Guns N’ Roses, Live and Let Die
Meine erste Vinylsingle überhaupt und die Tür in eine neue Welt. Meine zugegebenermaßen etwas nerdige Kindheit hatte ich neben dem Sammeln von Mokkatassen hauptsächlich mit dem Hören von Komponistenbiografien auf Kassetten verbracht. Mein Vater, der damals beim Radio arbeitete, machte sich wohl ernsthafte Sorgen um mein Schulhof-Standing und brachte mir eines Tages diese Single mit nach Hause. Von jetzt an hörte sich das Leben von Axl Rose wesentlich spannender an als das von Beethoven.
Rage Against the Machine, Killing in the Name
Wenn man in Baden-Baden aufwächst, begegnet einem Subkultur selten auf den Straßen, sondern eher auf MTV. Und genau dort beobachtete ich eines Tages Anfang der 1990er einen jungen Mann mit Dreadlocks, der »Fuck you, I won´t do what you tell me!« in sein Mikrofon brüllte, während seine drei Bandkollegen dazu einen infernalischen, aber verdammt groovigen Lärm fabrizierten. Durch diese Band wurde mir klar, dass Popmusik nicht nur Attitüde, sondern auch Statement sein konnte, Los Angeles nicht nur die »Paradise City« meiner pubertären Glamrock-Fantasien, sondern scheinbar auch ein Ort der rassistischen Polizeiwillkür war. Meine emotionale Bindung zu Axl Rose geriet damit zwar ernsthaft ins Wanken, aber dafür war mein Interesse an Politik und Protest geweckt.
WIZO, Kopfschuss
Das waren noch Zeiten, als wilde Verschwörungstheorien der Linken vorbehalten waren und nicht irgendwelchen besorgten Aluhut-Reichsbürgern. Damals war ich der Meinung, dass Deutschpunk grundsätzlich immer recht hat, inhaltlich und optisch. Zumindest letzteres habe ich zum Glück irgendwann einer genaueren Prüfung unterzogen und festgestellt, dass mir Bondagehosen im Zebramuster einfach nicht stehen. Bei einem WIZO-Konzert hatte ich auch meinen ersten Hörsturz – der sich zwei Songs später aber als Ausfall der linken Bühnenlautsprecher herausstellte.
Tocotronic, Freiburg
Der erste Song des ersten Tocotronic-Albums steht stellvertretend für die uneingeschränkte und allumfassende Weisheit dieser Band. Während die meisten meiner Schulfreunde Freiburg Mitte der 90er noch als eine Art südbadisches Christiania verklärten, hatten drei Jungs in Trainingsanzügen die dortigen Fahrradfahrer, Tanztheater und Kleinkünstler schon längst durchschaut. Tocotronic sind eine der wenigen Bands, mit denen ich als Fan den kompletten Weg seit dem Debüt mitgegangen bin und die mit jeder neuen Veröffentlichung einfach alles richtig gemacht haben. Mit Tocotronic bin ich gewissermaßen erwachsen geworden, von der unbeholfenen Oberstufen-Lyrik in Drüben auf dem Hügel bis zu den Manifesten des Scheiterns auf den neueren Alben.
Frederic Rzewski, The People United Will Never Be Defeated!
Mit zeitgenössischer klassischer Musik konnte ich lange Zeit überhaupt nichts anfangen. Zu akademisch. Zu sperrig. Und wo bitte bleibt die Hookline? Und diese nichtssagenden Werktitel erst, prädestiniert höchstens für eine Runde Bullshit-Bingo: Form/Studie/Fragment plus römische Ziffer, ein durch Gedankenstrich gekennzeichnetes Wort-Spiel (oho!), Auslassungspunkte, jetzt noch ein angedeutetes Zitat und… Bingo: L’art pour l’art auf höchstem Blasiertheits-Niveau.
Und dann hörte ich Rzewski. The People United. Mit Ausrufezeichen! In jeder einzelnen Note spürbar! Endlich mal eine greifbare Aussage! Raus aus dem Elfenbeinturm der Dekadenz, mitten rein in die sozialistische Revolution! Dank Rzewski lernte ich zeitgenössische Musik von einer völlig neuen, undogmatischen Seite kennen, arbeitete mich durch all seine kompositorischen Einflüsse und damit nach und nach durch das komplette 20. Jahrhundert. The People United hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet, nicht nur musikästhetisch, sondern vor allem im Hinblick auf die Rolle des Interpreten, auf die Notwendigkeit einer persönlichen Haltung auch auf der klassischen Bühne.
