Der Wettbewerb »Jugend musiziert« erzeugt Frust und motiviert nur die, die ohnehin sehr gut sind. Geht das auch anders? Ein Kommentar von Ulrich Haider.

Text & Fotos · Datum 8.1.2020

Wenn ich an meine »Jugend musiziert« Jahre zurückdenke, bekomme ich stets ein flaues Gefühl in der Magengegend, und zwar nicht nur, wenn ich an meine Zeit als Teilnehmer denke, sondern auch dann, wenn ich mich an meine Zeit als Juror erinnere. Das Vorspielen war für mich immer ein Gräuel, weil mir das Gefühl gegeben wurde, nur dann erfolgreich sein zu können, wenn ich möglichst fehlerfrei spiele. In der Jury zu sitzen war für mich ebenfalls unangenehm, weil ich viele Teilnehmende erlebt habe, deren Hauptaugenmerk ebenso wie bei mir darauf lag, alles richtig zu machen. Dies ging oft so weit, dass Kandidat*innen mit massiven Angstsymptomen vor mir standen. Ich fand das sehr bedauerlich. Weil Musik nicht mit Angst ausgeübt werden sollte, habe ich meine Tätigkeit als Juror mittlerweile aufgegeben.

Ulrich Haider
Ulrich Haider

Ich kenne die Argumente derjenigen, die diesen Wettbewerb verteidigen, und natürlich können Motivation und Vorbereitung der Teilnehmenden einen Fortschritt am Instrument mit sich bringen. Ebenso kenne ich die Bemühungen der Organisatoren, auf die Juror*innen einzuwirken, eine freundliche Atmosphäre zu schaffen und grundsätzlich wohlwollend mit den Teilnehmenden umzugehen. Trotz allem ist und bleibt dieser Wettbewerb nach meiner Meinung ein sinnloses Bewerten und Vergleichen, mit wenigen Gewinner*innen und vielen Verlierer*innen. Eine derart leistungsorientierte Sichtweise von Musik erzeugt Konkurrenz, Druck, Stress und eine problematische Fehlerkultur. Darüber hinaus werden alle diejenigen von vornherein ausgeschlossen, die mit Problemen zu kämpfen haben oder in irgendeiner Weise eingeschränkt sind. Sie nehmen erst gar nicht teil oder werden zwangsläufig mit wenigen Punkten bewertet. Dies impliziert, dass sie »weniger wert« sind – bedauerlicherweise unabhängig davon, wie gewissenhaft sie an sich gearbeitet oder sich vorbereitet haben. Da helfen auch keine Jurygespräche.

Ist ein solches System wirklich sinnvoll? Wäre es nicht besser, Entwicklungen zu bewerten als eine momentane Leistung, besonders in den wichtigen Lernphasen der Kindheit und Jugend? Wäre es nicht besser, allen eine Erfolgschance nach ihren individuellen Fähigkeiten zu geben, nicht nur denjenigen, die sowieso erfolgreich sind? Gibt es keinen anderen Weg, einen der alle motiviert, der nicht Frust erzeugt und sogar Traumata verursacht?

Ja, den gibt es. Ich kenne ein System, das Entwicklung statt Leistung bewertet, frei von Konkurrenz. Das alle nach ihren Möglichkeiten prüft, ohne Angst, aber trotzdem höchst anspruchsvoll. Dieses System ist nicht neu, es ist auch keine fixe Idee, vielmehr hat es eine lange Tradition und ist sehr gut durchdacht. Ich spreche von den traditionellen asiatischen Kampfsportarten. Im Folgenden werde ich am Beispiel Taekwondo, das ich seit nunmehr 17 Jahren aktiv ausübe, ausführen, wie ein solches System funktioniert.

