Jean-Guihen Queyras über die Zusammenarbeit mit Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, den Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit und die Bedürftigkeit als Feind des Künstlers.

Text · Fotos © Anne Van Aerschot · Datum 13.12.2017

Die SWR Schwetzinger Festspiele betreten in diesem Jahr vom 26. April bis 25. Mai Neuland, unter anderem mit den Residenz-Künstlern Andreas Ottensamer, Jean-Guihen Queyras und Georg Nussbaumer. Die Reise beginnt mit Elena Mendozas und Matthias Rebstocks drittem gemeinsamen Musiktheaterwerk Der Fall Babel (Uraufführung am 26. April), das den Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellt und ein Plädoyer für Toleranz und Vielfalt hält. Dem folgend teilen einen Monat lang eine Vielzahl von Künstler*innen in Schwetzingen ihre Neuentdeckungen. Wir stellen hier vier von ihnen vor.

Es gehört zum Zeitgeist, dass sich Kunstformen wie Parasiten auf Bachs Musik setzen und deren Gehalt aussaugen. Bach wird vertanzt, szenisch aufgeführt, ritualisiert und gesamplet. Das, was dabei herauskommt, kann selten vor der Größe des Originals bestehen. Oft führt es zu dessen Banalisierung, ist dekorative Illustration oder schlicht Kitsch. Es könnte daran liegen, dass man sich mit dem Aneinanderreiben von Oberflächen zufrieden gibt. Was aber haben sich Kunstformen und -werke einander zu sagen, wenn man deren Kern in den Dialog bringt? Ein Beispiel, bei dem in der Auseinandersetzung mit Bachs Musik ein eigenständiges Werk neuer Ordnung entsteht, ist die Produktion »Mitten wir im Leben sind«, die die belgische Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker zusammen mit Tänzer*innen ihres Ensembles Rosas und dem Cellisten Jean-Guihen Queyras zu Bachs Cellosuiten entwickelt hat. »Ich wollte schon lange ein Projekt in Interaktion mit Tanz machen«, erzählt Queyras. »Ich habe mir viel angeguckt, aber es gab sehr wenige Choreographen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie wirklich eins werden mit der Musik. Anne Teresa dringt wirklich zum Kern vor, sie schafft ihr eigenes Werk. Das sind jetzt ihre Bach-Suiten.« Was aber ist dieser Kern, was bedeutet es für einen Cellisten, mit Tänzern zu arbeiten, was macht es mit der eigenen Bühnenpräsenz, und wie fließt das stärker werdende Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit in das künstlerische Selbstverständnis ein? Darüber spreche ich mit Jean-Guihen Queyras am Tag nach einer Aufführung von »Mitten wir im Leben sind« im Hebbel am Ufer in Berlin.

Hast du es in der Arbeit mit Tänzern manchmal als Mangel empfunden, als Cellist die innere Bewegung nicht unmittelbarer in eine äußere übersetzen zu können?

Manchmal beneide ich ein wenig die Geiger oder Bratscher, die beim Spielen im Stehen schwingen können. Bei diesem Projekt vermisse ich das aber gar nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Tänzer auf das, was ich tue, unmittelbar reagieren, dass sie zu einer Inkarnation der Musik werden, was eigentlich eine Wunschfantasie ist, die man als Musiker oft hat. Da muss ich mich selber gar nicht bewegen.

Manche deiner Kollegen versuchen, dem Hörer über Gesten, Grimassen, Körperbewegungen ein bestimmtes Gefühl vorzugeben. Das ist bei dir anders …

… ich hoffe, dass dadurch kein Gefühl von Distanz entsteht?

… nein, ich finde es im Gegenteil sehr wohltuend, wenn mir niemand etwas aufzwingen will.

Es ist einer der Gründe, warum ich mit Anne Teresa [De Keersmaeker] arbeiten wollte. Wenn sie mit Musik arbeitet, geht sie zur Wurzel, sucht nach ihrem Entstehungsgrund, und pflanzt von dort ihren eigenen Zweig, woraus ein neues Werk entsteht. Diese Idee, in der Interpretation nach dem Kern zu suchen und von dort etwas entstehen zu lassen, finde ich interessanter als unbedingt etwas vorzustellen und verführen zu wollen.

