»Erstaunlich, dass klassische Künstler:innen eigentlich oft nicht kreativ sind…«, hörte ich jemanden in einem Gespräch während der Pause eines Symposiums sagen. Ein Satz, der so nebenbei fiel und mich ins Grübeln brachte. Künstler:innen, Musiker:innen – wer sind wir heute eigentlich?

Als ich vor gut zwanzig Jahren anfing Klavier zu lernen, besorgten sich meine Nicht-Musiker-Eltern viele Bücher und Aufnahmen, um mehr über diese Welt zu erfahren. Wir gingen zu Konzerten und informierten uns, welche Pianist:innen es gab, was, wie und wo sie überall spielten. Sie selbst und ihr Berufsweg waren Vorbilder und Inspirationen, nicht nur für mich und meine Eltern, sondern auch für meine Lehrer:innen. Unwillkürlich schlich sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine bestimmte Künstler:innen-Figur in meinen damals achtjährigen Kopf. Eine Person, die durch ihre besonderen Fähigkeiten, Werke großer Meister in großen Sälen aufführen zu können, bedeutsam wird. Und da war er: Der unbemerkte Augenblick, in dem ich auch diesen Hut tragen wollte.

Dazu musste ich nur eines tun: Üben. Üben, um noch mehr zu können, noch besser zu spielen und noch weiter zu kommen und mitmachen, was zu einem solchen Weg klassischerweise dazu gehört: Wettbewerbe und Konzerte. Immer selbstverständlicher spielte ich die vorgelebte Konzerform, das vorgegebene Repertoire des allgemeinen vorherrschenden Kanons und immer tiefer rutschte ich in den Hut hinein, ohne zu bemerken, wie hoch die Wände und wie klein mein »Ich« darin inzwischen geworden waren. Alle Zweifel und Fragen wichen dem Druck, Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen – eigene, aber auch die der anderen. Die Konsequenz: Noch mehr üben. Mehr gesehen werden. Sich dem System weiter anpassen. Bis das Ziel der großen Bühnen erreicht ist. Doch was dann?

Partizipative Konzertperformance Common Ground beim Heidelberger Frühling vom 25. März 2023 • Foto © Nico Rademacher/studio visuell

Ist das nun das, worauf ich jahrelang hingearbeitet habe? Das Konzert mit dem bekannten Repertoire in der bekannten, tradierten Art und Weise? Applaus. Musik. Applaus. Musik. Und immer so weiter? War ich in meinem Bestreben, diesen einen linearen Weg zu gehen, selbstbestimmt? Oder folgte ich lediglich dem System aufgrund des Systems, ohne mir jemals die entscheidende Gretchenfrage zu stellen: Warum möchte ich Musikerin sein?

Das Warum zu finden ist eine stetige Suche, die in allen Lebensbereichen stattfindet und für mich den Beginn einer Transformation bedeutet. Denn das Hinterfragen des eigenen Tuns fordert mich heraus, vom Aus- und Erfüllen vorgefertigter Anleitungen zum Erschaffen eigener Wege zu gehen. Auszubrechen aus dem Gekonnten. Aufzuhören mit dem Perfektionierten, das erlernte Handwerk in ein Kunstwerk umzuwandeln und mein eigenes Konzertverständnis zu begründen – fern vom reinen Können und Leisten. Fündig im intrinsischen Wollen zu gestalten.

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Erst dann fängt das Wagnis an, das Risiko, die Verletzlichkeit, das Menschliche, das Provokative, das Schöne, das Vergängliche, das Gesellschaftliche, das Politische und das Persönliche. Erst dann finde ich mein Warum in der festen Überzeugung, dass Musik die Kraft hat, ein menschlicheres Miteinander und eine nachhaltige Gesellschaft zu fördern und verstehe meine Möglichkeit dazu, als Mensch einen Beitrag zu leisten.

Heute verstehe ich das Konzert nicht als eine Abfolge von Stücken, sondern als ein »Gesamtkunstwerk« des Hier und Jetzt, das ich für den jeweiligen Ort und die jeweiligen Menschen jedes Mal neu erschaffe. Nicht reproduziere. Kein Museum sein möchte. Es wage, ein Werk wie zum Beispiel das Klavierkonzert Watermark von Caroline Shaw weiterzudenken und mit dem bewussten Auflösen der Trennung zwischen Bühne und Saal metaphorisch die Fragen zum Thema Eigentum zu stellen: Wem gehört der Boden? Wem das Wasser? Wem die Bühne? In einer Performance den ersten (notiert summenden) Ton des Stückes erst selbst und schließlich aus dem Publikum heraus mit den Zuhörer:innen, gemeinsam erklingen zu lassen. Der ganze Saal wird zur Bühne. Das Publikum zu beteiligten Künstler:innen. In der Hand halte ich eine kleine leuchtende Schale mit Wasser, unserem immer knapper werdenden Lebenselixier, mit der ich vorsichtig durch den Zuschauerbereich der Elbphilharmonie zum Flügel laufe. Ein mit und durch Musik kreierter gemeinsamer Moment der Achtsamkeit, der offene Fragen stellt, die zum Weiterdenken einladen.

Foto © Nico Rademacher/studio visuell

Es geht also darum, Kontexte und Identifikation zu schaffen. Menschen in ko-kreativen Prozessen vor und während des Konzertes aktiv zu beteiligten, einander als Subjekte zu begegnen, die im Austausch zu einem gemeinsamen Anliegen finden und dadurch einzelne und kollektive Potenziale zu entfalten und eigene Bewertungen von Bedeutsamkeiten zu hinterfragen. Schließlich finde ich mich als Mensch im Dienste der Gemeinschaft wieder, als eine, der die Möglichkeit gegeben ist, mit Kunst, mit Musik zu gestalten, anzuregen, zu verbinden, zu fragen und zu forschen.

Werde ich mir bewusst, dass Individualität nicht im Ego, sondern nur im Bezug auf das Gegenüber, im Miteinander, in voller Pracht aufblühen kann und, dass Künstler:in sein nicht zu trennen ist von Bürger:in sein und somit das künstlerische Potenzial eines Jeden in der würdevollen Begegnung zu ermitteln ist, dann beginnt in jedem und jeder von uns die Kunst, Künstler:in zu sein. ¶

… versteht Konzerte als offene Begegnungsräume und wirkt als Künstlerin im Feld neuer Aufführungspraxen. Als Pianistin ist sie sowohl in Solo-Auftritten, wie in der Elbphilharmonie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen oder im Klavier-Festival Ruhr zu hören, als auch in von ihr entwickelten Konzertperformances, die Themen der Zeit künstlerisch zum Ausdruck bringen und die sie bei u.a. Heidelberger Frühling, Mozartfest Würzburg, Konzerthaus Berlin, Ludwigsburger Schlossfestspiele, Nottingham...