Grundlage ist ein Graduierungssystem mit zahlreichen Stufen. Im Schülerbereich sind es zehn, sogenannte Kups, sichtbar durch die Gürtelfarben weiß bis rot. Bei den Meistergraden gibt es bis zu neun sogenannte DAN, an der Art des schwarzen Gürtels erkennbar. Träger des 1. DAN-Grades haben also zehn Prüfungen und zahlreiche Trainingseinheiten durchlaufen. Ihr Erfahrungsschatz ist groß. Höhere DAN-Träger*innen müssen bis zur jeweils nächsten Prüfung so viel Jahre warten, wie ihr zu erreichender Grad nummeriert ist, vom zweiten zum dritten DAN beispielsweise mindestens drei Jahre. Eine sehr aussagekräftige Einstufung, denn steht eine Person mit hohem DAN-Grad vor mir, weiß ich, dass deren Erfahrung und Können immens ist.

Worin liegt nun der Unterschied in den Prüfungen? In erster Linie im Aufgabenbereich der Prüfer*innen. Bei Jugend musiziert können eigentlich alle in der Jury sitzen, die nur einen Funken musikalischen Verstand besitzen. Es ist sehr leicht zu sagen, ob eine Performance gut oder schlecht war und daraufhin eine Einteilung in Punkte vorzunehmen. Ein wenig Diskussion mit den Mitjuror*innen und schon ist ein Urteil gefällt. Im Taekwondo ist das anders. Es darf nur prüfen, wer einen Meistergrad besitzt, weit über dem, der zur Prüfung antritt. Meine Prüfung zum 1. DAN wurde von einem 8. DAN vorgenommen, einem Meister mit lebenslanger Erfahrung. Er kennt jede Nuance einer Prüfung, da er selbst schon so viele durchlebt hat. Er weiß um jede Problematik und kann aus dem Augenwinkel heraus feststellen, ob jemand gut vorbereitet ist. Weil er das alles weiß, sitzt er auch nicht passiv hinter einem Tisch und macht sich Notizen, nein, er führt die Kandidat*innen durch die Prüfung. Dabei stellt er ihnen auch Aufgaben abseits des konventionellen Trainingsprogramms. Er will nicht nur sehen, ob etwas geübt wurde, er will sehen, ob das, was gelernt wurde, auch verinnerlicht ist. Der Fokus der Prüfung liegt nicht primär darauf, ob etwas gelingt, sondern ob genug Wille, Entschlossenheit und Konsequenz vorhanden ist, Aufgaben zu meistern. Gerade eben hat in meiner Schule ein Mädchen mit geistiger Behinderung ihre erste Prüfung abgelegt. Sie hat ihre Hyong (die erste von 24 festgelegten Formen mit stetig steigendem Anspruch, vergleichbar mit Etüden oder Solokonzerten) nach ihren Möglichkeiten über Monate hinweg erarbeitet. Unter der Führung eines 5. DAN absolvierte sie ihr Programm und stieg damit in eine neue Entwicklungsstufe auf. Es wurde sogar eigens eine neue, besondere Gürtelfarbe für sie kreiert. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das in diesem Mädchen bewirkt hat. Meine persönlichen Erfahrungen sind vergleichbar. Aus jeder Taekwondo-Prüfung ging ich als anderer Mensch heraus, einen großen Schritt weiter als vorher. Ich habe mich nicht nur vor, sondern auch in der Prüfung entwickelt, durch die Herausforderungen, die mir gestellt wurden und durch die Impulse der erfahrenen Prüfenden. Und … ich war immer motiviert weiter zu lernen. Im Gegensatz dazu war ich bei Jugend musiziert‹ einfach nur froh, wenn es einigermaßen gut lief. Mehr nicht. Und das obwohl ich zu den eher erfolgreicheren Teilnehmern gehörte.  

Wie lässt sich die Philosophie des Taekwondo nun auf Jugend musiziert übertragen?

