
Das 10. Kölner Fest für Alte Musik begibt sich unter dem Motto Early Music: Reload auf die Suche nach ungewöhnlichen Konzertformaten und öffnet sich neuen Impulsen. Dazu verwandelt sich das vom zamus veranstaltete Festival in ein Labor des Komponierens, Experimentierens, Improvisierens und Diskutierens über alle Belange der Alten Musik. Werke renommierter Komponist*innen der Alten Musik treffen vom 21.–29. März im Rahmen von 25 Veranstaltungen in der gesamten Kölner Innenstadt auf brandneue Auftragskompositionen. Wir stellen in diesem Themenspecial Protagonist*innen, Gedanken und Herausforderungen der Szene vor.
Als der Herbst bei uns im Mittleren Westen der USA sich anschickte in einen gnadenlos eisigen Winter überzugehen, legte ich in meinem warmen Wohnzimmer Glenn Goulds Einspielung der Goldberg-Variationen auf und nahm zum ersten Mal Philip Kennicotts Counterpoint – A Memoir of Bach and Mourning zur Hand. Ständig wechselnd zwischen Lesen und Lauschen fand ich mich in den folgenden Tagen in einem Zustand der Überwältigung wieder: überwältigt von Emotionen, überwältigt vom Wunsch, etwas zu tun. Aufräumen, mit meinem kleinen Sohn durchs Zimmer tanzen, weinen. Nach einer Woche mit Bach und Kennicott begann ich sogar, darüber nachzudenken, mich wieder ans Klavier zu setzen (wie Kennicott habe auch ich mit vier Jahren angefangen Klavier zu lernen) und mir die Goldberg-Variationen anzueignen. Gleichzeitig war es auch Kennicott, der mich von eben diesem Vorhaben abhielt, indem er darauf hinweist, dass Bachs Musik es nicht duldet, dass man sich aufspielt, und rücksichtslos alle Unzulänglichkeiten der Interpretation zur Schau stellt. Ich sah ein, dass die Goldberg-Variationen zu schwer für meinen Neustart waren. Indem ich jedoch Kennicott lesend quasi dabei begleitete, wie er nach dem Tod seiner Mutter die Goldberg-Variationen lernte, begann auch ich mich weniger wie eine Außenseiterin in Bachs Universum der Schönheit zu fühlen – denn bei Counterpoint handelt es sich nicht nur um eine erstaunlich berührende Erinnerung an den Verlust eines Elternteils, sondern auch eine ungewöhnlich anmutige und gleichzeitig präzise Meditation über die Erarbeitung eines sehr komplizierten Werkes. Das Buch vollbringt ein Kunststück, von dem ich bisher dachte, es sei unmöglich: Es haucht allein durch Sprache Bachs Meisterwerk Leben ein.
Counterpoint beginnt mit Kennicotts herzzerreißendem Bericht über eine Zeit, in der er immer wieder Bachs Partita in d-Moll hörte – vor allem den letzten Satz, die Chaconne –, während er dabei zusehen musste, wie seine Mutter an Krebs starb. Das Gefühl beim Lauschen der Chaconne, so schreibt er, gleicht dem der Trauer: grundlegend, andauernd, alles andere überschattend. Die Musik tröstete ihn zwar nicht, aber sie beschäftigte ihn. Nach dem Tod seiner Mutter räumte er seine Aufnahmen der Chaconne erstmal beiseite (wer will schon ständig an die Trauer erinnert werden?), aber Bachs Musik blieb. Er dachte an die Stücke Bachs, die er als junger Mann zu spielen versucht hatte. Auf einer Fahrt nach Chicago hielt er zufälligerweise an einem Musikladen und stolperte dort über eine Ausgabe der Goldberg-Variationen. Für ihn deuteten sie einen Teil seines Trauerprozesses an, der bei ihm erst noch folgen sollte: das sich ständig wandelnde Gefühl der Verwirrung, das darin fußt, dass man weiß, wo man sich befindet, aber gleichzeitig verloren ist. Indem er versuchte, das Stück zu lernen, könnte er, so dachte er, sein Leben noch einmal auf die Probe stellen, durch ein bisschen Druck von außen herausfinden, welche Teile noch wirklich lebendig waren. Anders gesagt: Kennicott wollte wissen, ob er einem so komplizierten Stück pianistisch noch gewachsen war. Außerdem wollte er Bachs Musik tiefer, besser verstehen.

