Dass früher alles besser war, gilt schonmal nicht für die mediale Darstellung junger klassischer Musikerinnen. Viele ältere Interviews mit der Geigerin Julia Fischer verstören zum Beispiel mit einer Mischung aus Chauvinismus und Schmierlappigkeit: »Ein Export-Schlager aus deutschen Landen, mit Kulleraugen und viel blondem Engels-Haar«, »jung sexy klassisch«, »laufstegtauglich«. Ein Fernsehmoderator bezeichnet sie erst als »Superfrau – optisch, musikalisch, von der Intelligenz her«, um sie danach zu fragen, ob sie auch einen Reifen wechseln könne. Ein anderer möchte mit ihr die Frage erörtern, warum »visuelle Reize« der Musik doch noch nie geschadet hätten. Anlässlich von Fischers früheren Äußerungen, weder Tokio Hotel noch Stefan Raab zu kennen und keine Kompromisse machen zu wollen, um das Publikum zu erziehen, scheinen bei manch Kommentatoren die kulturbürgerlichen Phantasien durchzugehen. Beirren lassen hat sich Fischer davon nicht. Die 37-jährige gehört seit mittlerweile zwanzig Jahren nicht nur zu den besten Geigerinnen, sondern auch zu denen, die am besten im Geschäft sind. Seit vierzehn Jahren unterrichtet sie zudem an einer Hochschule, zunächst in Frankfurt, seit 2011 an der Münchner Musikhochschule, wo sie auch selbst studiert hat. An diesem Montag im November hätte Fischer eigentlich in Moskau gastieren sollen. Stattdessen erreiche ich sie per Zoom im bayerischen Gauting, wo sie aufgewachsen ist und heute mit ihrer Familie lebt. Zwischendurch muss sie einmal kurz zur Haustür, weil der Postbote klingelt.

VAN: Gibt es ein künstlerisches Projekt, dem Sie sich während des Shutdowns gewidmet haben, das sonst zu kurz kommt?

Julia Fischer: Ich bin Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, dadurch hat sich das Thema erledigt [lacht]. Ich wurde vom Konzert-Hamsterrad ins Homeschooling-Hamsterrad geworfen …

Worunter leiden Sie als Musikerin derzeit am meisten?

Dass ich ins Leere arbeite. Ich habe unzählige Programme für dieses Jahr erarbeitet, geübt und dann nicht gespielt. Sich nicht mitteilen zu können, ist eine absolute Tragik für eine Künstlerin. Es gibt wenige Berufe, die gerade so von der Politik abhängig sind wie der unsere. Wir können ja nur immer warten, bis die Ministerpräsident:innen sich mit der Kanzlerin treffen. Was dann entschieden wird, danach müssen wir handeln. Ich bin keine Ärztin und keine Virologin, ich kann nicht einschätzen, ob der Shutdown notwendig ist oder nicht. Ich habe Vertrauen, dass die Leute, die von der Sache etwas verstehen, die richtigen Entscheidungen treffen. Aber es gibt andere Dinge in den letzten acht Monaten, die kann ich nicht nachvollziehen.

Zum Beispiel?

Die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien. Es ernüchtert mich, dass die nicht bereit sind, uns Sendezeit einzuräumen. Ich habe vor zwei Wochen beim Konzert zum 75. Geburtstag des NDR Sinfonieorchesters gespielt. Selbst der NDR hält es nicht für notwendig, das Konzert um 20:15 Uhr zu übertragen. Das ist absoluter Wahnsinn.

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Vermutlich ist die erhoffte Quote zu klein.