Ist das etwas, wo dich Pierre Boulez und die 10 Jahre im Ensemble intercontemporain geprägt haben?

Ja, aber Boulez war da noch extremer. Substanz! Transparenz! Klarheit! Bei ihm ging es fast in Richtung Objektivität. Gerade bei den Bach-Suiten will ich das Subjektive doch zu einem bestimmten Anteil reinlassen. Ich merke, dass ich anders spiele, wenn die Tänzer da sind. Es gibt eine Interaktion, ich möchte da nicht hermetisch bleiben, nach außen abgeschlossen.

Ich hatte gestern den Eindruck, dass du bei der Fünften Suite, die du zum Teil alleine auf der Bühne spielst, anders spielst als bei den Stücken mit Tänzern.

Das kann sein. Wir haben entschieden, dass dort die Musik an und für sich steht, deswegen gehe ich mit der Zeit etwas anders um. Wobei es nicht so ist, dass ich mit den Tänzern weniger Freiheit habe. In den Bourrées der Dritten Suite, zum Beispiel, wenn Marie [Goudot] und Anne Teresa um mich herum im Kreis tanzen: alleine habe ich die nie so frei gespielt! Ich merke, wie sie mit ihrem Schritt das Tempo nach hinten ziehen. Das ist wie der Unterschied ob man alleine oder mit einem Partner tanzt. Seit der Arbeit mit Anne Teresa habe ich die Sechs Suiten ein paar Mal alleine aufgeführt. Mir fehlte dabei zunächst diese Inkarnation, das Gewicht der Verkörperung der Musik. Ich habe eine Suite gebraucht, bis ich dieses Gefühl des Mangels überwunden hatte. Und seit dem Projekt spiele ich die Suiten noch rhythmischer, tänzerischer.

Was ändert sich noch durch die Aufführungssituation? Gibt es zum Beispiel weniger Perfektionsdruck, weil du nicht alleine als Solist auf der Bühne sitzt?

Ja, du hast Recht, tatsächlich gibt es da einen Unterschied. Ich habe viele Jahre gebraucht, mich von diesem Perfektionsdruck zu distanzieren, muss es immer noch, wenn ich allein spiele, weil er absolut anti-kreativ ist.

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Mir geht es so, dass ich beim Hören der Suiten in einen Zustand kognitiver Klarheit gerate, als wenn Synapsen oder neuronale Strukturen neu verbunden werden. Könnte es daran liegen, dass es polyphone Musik für ein Solo-Instrument ist und man die ganze Zeit unbewusst im Kopf die angedeutete Vertikalität, die harmonische Struktur zusammenbaut und ergänzt?

Es freut mich, wenn das so wäre. Ich sage meinen Studenten immer, dass wir als Spieler die Verantwortung haben, den Tönen, die wir horizontal präsentieren, einen Zusammenhang zu geben, aus dem eine vertikale Tiefe entsteht. Das ist, was wir bei Bach suchen, was vielen Studenten am Anfang sehr schwer fällt.

Sonst sind es einfach nur viele Noten.

Sonst sind es sehr vielen Noten, das kann wirklich das Problem sein. Zu dieser empfundenen Dreidimensionalität der Musik, die Du ansprichst, gehört auch, dass ich mein Timing, meine Artikulation auf eine – ganz oft virtuelle – Basslinie beziehe. Ich habe darüber oft mit Anne Teresa gesprochen, bis sie irgendwann zu mir meinte: ›Jean-Guihen, ich brauche diese Basslinie!‹ Ich habe dann die Partitur mit dieser Bassslinie ergänzt und sie sogar aufgenommen. Die Tänzer konnten also nicht nur mit meiner Aufnahme der Suiten arbeiten, sondern auch nur mit der Basslinie, oder mit der Aufnahme mit unterlegter Basslinie.

