Eigentlich kommunizieren Musiker heute so viel wie nie zuvor. Warum ist es dann so besonders, einen Pianisten wie Alfred Cortot reden zu hören und zu sehen, während er spielt? Volker Hagedorn hat über die »Aura« nachgedacht und festgestellt, dass es um etwas anderes geht, oft beschworen, selten vorhanden: Authentizität.
Ach ja, die Aura. Hätte Walter Benjamin recht, wäre jetzt kaum noch Aura zu erleben, von ihm vor rund achtzig Jahren beschrieben als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag« und bedroht besonders da, wo es um das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« gehe. Die Vervielfältigung von Bildern und Tönen trenne die Kunst von ihrer Tradition. Der »Traditionswert« von Kunst werde durch die Massenmedien liquidiert, die Aura verkümmere. Und das war sehr lange vor Youtube, Spotify und der Möglichkeit, alles fast lichtschnell zu »teilen« und zu »verlinken«. Bis neulich habe ich Benjamins Diagnose respektvoll nickend angestaunt.
Dann kam Alfred Cortot und stellte in zweieinhalb Minuten die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag« vollständig wieder her, obwohl doch der kleine Film von 1953 schon mehr als 50.000 Mal aufgerufen, angeklickt und wer weiß wie oft geteilt und verlinkt worden ist. Mit 76 Jahren hatte sich dieser Pianist, seinerseits Schüler eines der letzten Schüler von Frédéric Chopin, dem »machtvollsten Agenten« der von Benjamin beobachteten Veränderungen ausgeliefert, dem Film. Einer sensibel und ruhig geführten Kamera, die dem Alten in Paris bei einer Meisterklasse zuschaut und seine Versenkung in Robert Schumanns Der Dichter spricht überliefert.
Cortot ist es offenbar ziemlich egal, was da für ein Gerät neben dem Flügel steht. Anfangs steht er selbst, mit übereinandergelegten Armen auf das Instrument gestützt, an dem eine Studentin sitzt, und erklärt in seinem wunderbaren, langsamen, gelassenen Französisch, es sei »pas seulement la belle sonorité«, um was es hier gehe, nicht nur der schöne Klang, sondern »un sentiment plus rêveur«, eine träumerische Empfindung. Wie er das sagt, wie er die zweite Silbe von »rêveur« ausdehnt, darin ist die eigentliche Mitteilung, ein Gesang, den er dann – »Erlauben Sie, dass ich Ihren Platz einnehme?« – am Flügel fortsetzt, dabei weiter behutsam sprechend, auf Details hinweisend, ohne den Zauber zu zerstören. Er spielt, blickt in die Ferne… und in welche!
Sie spiegelt sich in seinen Augen – die Brille hat er jetzt abgesetzt – und man möchte, so aufgeklärt, skeptisch, selbstbestimmt, wie man sich wähnte, diesem Meister immer weiter hingegeben lauschen und zusehen, diesen Tönen, die die Träume und Traurigkeiten des frühen neunzehnten Jahrhunderts mit dem Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verbinden und, durch ein Fensterchen von zweieinhalb Minuten, mit uns. Dass Aura die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag« sei, wird hier bestätigt. Aber dass sie durch ihre Reproduzierbarkeit liquidiert werde? Im Gegenteil. Auf einmal ist das Internet wieder nur noch ein Instrument und nicht irgendeine uferlose »Macht«.
Cortots Auftritt hat mich aber noch auf etwas anderes gebracht. Das Besondere, Berührende ist ja auch das Verlassen der vermeintlich so klassischen, so traditionellen Konzertsituation, in der ein*e Pianist*in rituell entrückt am Flügel sitzt. Klar, aus dieser Situation drängen mittlerweile alle heraus. Neue Formate, Twitterkaskaden, Vermittlung, Imagearbeit bis zur Weißglut – aber das hier ist das Gegenteil. Hier ist einer ganz bei sich und einem Stück, und sein Sprechen stellt Intimität her. Eine Verbindlichkeit, in der die Musik wieder als Mitteilung wahrgenommen werden kann.
Es gibt ein Interview mit der Pianistin Dinorah Varsi, aufgenommen 1978, in dem sie, am Klavier sitzend, über Chopins Préludes opus 28 spricht und zwischendurch ein paar Takte spielt. Die wilde Nummer 18 in f-Moll spielt sie ganz, immer dazwischenrufend. »Sehen Sie, er ist noch nicht irgendwo angekommen… geht weiter… sucht immer… noch nicht da… und JETZT! Ahhh!« Das alles, während ihre Hände durch das Stück rasen, wobei immer mehr die Musik die Führung übernimmt, die Pianistin geradezu nötigt, das kurze Stück noch mal zu spielen, mit neuen Zwischenrufen, bis sie am Ende, nach letzten Akkordschlägen, nach Luft schnappt und resümiert: »Verzweiflung, ja, Verzweiflung.« Ich kenne keine spannendere Aufnahme davon.
Wieder eine andere Welt ist es, als der Pianist Tobias Koch in seinem Düsseldorfer Hinterhofpavillon ein Hammerklavier von Streicher und einen Èrard von 1850 erklärt, darauf spielend, von einem Stück zum andern springend, von Mozarts Bildnisarie am frühen Instrument zu Liszts Totentanz am späteren. An einem rheinischen Regentag den Hymnus des Jüngsten Gerichts in rasenden Repetitionen zu hören, während der Pianist ruft: »Das ist am Érard überhaupt kein Problem!«, dann abbricht und zur Kaffeemaschine eilt – das ist ein Erlebnis, das ganze Rezeptionsfettschichten wegbrennen lässt und einem die Musik im Entstehen zeigt, modern, eine unmittelbare Mitteilung. Auratisch ist daran nichts, man ist halt mittendrin.
Ein Rezept für den »Musikbetrieb« kann man daraus nicht machen; man möchte sicher auch nicht von jedem Interpreten Meisterklassenmitschnitte sehen und Interviews hören. Man freut sich aber, wenn »Authentizität« endlich mal wieder etwas ist, das unbefangen beim Reden am Klavier zutagekommt und nicht als Etikett, das für die Arbeit am Image ausgedruckt wird. Wenn sich um das Authentische irgendwann eine Aura bildet, zeigt das bloß, wie selten es ist. ¶