Ein Interview mit dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer.
Seit sieben Monaten ist Klaus Lederer Kultursenator in Berlin und einer von drei Senatoren der Linkspartei in der rot-rot-grünen Landesregierung. Große öffentliche Erregung erzeugten in dieser Zeit bisher die Themen, deren ikonischer Stoff und symbolische Aufladung Wasser auf die Mühlen der Aufmerksamkeitsökonomie sind: Einheitswippe, das Kreuz auf dem wieder aufgebauten Stadtschloss, der Umbau der Volksbühne und der Umgang mit dem Ende einer Ära (Castorf). Dabei sind es eigentlich andere Themen, die Lederer in den Blick nehmen will: die Bewahrung künstlerischer (Frei-)Räume vor Verwertungsdruck und Verdrängung, eine breitere Teilhabe der Stadtgesellschaft an den Kulturangeboten der Stadt, die Stärkung der Basiskultur und die Verringerung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in der Kunst. Das sind allesamt Themen, die auch die Musikkultur der Stadt und insbesondere deren freie Szene umtreiben. Wir trafen den promovierten Juristen und (ehemaligen) Tenor der A-Capella-Band Rostkehlchen an einem frühen Montagmorgen in seinem Büro in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte und sprachen mit ihm über seine Ideen und Perspektiven für die klassische Musikkultur der Stadt.
Was waren in Ihrer musikalischen Biographie die ersten Berührungspunkte mit klassischer Musik?
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als Kind mit meinen Eltern das ein oder andere klassische Konzert in der Konzerthalle Carl Philipp Emanuel Bach in Frankfurt/Oder besucht habe. Bei uns zu Hause spielte Klassik eine große Rolle, mein Vater kam manchmal von Dienstreisen mit Platten von Melodija und anderen Aufnahmen aus der Sowjetunion zurück, aus dem DDR-Klassikfundus hatten und hörten wir viel.
Sie sind jetzt sieben Monate im Amt. Was war in dieser Zeit das Konzert oder die Aufführung, die Sie am meisten beeindruckt hat?
Ich war in der vergangenen Woche mit dem Konzerthausorchester unter Iván Fischer in der Elbphilharmonie, ein ziemlich beeindruckendes Konzert mit Patricia Kopatchinskaja, die Sibelius ganz großartig gespielt hat, in einem Saal, in dem man eine Stecknadel fallen hören konnte. Und: die Uraufführung der Medea von Aribert Reimann in der Komischen Oper.
Ich muss jetzt aber ein bisschen aufpassen – sobald ich anfange, über einige voll des Lobes zu reden, fühlen sich die anderen möglicherweise zu Unrecht nicht ausreichend wertgeschätzt. Es gab viele tolle und beeindruckende Konzerte seitdem.
Im Mai wurde der neue Hauptstadtfinanzierungsvertrag unterzeichnet. Im Musikbereich kommt die Aufstockung der Förderung durch den Bund besonders zwei Institutionen zugute, die finanziell ohnehin schon gut da stehen, den Philharmonikern und der Staatsoper. War das auch in Ihrem Sinne?
Die Argumentation, die der Bund hier angeführt hat, ist, dass in den vergangenen Hauptstadtfinanzierungsverträgen viel für die Gedenkkultur getan worden ist, viel für die Museen, und dass jetzt mal die Musik dran sei. Klar sind die Staatskapelle und die Philharmoniker Weltklasseorchester, auf der anderen Seite habe ich immer darauf hingewiesen, dass, sobald einzelne Orchester in einem besonderen Maße gefördert werden, sich die anderen Orchester die Frage nach mehr Förderung ebenfalls stellen.
Wenn man das nur unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenzfähigkeit betrachtet, dann zieht die Förderung des Einen die Förderung des Nächsten, und diese die Förderung des Übernächsten nach sich. Am Ende beißt sich die Katze in den Schwanz, weil das Gehaltsniveau immer weiter steigt und andere Länder und Kommunen, und auch Berlin selbst, gar nicht den finanziellen Spielraum haben, in immer dem gleichen Maße nachzuziehen. Wie jetzt insgesamt mit den verfügbaren Mitteln in Bezug auf die Opernstiftung umzugehen ist, werden wir im Stiftungsrat noch beraten müssen: Ich habe selbstverständlich kein Interesse daran, dass die Abstände zwischen den Orchestern immer größer werden.