Das glaube ich eben nicht. Es gab doch vor ein paar Jahren eine Untersuchung, dass mehr Leute in klassische Konzerte gehen als in Fußballstadien. Aber als die Fußballer nicht spielen konnten, wurde das Finale der WM 1990 in der ARD zur Prime Time gesendet. Das mussten wir uns dann reinziehen, damit wir ›irgendwie durchkommen‹ durch die sportlose Zeit. Gleichzeitig heißt es, dass wir die Risikogruppen schützen müssen. Aber die Risikogruppen sind ja die, die ins Konzert gehen. Wenn ARD und ZDF ihren Bildungsauftrag nicht wahrnehmen, haben sie nicht das Recht, unsere Gebühren zu bekommen. Das kreide ich den öffentlich-rechtlichen Anstalten wirklich an.

Haben Sie einen Verbesserungsvorschlag?

Die Untersender der ARD finanzieren jeweils ihr eigenes Orchester. Das BR Symphonieorchester spielt zum Beispiel jeden Donnerstag und Freitag seine Konzerte in München. Warum sagt der Sender nicht: Wenn Publikum kommen kann, schön, wenn nicht, zeigen wir das Konzert jeden Freitag live im Fernsehen? Dann hätte das Orchester auch eine ganz andere Perspektive und Arbeitsmoral.

Das Reisen scheint für viele Musiker:innen eine Art Hassliebe zu sein. Fiel es Ihnen schwer, darauf zu verzichten?

Überhaupt nicht. Geplant war, dass ich dieses Jahr in New York spiele, in Cleveland, Tokio, Seoul, Shanghai, London … Das ist alles weggefallen. Aber für mich spielt es überhaupt keine Rolle, wo ich ein Konzert spiele. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die eine Stadt wichtiger für mich ist als die andere.

Der globale Jet Set ist auch schon vor Corona zunehmend infrage gestellt worden. Liegt in der Pandemie vielleicht auch die Chance für eine Postwachstums-Klassik, die nachhaltiger, klimafreundlicher wird?

Ich hoffe sehr. Ich war nie ein Fan davon, die Bedeutung der Karriere daran zu messen, wie viele Flugmeilen man im Jahr sammelt. Ich halte es für einen absoluten Wahnsinn, dass jedes Orchester denkt, es muss einmal im Jahr in New York gewesen sein und einmal im Jahr in Tokio. Gerade weil in Asien ziemlich viel Geld fließt, oder floss, hätte ich jedes Jahr fünf Tourneen in Asien machen können. Das ist nicht der Sinn der Sache. Ich bin sehr für Kulturaustausch, aber es muss etwas Besonderes bleiben, wenn man dann in Japan spielt. Wenn man alle drei Monate hinreist, ist es schon ein alter Hut.

Haben Sie eine Vorstellung, was an die Stelle des „Höher, Schneller, Weiter“ treten könnte?

Ich glaube, es ist tatsächlich wichtig, dass wir wieder eine Identifizierung mit unserem ›Hausorchester‹ haben. Dass München sich zum Beispiel mit dem BR Symphonieorchester und den Münchner Philharmonikern identifiziert. Es muss etwas Besonderes bleiben, wenn ein Orchester auf der Durchreise ist. Das ist es jetzt überhaupt nicht. Wenn vor zwanzig Jahren das Boston Symphony kam, dann war das ein Highlight, über das man einen Monat geredet hat. Ich finde es im übrigen auch falsch, dass Dirigent:innen mehrere Orchester leiten. Das ist etwas, das ich nie verstanden habe. Ich finde, ein Dirigent sollte sich mit seinem Orchester so identifizieren, dass er sich auch wirklich darum kümmert, auch um die ganze Stadt und deren Musiklandschaft.

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Sie haben für den Bayerischen Rundfunk einmal ein Gespräch mit David Garrett geführt, in dem dieser über seine Krise mit Anfang 20 spricht, die darin resultierte, dass er sich ganz aus dem Klassikbusiness zurückzog. Sie beide haben ja sehr früh und schnell Karriere gemacht. Hatten Sie eine vergleichbare Krise?

