Vor ein paar Wochen habe ich Jennifer Walshe per Skype interviewt. Ich war in Berlin, sie in ihrem Büro in London. In derselben Woche wurde Walshes Werk mit dem Innovationspreis der British Association of Songwriters, Composers and Authors (BASCA) ausgezeichnet, außerdem lag ein Solo-Recital auf dem Ultraschall Festival in Berlin am 21. Januar vor ihr. Ich sprach mit Walshe über ihren Fokus auf Multimedia, ihre Beziehung zu Texten und Literatur und den Einfluss des derzeitigen, etwas merkwürdigen Zeitgeistes auf ihre künstlerische Vision.
VAN: Als jemand, der im Ausland lebt, würdest du sagen, dass deine irische Identität Teil deiner künstlerischen Identität ist?
Jennifer Walshe: Ja, ganz massiv. Die irische Identität hat schon eine Bedeutung, wenn man in Glasgow lebt und in ein etwas raues Viertel geht, das voller Rangers-Fans ist; und auf eine andere Art, wenn man in Chicago ist und noch einmal eine ganz andere in Berlin, New York oder London. Es gibt Leute, die davon ausgehen, dass man warmherzig und charmant ist – da geht es dann meistens um das Bild vom edlen Wilden, dem Magical Negro. Ich denke schon, dass es ihn gibt, den Friendly Paddy – so wird man als Ire oft behandelt. Das geht von Rassismus bis hin zu einer Art Irophilie, aus der heraus Leute dich lieben, einfach nur, weil du Ire bist. Man selbst denkt sich dann: ›Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun‹. Meine Kombination aus Geschlecht und Nationalität hat ziemlich stark geprägt, wie ich über die Dinge denke.

Viele deiner Werke sind schwierig zu fassen – etwa dein vor kurzem fertiggestelltes Second Book of Folksongs. Glaubst du, dass so etwas wie Genre heute keine Relevanz mehr hat?
Mir macht es großen Spaß, mit Genres zu spielen. Ich habe sie Folksongs genannt, weil mir bewusst war, dass dadurch eine ganz bestimmte Vorstellung hochkommt. Letztes Jahr habe ich ein Album mit Tony Conrad aufgenommen, dessen Titel wahrscheinlich ›Songs by Jennifer Walshe and Tony Conrad‹ sein wird, was auf seine Weise einen etwas komischen Beigeschmack hat, fast schon eine Provokation ist. Ich glaube nicht, dass Genres jemals verschwinden, und ich finde, das ist auch gut so – ich mag es, etwas eine ›Oper‹ zu nennen, mir gefällt das, was dabei mitschwingt. Ich glaube wir brauchen Dinge, nach denen wir streben und mit denen wir unseren eigenen Arbeit einen Rahmen geben. Wie zum Beispiel bei Perfect Lives von Robert Ashley: Wenn jemand gesagt hätte: ›Das ist ein Musiktheaterstück‹, hätte das etwas komplett anderes bedeutet als: ›Das ist eine Oper. Das ist, was eine Oper sein kann, was Oper bedeuten kann.‹
Prosa von dir wird in der bald veröffentlichten Dalkey Archive Anthology of Irish Literature (2017) erscheinen. Darin stehst du in einem illustren Kreis neben Autoren wie Samuel Beckett und Flann O’Brien. Unterscheidest du in deiner künstlerischen Arbeit zwischen textbasierten und performancebasierten Werken?
Für mich steht der Klang immer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Sachen in der Dalkey Archive Anthology sind Beschreibungen von fiktionalen irischen Avantgarde-Musikern – der Klang steht also auch hier im Zentrum. Meine Mutter ist Schriftstellerin, sie hat mich von Anfang an ermutigt – auch in dem Sinne, dass sie eine extrem strenge Kritikerin ist und die Dinge beim Namen nennt. Immer wenn ich als Kind etwas geschrieben hatte, gab sie mir rigoroses Feedback, was dazu führte, dass ich heute oft ziemlich streng mit mir selbst und anderen bin, einfach, weil ich davon ausgehe, dass das so normal ist. Jedenfalls waren viele meiner frühen kreativen Bemühungen literarisch. Jetzt dahin zurückzukehren und meine Texte in meinen Stücken zu verwenden, fühlt sich für mich deshalb ganz natürlich an. Es ist fantastisch, dass Rob (der Herausgeber der Anthologie Rob Doyle, d.Red.) diese Sachen für das Buch ausgewählt hat. Als ich mit ihm sprach, wurde mir bewusst, wie nah manche meiner neueren Sachen am literarischen Schreiben sind. In letzter Zeit lese ich viel Konzeptpoesie – ziemlich viel davon und ziemlich viel darüber.
Text ist im Moment auch deshalb besonders wichtig für mich, weil es damit ein bisschen so ist wie mit dem Kanarienvogel im Untertagebau: ein Frühwarnsystem, das zeigt, wie Kultur sich verändert. Deswegen lese ich viel auf Twitter: weil ich wissen will, was die Leute gerade tun. Ich lese Weird Twitter-Sachen, ich folge viel Black Twitter, solche Sachen.