Der Bund bezuschusst die Opernstiftung mit 10 Millionen Euro, davon gehen 3 Millionen Euro verbindlich an die Staatsoper. Nach welchen Kriterien sollten Ihrer Meinung nach die restlichen 7 Millionen vergeben werden?
Da wir derzeit in Haushaltsberatungen sind und insgesamt die Frage besteht, wie viele Mittel wir am Ende überhaupt in die Opernstiftung geben, ist es jetzt schwer, über Details zu reden. Ich kann nur sagen, dass ich mich darum bemühe, innerhalb der Opernstiftung alle drei Häuser fair zu behandeln.
Sie haben neulich gesagt, Sie hätten Verständnis dafür, dass Daniel Barenboim mehr Gehalt für seine Orchestermitglieder fordert, aber Ihnen würde es als linker Kultursenator darum gehen, prekäre Arbeitsverhältnisse aufzulösen, insbesondere bei Projektförderungen. Wie wollen Sie das denn anstellen?
Ich will jetzt die Spitzenkultur nicht gegen die Breite oder Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ausspielen. Ich sage lediglich, dass es für die Weltklasseorchester leichter ist, Lobbyarbeit zu machen. In der Regel sind da der öffentliche Fokus und die Unterstützung größer, als bei den Bemühungen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Breite zu verbessern. Deshalb ist einer meiner Schwerpunkte auch, hier ausgleichend zu handeln. So haben wir im Nachtragshaushalt 6,7 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt, um in den nicht tariflich gebundenen Einrichtungen eine Angleichung der Bezahlung in Richtung Tarifverträge hinzubekommen. Wir werden auch im nächsten Doppelhaushalt, über den wir jetzt Verhandlungen führen, notwendige Tariferhöhungen abbilden, davon gehe ich fest aus.
Viele Projekte würden aber vielleicht gar nicht zustande kommen, wenn dort Mindeststandards oder Tarifbedingungen eingehalten werden müssten.
Wir können über den Hauptstadtkulturfonds oder unsere Juryentscheidungen hier im Haus zumindest versuchen, dass nachweisbar Mindesthonorare bezahlt werden. Das ist nicht immer so einfach, gerade bei projektbezogenen Zuwendungen. Aber trotzdem geht es darum, die Sensibilität dafür zu erhöhen, dass wir da ein Problem haben, und in den verschiedenen Bereichen, in denen wir Einfluss nehmen können, diese Standards zu verankern. Das ist ein dickes Brett – aber es muss gebohrt werden.
Müsste das dann nicht auch mit einer Erhöhung der Fördergelder einhergehen?
Das ist dann halt der Preis.
Braucht es dabei neben staatlichem auch mehr privatwirtschaftliches Engagement oder Mäzenatentum, um das Sie werben wollen?
Das ist mir zu abstrakt, es gibt bestimmte Bereiche, da finde ich privates Engagement ganz toll, beispielsweise würde es sonst das Kollwitz-Museum nicht geben. Für viele andere Einrichtungen trifft das auch zu. Also: Je mehr desto besser. Aber für eine bestimmte kulturelle Grundinfrastruktur der Stadt trägt die öffentliche Hand die Verantwortung, der sie sich auch nicht einfach mit Verweis auf private Spender entledigen kann. Probenräumen, Einrichtungsförderung, soziale Mindeststandards – dafür muss Berlin sorgen, dabei werden Private nicht wirklich helfen.
Sie haben eben davon gesprochen, dass prominente Institutionen es leichter haben, Lobbyarbeit zu betreiben. Glauben Sie, dass es in der freien Szene eine bessere Vernetzung und Lobbyarbeit geben muss, um sichtbarer zu werden?
Die Berliner freie Szene hat sich sehr gut organisiert, das hat bei den letzten Haushaltsverhandlungen dazu geführt, dass da auch was passiert. Generell könnte es immer mehr sein, ich könnte ohne Probleme mit 50 Prozent mehr Mitteln für die Kultur sinnvolles anfangen, ohne irgendetwas zu verschwenden.
In der öffentlichen Wahrnehmung muss immer wieder deutlich gemacht werden, dass es erstens Spitzenqualität nur geben kann, weil es viel Kultur in der Breite gibt, dass zweitens in Berlin Spannendes nicht nur in der Mitte der Stadt existiert, und drittens: dass viele die Berliner Kulturszene auch deswegen besonders lieben, weil wir diese pulsierende freie Szene haben.