Mitten wir im Leben sind beschreibt im Durchgang durch die Sechs Suiten einen Lebenszyklus, mit dem Zusammenbruch in der Fünften und einer Art Wiederauferstehung in der Sechsten Suite. Ist das etwas, was Du beim Spiel emotional nachvollziehst?

Ja, und das ist auch der Grund, warum ich die Suiten mittlerweile immer in der Reihenfolge spielen möchte. Früher habe ich das anders gemacht, weil ich dachte, es müsse ein Gleichgewicht geben. Ich habe probiert, eine frühe und eine späte Suite zu kombinieren, damit es eine größere Balance gibt, weil die Suiten gegen Ende immer mächtiger werden. Die Sechste ist fast doppelt so lang wie die Erste. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es wirklich eine Geschichte gibt, eine Entwicklung, die philosophisch unglaublich sinnvoll ist.

Was macht man, wenn man da durchgegangen ist? Trinkt man dann ein Bier?

(lacht) Ja, kein Problem mit dem Bier! Man trifft sich mit Freunden und feiert, dass man das Glück hat, durch das Genie von Bach tolle Momente zu erleben.

Jede Suite hat einen eigenen Charakter. Hast du für jede eine eigene Bildwelt, in die du abtauchst und die du beim Spielen weiterstrickst?

Ja, das war übrigens auch das erste, was Anne Teresa mich gefragt hat, als wir angefangen haben, miteinander zu arbeiten. Es sind keine konkreten Bilder, sondern eher abstrakte Atmosphären. Bei der Ersten Suite ist es das Fließende, das Naturverbundene, das Prélude ist wirklich wie ein Bach. Bei der Zweiten ist es die Melancholie, bei der Dritten die Lebensfreude, die Vierte ist eine wunderschöne Mischung aus Feierlichkeit, vertikaler Form und Liebe. Die Fünfte ist die dramatischste, mit einem wirklichen Bruch ab dieser total metaphysischen Sarabande. Die Sechste ist einfach eine Liebeserklärung an die ganze Welt, mit diesem Aufschwung nach oben.

Ihr habt das Stück schon an verschiedenen Orten aufgeführt, unter anderem in einer Gladbecker Maschinenhalle auf der Ruhrtriennale, im Brüsseler Opernhaus La Monnaie, in der Elbphilharmonie, hier im Hebbel am Ufer. Was war bisher der beste Ort?

In der Maschinenhalle, mit den gewaltigen Maschinen und der riesigen Bühne, war die Interaktion mit dem Draußen einmalig. Um mit dem Außenlicht zu arbeiten, haben wir die Fenster offengelassen und jeden Tag ein bisschen früher angefangen, damit es im richtigen Moment dunkel wird, in der Fünften Suite. Einmal zog ein richtiger Sturm auf und es hat reingeregnet, genau bei der Courante der Fünften Suite. Die Elbphilharmonie war eher schwierig, ich spiele dort sehr gerne, aber für das Projekt war es nicht ideal mit der Beleuchtung, auch das Publikum war gerade für so ein Projekt, bei dem ein Typ zwei Stunden Bach spielt, problematisch. Ich will nicht sagen, dass die Leute erst ›initiiert‹ werden müssen, aber das war das andere Extrem. Viele sind auch währenddessen gegangen.

Du hast die Bach-Suiten vor zehn Jahr aufgenommen. Bist Du noch glücklich damit?

Ich stehe noch zu dieser Aufnahme. Es gibt genügend andere von mir, bei denen ich keine Lust mehr habe, nochmal reinzuhören (lacht).

Es gibt ja gerade bei den Bach-Suiten die Ansicht, dass man eine gewisse künstlerische Reife braucht, um sie aufzunehmen. Rostropowitsch und Casals waren jeweils Mitte 60. Ist das Quatsch?

Irgendwo schon, ja. Ich habe sie mit 40 aufgenommen, für mich war das der richtige Zeitpunkt. Bei Rostropowitsch war es glaube ich eine andere Geschichte. Er hat sich sehr gefürchtet vor diesem Repertoire, er hat sich darin aus kulturellen Gründen nicht so zu Hause gefühlt, wollte es aber trotzdem gemacht haben. Bach hat so viele Ebenen, dass wahrscheinlich auch die jugendliche Kraft eines 20jährigen in dieser Musik etwas herausbringen kann, was da ist.