Boysetsfire, My Life in the Knife Trade
Mit manchen Songs ist es wie mit Instagram-Fotos: eigentlich motivisch recht unspektakulär, werden sie mit dem richtigen Filter zu einer symbolischen Momentaufnahme, zum Ausdruck eines persönlichen Zeitgeists. Mein Boysetsfire-Filter sieht folgendermaßen aus: Nebelschwaden aus dem Hazer sorgen für eine leichte Körnung, dazu Strobos für den Lensflare-Effekt und zu guter Letzt ein paar Tequila für die nötige Unschärfe. Auf der halbleeren Tanzfläche wiegt sich im Vordergrund des Fotos ein sterntätowiertes Emo-Girl, die Augen geschlossen in glückseliger Erwartung der Textzeile, die morgens gegen vier Uhr zum Credo der Übriggebliebenen wird: »Find someone else before I get too old.« Bitte 1 Like wenn ihr eure Wochenenden Anfang der 2000er auch so verbracht habt, lol!
The Dresden Dolls, Girl Anachronism
Als ich diesen Song zum ersten Mal hörte, war ich einfach nur beeindruckt davon, mit welcher Energie und welcher Attitüde Amanda Palmer das Klavier hier als tragendes Element einsetzt. Mein Instrument hatte auf einmal wieder einen popkulturellen Sinn! Das war Punk, das war Brecht, das war Kunst, das war sexy, das war alles in allem ziemlich genial. Später kam ich über Umwege an Amandas Mailadresse und bat sie, eine Variation für ein Auftragswerk bei meinem Konzertexamen beizusteuern. Ihre äußerst charmante Antwort endete zwar mit den Worten »Darling, I´m indeed useless to you«, aber verewigt habe ich sie am Ende doch noch. Das Werk heißt: »Darling, I´m indeed useless to you – 12 variations without Amanda Palmer«.
Tom Waits, Martha
Tom Waits bleibt für mich der größte Songwriter überhaupt, da kann Bob Dylan so viele Nobelpreisverleihungen schwänzen wie er will. Tom Waits’ Songs sind wie das musikalische Pendant zu Bukowskis Kurzgeschichten und Edward Hoppers Nighthawks, kein anderer Künstler hat die nächtliche Gossen-Romantik derart perfektioniert. Auch wenn die späteren Alben musikalisch innovativer und interessanter arrangiert sind, mag ich seine Alben auf dem Label Asylum mit ihren Hymnen an die vergessenen, verlorenen und verwundeten Seelen am liebsten. Martha geht in den Waits-Anthologien leider immer ein bisschen unter, dabei ist der Song von einer Schlichtheit und Aufrichtigkeit, die einem immer wieder Tränen in die Augen treiben kann.
Eisenpimmel, Duisburg ist spitze
Jetzt muss ich meine Wahlheimatstadt aber wirklich mal verteidigen: Wir können mehr als Mafia-Morde und Rainer Wendt. Nicht am Äquator liegen zum Beispiel. Duisburgs wichtigster Kulturexport seit Frank Peter Zimmermann haut hier eine wunderbare Nummer raus, bei der man automatisch Lust auf schales KöPi und altes Pommesfett bekommt.
George Antheil, Ballet mechanique
Im Vergleich dazu klingt Strawinskis Sacre wie Fahrstuhlmusik. Neulich spielte ich eine Aufnahme davon einem Freund vor, und er wollte mir nicht glauben, dass dieses Stück vor fast 100 Jahren komponiert wurde. George Antheil ist der vielleicht am meisten unterbewertete Komponist des 20. Jahrhunderts. Mit seinen frühen Werken hat er einen ganz eigenen Kosmos geschaffen (und ganz nebenbei die elektroakustische Musik erfunden). In der Rezeption innerhalb der Neuen Musik wird er aber nach wie vor sträflich vernachlässigt. Und für mich als Pianisten ist die Story mit der Pistole auf dem Flügel natürlich die ganz hohe Schule der Performance-Kunst. (Antheil trug bei seinen Konzerten »zur Sicherheit« stets eine Pistole bei sich, siehe zum Beispiel ORF, d. Red.).
Gisbert zu Knyphausen, So seltsam durch die Nacht
Normalerweise finde ich die meisten der deutschsprachigen Singer/Songwriter sowohl musikalisch als auch inhaltlich völlig belanglos. Befindlichkeitsfixiertes Genöle für SoWi-Studentinnen, dafür aber voll süüüüß und mit dem hippen Hut vom H&M sieht er außerdem fast aus wie der junge Dylan! Bei Gisbert zu Knyphausen ist das etwas anderes. Er schreibt Musik für all die rauchenden, schlaflos-getriebenen Mitdreißiger an den Theken dieser Welt, die sich mit dem Erwachsensein nicht abfinden wollen. Und das hier ist unsere Hymne.
Lampshade, The Hug
Dieser Song braucht keine Erklärung. Wenn bei 1:50 der Gesang einsetzt hat man sowieso alles andere um sich herum sofort vergessen und möchte diese bezaubernde Frau einfach nur in den Arm nehmen. ¶