Wenn man die Klassikkultur mit anderen Kunstbereichen vergleicht, dann fällt auf, dass das Neue und das künstlerische Risiko noch viel stärker als anderswo am Rand und von freien Ensembles gewagt werden. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich finde schon, dass auch in der Deutschen oder Komischen Oper die Intendanzen den Mut haben, zeitgenössische Opern und Auftragswerke auf die Bühne zu bringen. Man kann die Offenheit gegenüber zeitgenössischer klassischer Musik nur dann erreichen, wenn auch die großen Institutionen sich das trauen. Ansonsten ist es wahr, dass oftmals das Bekannte reflektiert wird, weil es das Publikum teilweise auch so möchte.

Die Frage ist, ob die Hypothese über das Publikum stimmt, dass es nicht bereit für Neues sei. Wenn man sich zum Beispiel das gerade vorgestellte Programm der Staatsoper anschaut, dann fallen eine Wiederkehr des Immergleichen und ein sehr enges Repertoire auf. Welche Rückmeldung geben Sie als Kultursenator dazu?
Eingreifen kann ich da nicht; ich kann jedoch Mut machen, anregen, unterstützen. Wenn Dietmar Schwarz (der Intendant der Deutschen Oper Berlin, d. Red.) sagt, ich versuche explizit auch auf zeitgenössische Oper zu setzen, und ich möchte da auch jungen Komponist*innen eine Chance geben, kann ich das unterstützen und Mut machen, diesen Weg zu gehen.
Ein weiteres Thema, dem Sie sich widmen wollen, ist die Sicherung von Arbeits- und Produktionsräumen für die Kunst. Die Diskussion geht dabei oft in Richtung Bildende Kunst, betrifft Ateliers und Ausstellungsräume. Aber auch im Bereich klassischer Musik gibt es einen großen Mangel an adäquaten Produktions- und Proberäumen.
Wir versuchen generell Arbeitsräume zu sichern für die freie Szene, das ist natürlich alles gar nicht einfach in einer Stadt, in der die Inwertsetzung von Grund und Boden so voranschreitet. Nichtsdestotrotz versuchen wir es zum einen durch eine Liegenschaftspolitik, in der wir öffentliche Liegenschaften eben nicht mehr an Private verkaufen, sondern schauen, ob wir diese nicht selber brauchen oder etwas damit machen können. Das Zweite ist gegebenenfalls sogar ein Rückkauf, wenn das zu Konditionen funktioniert, die nicht Mondpreise beinhalten. Ob sich solche Gelegenheiten in Zukunft ergeben, kann keiner wissen. Ansonsten ist das Thema Arbeitsräume ein spartenübergreifendes. Problematisch wird es immer dann, wenn die Institutionen mit nicht unerheblichen Dauerförderungen verbunden sind. Wir haben die Debatte um die Alte Münze, wo ein Haus zeitgenössischer Musik entstehen könnte, wo sich auf Bundesebene zur Sicherung der 12,5 Millionen Zuschuss die IG Jazz, Till Brönner und andere Beteiligte an einen Tisch gesetzt haben. Das wird natürlich nicht von heute auf morgen passieren, das Areal muss saniert werden, und die Frage, wie die laufenden Kosten getragen werden, stellt sich auch. Also wenn dort, wie zu hören ist, ein nationaler und internationaler Leuchtturm entstehen soll, dann kann ich mir schon vorstellen, dass man das nicht aus der Portokasse finanziert bekommt.

Sind Sie dafür, dass in einem alternativen Nutzungskonzept Alte Münze auch Räume für zeitgenössische Kunstmusik oder Klassische-Musik-Ensembles zur Verfügung gestellt werden?
Ich will die Partizipationsverfahren nicht vorwegnehmen. Prinzipiell sind wir offen dafür, mit allen Beteiligten darüber zu reden, was da entstehen könnte. Da interessiert mich am Ende auch, dass es den realen Bedürfnissen der freien Szene entspricht. Dass Jazz da ein wichtiger Faktor ist, ist ganz klar. Ob da aber nicht auch Platz für mehr ist – darüber, finde ich, muss man wirklich nachdenken.