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Gibt es überhaupt Musik, bei der du sagen würdest, man sollte sie nicht zu jung spielen?

Wenn überhaupt vielleicht so etwas wie Mahler? Ich weiß, dass ich bei seiner Musik mit 18 gedacht habe: ›Warum muss man sich das Leben so kompliziert machen?‹ Mit 40 habe ich angefangen zu verstehen, dass man sich das Leben Gottseidank kompliziert macht.

Rätst du deinen Studenten manchmal, bei bestimmten Stücken lieber noch etwas zu warten?

Ja, es geht weniger um ein ›warte bis du älter bist‹, sondern um eine richtige Reihenfolge. Wenn ein junger Bachelor-Student mit einer späten Beethoven-Sonate zu mir kommt, dann halte ich das für wenig sinnvoll, nicht wegen des Alters, sondern weil man erstmal lernen sollte, eine Boccherini-Sonate zu phrasieren, danach vielleicht Haydn, und dann wird man die unglaublich komplizierten, verwickelten Wege von Beethoven besser verstehen, ausdrücken wollen und technisch durchsetzen können.

Gibt es Aufnahmen der Bach-Suiten, die du bewunderst?

Anner Bylsma war auf jeden Fall eine große Inspiration, im direkten Kontakt noch mehr als durch die Aufnahme. Ich habe einmal einen einwöchigen Meisterkurs zu den Bach-Suiten bei ihm gemacht, das war eine Offenbarung. Plötzlich habe ich in dieser Musik viel mehr Dimensionen und ganz neues Leben entdeckt. Auf einer ganz anderen ästhetischen Ebene hat mich Yo-Yo Mas erste Aufnahme beeindruckt, als ich jünger war. Wenn ich sie heute höre, ist es stilistisch nicht das, was ich selber tun würde. Aber ich finde, wie immer bei ihm, dass er es wirklich versteht, die Musik über eine dramatische Linie spannend zu halten und uns von der ersten bis zur letzten Note in seinen Bann zu ziehen.

Der Name des Projekts Mitten wir im Leben sind stammt aus einem Kirchenlied von Martin Luther, ›Mitten wir im Leben sind / Mit dem Tod umfangen‹, geht es weiter. Das Thema der Vergänglichkeit ist auch in der Choreographie allgegenwärtig. Was ist dein Blick darauf?

Es ist ein starker Satz, der auf vielen Ebenen relevant ist. Einmal autobiographisch, Anne Teresa und ich sind beide in unseren 50ern, wo man in beide Richtungen blickt. Manche Leute haben mich auf den Titel angesprochen, ›das ist ein bisschen düster, wenn man weiß wie es weitergeht … umgeben vom Tod.‹ Dabei drückt er doch nur aus, was eigentlich klar und selbstverständlich ist: das ›aus dem Nichts und zurück zum Nichts‹, woraus wir eine Kraft ziehen, die wir fürs Leben und fürs Schaffen brauchen. Wir haben vorhin von Rostropowitsch gesprochen. Ich kann mich erinnern, dass für mich die eigentliche charismatische Kraft, die er auf der Bühne hatte, seiner Urangst vor dem Tod entsprang. In der Art und Weise, wie dieser Mann auf die Bühne gelaufen ist, spürte man, dass es tatsächlich um Leben und Tod ging. Ich habe ihn einmal in Paris erlebt mit Schnittkes Drittem Cellokonzert. Wie immer hat er auswendig gespielt, 40 Minuten Musik, ein Riesenschinken, Millionen Noten auswendig, das ist der Wahnsinn. Und Mittendrin: Gedächtnislücke – keine paar Sekunden, sondern ein Riesending! Wie er da wie ein Löwe saß, umzingelt von der Gefahr, und er hat einfach nur fortissimo leere Saiten gespielt! Jeder von uns hätte sich verkrochen, aber er hat die Gefahr, in der er war, mit uns geteilt. Gerade bei so einem unglaublich überdimensionierten Künstler hat man gespürt, dass ein ganz wichtiger Teil die permanente Gegenwart der eigenen Vergänglichkeit war.

