Zauberers, rezeptfrei zu haben. Gut, dass er wie ein Besessener komponierte: Mit einem Vorrat von 700 Werken aller Arten kann er uns durch den Nebel helfen. Merci! ¶