Den Kern dieses Buches machen zwei Fragen aus: Was bedeutet es, ein Stück wirklich zu kennen? Und was bedeutete es, einen anderen Menschen wirklich zu kennen? Um diese Fragen zu beantworten, erinnert sich Kennicott unter anderem daran, wie es war, als Junge Klavier zu lernen unter dem strengen Blick einer launischen, andauernd schlecht gelaunten Mutter – einer Frau, die einst von einer Karriere als Geigerin geträumt hatte und sich nie wirklich in der Rolle der Hausfrau und Mutter von vier Kindern wiederfand. Als auch die Musik ihr keinen Ausweg aus dem für sie stumpfsinnigen häuslichen Leben bot, wurde sie zunehmend verbittert. Kennicott erinnert sich, wie seine Mutter, wenn er sie bat, ihm etwas auf der Geige vorzuspielen, wütend ihre linke Hand musterte, als sei diese Schuld daran, dass sie sich der Musik nicht mehr so verbunden fühlte. Auch war sie kein dankbares Publikum, wenn Kennicott Klavier übte. Obwohl sie sicher stolz auf ihren Sohn war, brachte sein Spiel sie oft aus der Fassung. Nur bei lyrischen Passagen, wenn das Stürmische bei Beethoven einer pastoralen Episode wich oder Mozart seine schillernden Figuren zugunsten einer längeren, innigeren Linie pausieren ließ, konnte es vorkommen, dass sie mit seinen Bemühungen zufrieden war.
Dieses Buch könnte, so wunderbar es geschrieben ist, einfach nur ein weiterer Beitrag zum Subgenre der Trauerliteratur sein, wenn da nicht Kennicotts einzigartige Gabe wäre, Parallelen zwischen Musik und Verlust zu ziehen. Als Beispiel lese man nur diese Zeilen über Anfang und Ende der Goldberg-Variationen und das Leben mit Trauer:
»When grief loosens its hold, you return to the world you once knew, only to find it transformed by the thing that is missing; when, at the end of the Goldberg Variations, Bach repeats the aria with which it began, it is utterly transfigured. It is like the river in which one can never step foot twice, and Bach seems to say: ›You’ve never heard this thing you think you know so well.‹«
»Wenn die Trauer nachlässt, kehrst du in eine Welt zurück, die dir mal vertraut war, nur um festzustellen, dass sie eine komplett andere geworden ist, dadurch, dass etwas fehlt. Wenn Bach am Ende der Goldberg-Variationen die Aria, mit der alles begann, wiederholt, wirkt auch sie völlig verändert. So, wie man auch nicht zwei Mal durch denselben Fluss waten kann, scheint Bach zu sagen: ›Du hast das hier noch nie gehört, auch wenn du glaubst, es sehr gut zu kennen.«
Und doch ist dieses Buch viel mehr als nur ein Vergleich von Trauer und Bachs Musik. Im Verlauf des Buches widmet Kennicott sich nicht nur allen dreißig Variationen, sondern auch Freud und Leid beim Spielen »großer« Werke generell, der Idee der Originalität und vielem mehr. Nebenbei vermittelt er fesselnde historische Einblick in Bachs Leben, die Goldberg-Variationen und das Klavierspiel im 20. Jahrhundert. Diese Ausführungen sind so nahtlos in seine eigene Geschichte verwoben, dass das Buch selbst wie ein Stück Musik wirkt.
Kennicott hat in Counterpoint zudem einiges zu sagen zur Frage, was es bedeutet, zu leben und sinnvolle Arbeit zu leisten, ohne dabei Klischees zu bemühen. Durch die Lektüre hörte ich mehr Bach, spielte seine Werke sogar wieder. Und ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mir, während ich meinen kleinen Sohn ansah, schwor, öfter Goulds Platte aufzulegen, wenn ich die Goldberg-Variationen schon selbst nicht spielen konnte. Denn Bachs Meisterwerk, vor allem die Aria, ist, wie Kennicott schreibt, wundervoll anstrengend und von perfekter Schönheit. Und wenn du sie noch nicht gehört hast, solltest du es tun, solange du noch lebst. ¶