Schon als Kind hatte ich viele verschiedene Notizbücher, in die ich alles reinschrieb, was mir gerade irgendwie interessant vorkam. Erst jetzt knüpfe ich wieder daran an. Im letzten Jahr habe ich Texte angehäuft, die ich entweder selbst geschrieben, überhört, falsch verstanden oder von Webseiten genommen habe und die ich – fragmentarisch oder ganz – in riesigen PDF-Dateien zusammengebündelt habe. Dann drucke ich sie auf Papier aus (sie hält ein dickes A4-Buch in die Webcam) und binde sie mit einer Spirale. Wenn ich diese Bücher dann öffne, habe ich Text. Wenn ich nach einem Text suche, mit verschiedenen Ideen herumspiele, schlage ich einfach das Buch auf und blättere durch. Auch, wenn ich einen Improv-Gig habe, nehme ich diese Bücher mit – ich nenne die Gigs alle ›Book is Book‹ – und stelle sie auf einen Notenständer. Ich kann sie dann einfach durchblättern, einen Text rausgreifen und improvisieren. Wie ein DJ mit Platten.
Das physische Buch lässt also etwas Neues entstehen aus diesen flüchtigen Online-Momenten?
Gerade nachdem Trump gewählt wurde, gab es all diese kleinen Textfragmente, bei denen ich dachte: ›Oh, das fühlt sich an wie ein Sediment‹, wie eine Kohleschicht, bei deren Betrachtung klar ist, dass es in diesem Jahr ein Feuer gab. Lena Dunham zum Beispiel hat einen Newsletter verschickt, in dem sie den Abend auf Hilary Clintons vermeintlicher Siegesparty geschildert hat. Darin schrieb sie, dass sie an diesem Abend einen Ausschlag am Kinn hatte und als sie sich umdrehte, bemerkte, dass die Frau neben ihr auch einen Ausschlag hatte. Da dachte ich: ›Das ist doch … das kann doch nicht sein, die denkt sich diese Scheiße aus!‹ Ich habe einfach Copy and Paste gedrückt. So ist meine Praxis gerade. Das kommt Schreiben ziemlich nahe, aber letztendlich kommt alles vom klingenden Wort, falls das so Sinn ergibt.
Jennifer Walshe, The Total Mountain (Auszug)
Deine Stücke The Total Mountain und Everything is Important (für das Arditti Quartett) sind ziemlich multimedial ausgerichtet. Als ich Total Mountain in Dublin erlebt habe, hat sich das paradoxerweise aber ziemlich unvermittelt angefühlt. Hast du, wenn du komponierst, im Vorfeld ein bestimmtes Konzept, dass du erkunden willst, oder entwickelt sich das im Laufe des Kompositionsprozesses?
Das kommt ganz auf das Stück an. Sowohl bei The Total Mountain als auch bei Everything is Important wollte ich Stücke schreiben, deren Textur unser derzeitiges Lebendigsein wiederspiegelt. Das war sehr wichtig für mich, mich umzuschauen und den Prozess des Schreibens dieser Stücke als Übung anzusehen, ganz in der Gegenwart zu sein. Ich zitiere immer gerne den Vortrag von John Cage, den er gegen Ende seines Lebens in Tokio gab und in dem er über Zen-Buddhismus sprach. Darin berichtet er wie er selbst einen Vortrag über Zen hörte, in dem gesagt wurde: ›Ihr müsst euch ganz der Zeit auf dem Kissen widmen, der Meditation.‹ Er wusste, dass er keine Zeit auf dem Kissen verbringen konnte, aber dasselbe auch mit seiner Musik erreichen konnte. Er hatte am Tage keine acht Stunden Zeit zum Meditieren, aber er hatte acht Stunden zum Komponieren – seine Zen-Übungen machte er also dadurch.
Bei The Total Mountain habe ich versucht, genau diese Textur zu erreichen. Ich habe versucht, zu verstehen: Was heißt es, dass ich einen Laptop vor mir habe? Was sollen diese ganzen Wörter auf meinem Laptop? Wie funktionieren sie? Wie hängt meine Existenz von ihnen ab? Mit Everything is Important war es genau gleich. Am Ende gab es dann natürlich ganz verschiedene Texturen und Dinge, die viel abstrakter sind.
Ich bin trotzdem der Meinung, dass The Total Mountain und Everything is Important ziemlich überwältigend sind. Es gibt wahnsinnig viele Informationen in den Videos, daneben gibt es Texte, Klänge die vom Video kommen, den Klang meiner Stimme und Live-Bewegungen. Ich denke aber auch, dass die Informationsdichte nicht viel größer ist, als wenn man 40 Minuten im Internet ist, auf Twitter, oder in der Londoner Tube, wenn man sich umschaut und versucht die visuellen und klanglichen Eindrücke aufzunehmen.
Welchen Einfluss hat die Arbeit mit traditionelleren Neue-Musik-Ensembles wie dem Arditti Quartett auf deine künstlerische Arbeit?
Mit den Ardittis war es eine ganz klare Sache. Die kamen auf mich zu und haben gesagt: ›Wir hätten gerne, dass du etwas schreibst und dass du auch selbst mitspielst.‹ Ich wusste also von Anfang an: ›Ok, ich mache selbst mit und ich schreibe das Stück.‹ In dem Stück gibt es das, was ich ›klar strukturierte Improvisation‹ nennen würde. Mir war lieber, dass sie erst zuhören und dann das tun, was sie selbst tun würden, damit ich weiß, wie es zu etwa 90 Prozent in den Aufführungen sein wird, in den entsprechenden Abschnitten des Stücks. Lieber so, als 40 Seiten extrem komplexe Musik aufzuschreiben. Es gibt eine Art Unmittelbarkeit (in strukturierter Improvisation), und ich kann darauf reagieren. Das macht mir viel Spaß. Als Gruppe sind wir so besser zusammen: Ich höre ihnen zu, provoziere sie ein bisschen, sie provozieren mich zurück und zusammen reagieren wir auf die Akustik des Raums. Das kommt dann dem traditionellen Komponistenbild tatsächlich schon etwas näher. ¶