Man muss neu denken und den Mut haben, etwas zu ändern. Ein Graduierungssystem wäre nötig, mit vielen Stufen und stetig steigenden Anforderungen. Die Prüfenden führen durch die Prüfung, was bedeutet, dass sie über den Ablauf entscheiden und gezielt Impulse setzen, wenn sie spüren, dass solche nötig sind. Ein Aspekt kann sein, Kandidat*innen Strategien zur unmittelbaren Problembewältigung zu geben (z.B. bei zu hoher Aufregung), ein weiterer, Kandidat*innen an ihre individuellen Grenzen zu führen. Dies ist wichtig, um ein Bewusstsein zu schaffen, welche weiteren Schritte für die persönliche Entwicklung nötig sind. Meine Erfahrung zeigt, dass Impulse während der Prüfung erheblich mehr Wirkung zeigen, als jedes Jurygespräch im Anschluss daran.

Vergleicht man das Prüfungsprogramm im Taekwondo ist es mit seinen vielen Bestandteilen (Formenlauf, Freikampf, Selbstverteidigung, Bruchtest) dem in der Musik (Tonleitern, Etüden, Konzerte) durchaus ähnlich. Im Kampfsport wird nicht nur einzeln geprüft, sondern gleiche Gürtelfarben auch gleichzeitig. Das nimmt viel Stress heraus, besonders bei Menschen, die wenig Selbstbewusstsein besitzen. Einzeln zu prüfen ist auch gar nicht zwingend nötig. Haben Prüfende große Erfahrung, sehen sie sofort, ob Tonleitern und Etüden gut vorbereitet wurden oder nicht, auch dann, wenn sie gemeinsam gespielt werden – außerdem ist synchrones Spiel ein wichtiger Faktor in der Musik.

Regional-, Landes-, und Bundesebenen können bestehen bleiben, wenn sie als Treffen und gemeinsames Lernen von verschiedenen Graden gesehen werden.

Im Taekwondo wird nicht unterschieden, ob man jung ist oder alt. Es gibt sehr junge Menschen, die schon einen Meistergrad besitzen und es gibt solche wie mich, die erst mit fast 50 Jahren ihren DAN machen. Vielleicht sollten wir in der Musik Integration auch dahingehend denken, dass wir keinen Unterschied zwischen alt und jung machen. Vielleicht braucht es gar kein ›Jugend musiziert‹, sondern ein ›Alle musizieren‹. Durch ein Graduierungssystem wäre das recht einfach umzusetzen. ›Jugend musiziert‹ könnte auf diese Weise einfach ein Treffen der Jugend unterschiedlicher Graduierungen sein, auf Regionalebene aller Grade, auf Landesebene ab den mittleren Graden und auf Bundesebene der Meistergrade, immer mit dem Ziel eine nächsthöhere Graduierung zu erreichen, ohne jegliches Konkurrenz- oder Elitedenken.  Es wäre die Ebene, die dann auch für Hochschulen interessant sein kann, denen ein Graduierungssystem übrigens auch nicht schaden könnte. In den Probespielen kann ich beobachten, dass Hochschulabschlüsse von Instrumentalist*innen nicht wirklich aussagekräftig sind.  

Der Wettbewerb @Jmusiziert erzeugt Frust und motiviert nur die, die ohnehin sehr gut sind. Geht das auch anders?, fragt @vanmusik.

Apropos Probespiele: In der musikalischen Ausbildung wird unglaublich viel Zeit und Energie darauf verschwendet, mit Druck, Ängsten und Stress umzugehen, verursacht durch Strukturen, die aus einem Leistungs- und Perfektionsdenken heraus erzeugt werden. Ich zähle Wettbewerbe ebenso dazu, wie die gängige Probespielpraxis in den Orchestern. Freies Musizieren, das über die rationale Ebene hinausgeht, das inspiriert und erfüllt, ist unter solchen Bedingungen leider nur den wenigsten Instrumentalist*innen möglich. Betrachtet man die steigende Anzahl an Angststörungen bei jungen Menschen und den hohen Medikamentenmissbrauch bei Berufsmusiker*innen (viele davon ehemalige Jugend musiziert- Teilnehmer*innen) ist es Zeit, etwas zu ändern. ¶

Ulrich Haider ist stellvertretender Solo-Hornist der Münchner Philharmoniker.