Nein, ich glaube das hängt damit zusammen, dass ich, verglichen zum Beispiel mit David, als Kind und Jugendlicher ein völlig normales Leben geführt habe. Ich bin bis zum Abitur in die Schule gegangen, ich wurde nie von Zuhause unterrichtet oder so. Dadurch konnte ich bis ich 19 war keinen vollen Konzertkalender haben und nie mehr als vierzig, fünfzig Konzerte im Jahr spielen. Ich war immer gezwungen, auf die Schule Rücksicht zu nehmen. Das ist mir zwar schwer gefallen, aber im Nachhinein war das wahnsinnig gesund. Ich wurde nicht einfach mit 14 in eine Erwachsenenwelt geschmissen.

Eine Ihrer neuen Schülerinnen, die aus meiner Heimatstadt kommt, wird dort von der Lokalpresse als ›Wunderkind für München‹ bezeichnet. Warum gibt es eigentlich diesen Begriff noch?

Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, Leute in eine Schublade zu stecken und nach Sensationen zu gieren. Ich wurde damit ja auch überschrieben und habe mich dagegen immer gewehrt. Für mich war das auch verletzend, weil es letztlich bedeutete, dass mir etwas ›von Gott gegeben‹ wurde und ich deswegen so spielen kann, wie ich spiele. Es annihiliert die Arbeit, die dahinter steckt. Für mich persönlich war es aber kein ›Wunder‹, dass ich mit 12 das Beethoven-Konzert spielen konnte. Ich konnte das spielen, weil ich sehr viel gearbeitet und geübt habe.

Rein karrieretechnisch haben Sie als Geigerin eigentlich alles erreicht. Was soll jetzt noch kommen?

Je älter ich werde und je länger meine Karriere dauert, desto mehr habe ich das Gefühl, dass mein Fokus auf der Erziehung der nächsten Generation liegt, und nicht unbedingt in meinem eigenen Erfolg. Im Moment widme ich meine gesamte Arbeitszeit meinen Studierenden und meinem Kinderorchester. Ich arbeite wahnsinnig gerne mit den Studenten. Für mich ist es mittlerweile fast wichtiger und schöner, wenn meine Student:innen auf die Bühne gehen, als ich selbst.

Was motiviert Sie denn dann noch in Ihrer Karriere als Solistin?

Ich versuche, dass ich nur Konzerte mit Partnern spiele, die mich inspirieren. Wenn ich zum Beispiel eine Tournee mit Vladimir Jurowski gespielt habe, dann werde ich durch die nächsten Wochen und Monate getragen, weil ich so viel Inspiration bekomme, so viele Ideen, so viel musikalischen Input. Dann kommt man nicht völlig erledigt aus einer Tournee zurück, sondern beflügelt.

Es gibt ältere Interviews mit Ihnen, die sind ziemlich übergriffig, bisweilen auch sexistisch geführt. Sie wurden schubladisiert als die wohlerzogene Bewahrerin der guten alten Klassik, und das scheint manche kulturbürgerliche (männliche) Phantasie beflügelt zu haben.

Ja, aber ich glaube, dass man an denen als junge Frau nicht vorbeikommt. Das ist leider so. Natürlich habe ich Dinge erlebt, die man vielleicht seit MeToo nicht mehr erlebt. Ich glaube schon, dass es uns Frauen geholfen hat im Karriere-Machen oder im In-der-Öffentlichkeit-Stehen, dass manche Dinge jetzt nicht mehr passieren, die vor zehn, fünfzehn Jahren noch gang und gäbe waren.

In München begann letzte Woche der Prozess gegen den ehemaligen Kompositionsprofessor der Münchner Musikhochschule Hans-Jürgen von Bose, dem Vergewaltigung vorgeworfen wird. Der ehemalige Präsident der Hochschule, Siegfried Mauser, der Sie noch eingestellt hat, wurde wegen sexueller Belästigung verurteilt. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Als die Geschichten öffentlich wurden, habe ich zu meinen Studentinnen und Studenten gesagt, dass, wenn es irgendetwas gibt, was ihnen passiert ist, worüber sie sprechen möchten, erstens meine Tür immer offen ist, und es zweitens am Haus Leute gibt, die darauf spezialisiert sind, mit denen sie sprechen können.