»Bach ist für mich so. Ich habe euch lieb, aber ich werde keine Kompromisse machen, weil es noch etwas Wichtigeres gibt.« @Jean-Guihen Queyras in @vanmusik.

Wie hat sich bei dir das Bewusstsein von der eigenen Vergänglichkeit über die Zeit verändert?

Für mich ist es in der letzten Zeit präsenter geworden, eher wie eine Kraft, die mir hilft, zum Essentiellen zu gelangen. Bei uns Bühnenkünstlern kann das Bedürfnis, geliebt zu werden, ein wirklicher Feind werden. ›Wir brauchen euch im Saal, bitte, bitte liebt mich, damit ihr meiner Existenz Sinn gebt.‹ Es ist normal, dass das so ist, wahrscheinlich ist es am Anfang auch ein Teil der Inspiration, die uns dazu geführt hat, unser Leben lang zu spielen und zu üben. Aber dieses Bedürfnis kann uns auch sehr dabei im Weg stehen, zu einer wahrhaft freien Interpretation zu gelangen, bei der man sagt, ›Bach ist für mich so. Ich habe euch lieb, aber ich werde keine Kompromisse machen, weil es noch etwas Wichtigeres gibt‹.

Das ist jetzt stärker als früher?

Ja, natürlich kribbelt es immer noch im Bauch, wenn ich auf die Bühne gehe, aber ich bin öfter als früher in der Lage zu sagen: Ich liebe mein Publikum. Aber letztendlich muss ich mich, gerade wenn ich mein Publikum wirklich liebe, nicht beliebt machen, sondern die Musik so viel wie möglich lieben, und das war’s.

https://www.youtube.com/watch?v=WvmqVjp6qio

Gibt es Musik, die mit deiner jetzigen Lebensphase besonders verbunden ist oder dir jetzt mehr sagt als früher?

Vielleicht scheint es paradox, aber durch dieses freiere Gefühl, das ich jetzt habe auf der Bühne, kann ich fast im Gegenteil inklusiver sein im Repertoire. Es fällt mir zum Beispiel leichter, leichtere Musik zu spielen, weil auch das ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist. Als ich bei Boulez im Ensemble Intercontemporain war, ging es immer um Substanz, Substanz, Substanz …

… und du hast dann keinen Saint-Säens gespielt?

Genau, nicht aus Prinzip, aber das kam sowieso nicht in Frage, oder Tschaikowskis Rokoko-Variationen. Neulich habe ich die zum ersten Mal seit Jahren wieder gespielt, und ich habe gedacht, Mensch, so ein tolles Ding, so viel Leichtigkeit und Humor. Saint-Säens habe ich gerade auf einer Tour mit dem Orchestre Métropolitain de Montréal und Yannick Nézet-Séguin gespielt. Ich habe zuerst dagegen protestiert, ›bitte, Yannick, kann es nicht etwas substanzielleres, tieferes sein?‹ Letztlich bin ich ihm dankbar, weil ich dieses kleine Stück wie ein Juwel erlebt habe. Tatsächlich ist es nicht so existentiell wie ein Elgar, Dvořák oder Dutilleux, aber da steckt so viel rührende Liebe drin.

Was ist für dich die Musik, die für Rostropowitsch Bach war, eine Musik, in der du dich nicht zuhause fühlst?

Ich habe mir lange nicht zugetraut, Musik zu spielen, die extrem kraftvoll ist, ich bin ohnehin nicht so gebaut, und meine Ästhetik ist es auch nie gewesen. Jetzt habe ich zum ersten Mal seit Jahren als Teil einer Residenz in Brüssel Prokofjews Sinfonia Concertante als Cellokonzert ausgesucht. Ich möchte das riskieren, mal sehen, vielleicht werden meine russischen Freunde danach sagen, ›Jean-Guihen, das muss nicht sein, spiel doch lieber Bach, Saint-Säens und Schumann‹. ¶