Orte für ›klassische Musik‹ wie das Konzerthaus, die Philharmonie, der Pierre-Boulez-Saal sind in den Händen einzelner Orchester oder Einrichtungen. Freie Akteure müssen sich teuer einmieten und werden oft ›zweite Klasse‹ behandelt. Auch das Radialsystem ist als Produktions- und Probeort für die freie Szene zu teuer. Müssen die Orte, die es gibt, sich mehr öffnen?
Da kann man drum werben, das machen wir auch. Das ist nur gar nicht so einfach, weil die Häuser sagen, dass sie am Ende mit ihrem Namen für das herhalten müssen, was da passiert. Und das künstlerische Niveau ist durchaus unterschiedlich – teilweise ja auch gewollt anders, sehr bewusst anders. Es gibt einen Bestandteil von Breitenkultur, der mit Lebensfreude zu tun hat, damit, dass Leute gemeinsame musikalische Erlebnisse haben wollen, ohne den Anspruch, sich in einer Liga mit professionellen Chören und Orchestern zu befinden. Für so etwas braucht es auch Orte.
Wie geht es langfristig mit dem Schiller Theater weiter, nachdem die Staatsoper wieder zurück in ihr Stammhaus gezogen ist?
Dort steht jetzt erst einmal die Zwischennutzung durch die Ku’damm-Bühnen an. Angesichts der Sanierungsnotwendigkeit der Komischen Oper stellt sich darüber hinaus die Frage, ob auch dafür zwischennutzungsweise das Schiller Theater noch gebraucht wird. Bevor das nicht geklärt ist, sind wir jetzt nicht unter Druck, für das Schiller Theater ein eigenständiges Nutzungskonzept zu erarbeiten.
Sie haben in Ihrer kulturpolitischen Grundsatzrede im April gesagt, dass sich die Vielfalt der Berliner Stadtgesellschaft zu wenig in den Kulturinstitutionen wiederfinde und darauf hingewiesen, dass es dabei nicht nur um Preispolitik, sondern auch um Codes und ›den Eindruck geht, an einem Ort nicht erwünscht zu sein‹. Auf die Klassikkultur bezogen, wo sehen Sie da Verbesserungs- und Handlungsbedarf?
Das betrifft alle Kultureinrichtungen, auch da gerät man an Grenzen der unmittelbaren Beeinflussung, die Intendanten tragen die künstlerische Verantwortung und das soll auch so sein. Nichtsdestotrotz kann man zum einen auf das Problem aufmerksam machen, zum anderen – das machen wir mit unserem im April eröffneten Projektbüro ›Diversity. Arts. Culture.‹ – empirische Erhebungen und Expertise sammeln, wie man, wenn die Einrichtungen selber wollen, Programm, Personal, Publikum sukzessive verändern kann. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht.
Aber es fängt damit an, dass Teile der Stadtgesellschaft, die sich in den Häusern, auf den Bühnen und im Programm nicht wiederfinden, nicht unbedingt angeregt werden, auch in die Einrichtungen zu gehen. Wenn letztere selber begreifen, dass es auch in ihrem Interesse ist und dass es am Ende auch einen künstlerischen Qualitätssprung mit sich bringen kann, wenn man sich öffnet, dann hat man ein wichtiges Ziel erreicht.
Sie haben angekündigt, dass Sie die Gehälter von Intendanten und Chefdirigenten in Berlin offenlegen wollen. Wann wird das passieren?
Da arbeiten wir dran. Es ist rechtlich nicht ganz einfach, aber das ist ein Prozess, da geht für uns jetzt Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Klassische Musik wird oft instrumentalisiert zu politischen und repräsentativen Zwecken. Beim G20-Gipfel in Hamburg wird es für alle Staatsgäste ein Konzert in der Elbphilharmonie geben. Welches Stück würden Sie auf das Programm setzen?
Vielleicht das War Requiem von Britten. Wenn schon klassische Musik, dann auch welche, die tatsächlich als ›eingreifende Musik‹ in Zeiten entstanden ist, in der sich Künstlerinnen und Künstler mit Ungerechtigkeiten und gesellschaftlichen Missständen auseinandergesetzt haben. Ich finde, das gehört in die Ohren dieser Staatsleute. Wenn sie es denn überhaupt hören wollen… ¶