Glauben Sie, dass die Lehrer:in-Schüler:in-Beziehung im Instrumentalfach an Musikhochschulen besonders anfällig ist für Machtmissbrauch?

Ich glaube, dass sich jeder Lehrer bewusst sein muss, wie wichtig er für seine Studenten ist. Als ich Studentin war, gab es eine Zeit, in der meine Lehrerin [Ana Chumachenco] für mich die absolut oberste Instanz war. Sie konnte mich leiten und führen und hätte mich auch manipulieren können. Jeder Professor muss sich klar machen, dass er oder sie diese Macht hat. Der Student hat sich ausgesucht, bei mir zu studieren, weil er denkt, dass ich ihr oder ihm am meisten weiterhelfen kann. Das ist oft auch mit einer Form von Bewunderung oder Respekt verbunden. Damit werde ich zu einer Autorität und mit Autorität kommt nun einmal auch Macht.

Sie haben sich vor drei Jahren von Labels verabschiedet und den JF CLUB gegründet. Neuaufnahmen von Ihnen sind jetzt nur noch dort zu finden. Warum?

Es ist nicht so, dass ich von Decca weg bin, weil die doof sind, sondern weil ich dachte: Es geht auch einfacher. Jetzt habe ich die Möglichkeit, eine Aufnahme zu teilen, wenn ich sie teilen möchte. Ich bin meine eigene Herrin. Dieser Apparat, der bei einer großen Plattenfirma dahintersteckt … Ich muss mit den Repertoirezuständigen reden, mit dem PR-Menschen, dann muss ich Rücksicht darauf nehmen, was die Kolleg:innen gerade aufnehmen, damit es sich nicht überschneidet … Es ist einfach nicht notwendig, sich so einzuengen.

Es gibt viele haarsträubend geführte Interviews mit Julia Fischer. Dann doch lieber das in @vanmusik.

Es gibt mittlerweile eine Menge dubioser Agenturen und Plattenfirmen, die gerade junge Musiker:innen versuchen, abzuzocken. Haben Sie da ein Auge drauf bei Ihren Student:innen?

Ich würde behaupten, dass ich diese dubiosen Agenturen und Plattenfirmen erkenne. Es gibt Studenten, die sind so klar, so zielgerichtet, die wissen hundertprozentig genau, was sie wollen und auf welche Weise sie es wollen. Die brauchen, was diese Dinge angeht, nicht meinen Input. Es gibt aber auch jene, die sehr leicht zu manipulieren sind. Da muss man furchtbar vorsichtig sein, in welche Hände sie geraten. Als Lehrerin bin ich für die musikalische Ausbildung zuständig. Ich bin dafür da, dass die Student:innen gute Musiker:innen werden, dass sie nicht in fünf Jahren Rückenprobleme, in zehn Jahren Handprobleme, in 15 Jahren einen Burnout haben. Dass sie sich aus jeder Krise herausmanövrieren können, sowohl technisch und musikalisch als auch psychisch. Das ist meine Aufgabe. Ich bin keine Agentin. Es gibt eine sehr große Daseinsberechtigung für Musikmanager:innen, wenn sie wirklich das tun, wofür sie da sind: in den Künstler:innen zu erkennen, in welche Richtung es gehen soll, was man mit ihnen machen kann. Ist es jemand, die gerne experimentiert, jemand, der gerne alleine ist oder immer jemand an seiner Seite braucht? Dafür ist eine Agentin oder ein Agent da. Wenn mir jemand sagt, diese oder jene Agentur möchte mit mir arbeiten, da würde ich meinen Senf dazugeben. Aber nicht darüber hinaus. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com