Text Hartmut Welscher · Titelbild Werner Neumeister

Stell dir vor, du wachst an einem Feiertag verkatert in einem Dresdner Hotelbett auf, die Party am Abend zuvor war gut und lang, der Tag lockt frei, feierlich und sonnig … und du musst zum Flieger, um über die Zukunft der klassischen Musik zu sprechen. In Hannover. So ging es vielleicht der Sopranistin Simone Kermes am 3. Oktober, bevor sie zum Hörer griff und ihre Teilnahme an der Podiumsdiskussion im Rahmen des Joseph Joachim Violinwettbewerbs zehn Minuten vor Beginn kurzerhand absagte. Sehr zur Freude der Organisatoren und der drei übrigen Podiumsteilnehmer (dem Journalisten Volker Hagedorn, dem Leiter des Henle-Verlags, Wolf-Dieter Seiffert, und mir als Vertreter von VAN), die sich uneins darüber waren, ob die Entschuldigung (»habe verschlafen«) nun eigentlich wenigstens sympathisch und ehrlicher ist als irgendeine Notlüge, oder einfach nur noch unverschämter. Wie sich leider erst im Gespräch nach der Veranstaltung herausstellte: Ein guter Ersatz wäre der im Publikum sitzende Geiger Ingolf Turban gewesen. Er war Erster Konzertmeister der Münchner Philharmoniker, gab sein Solodebüt unter Sergiu Celibidache und ist seit 1988 als Solist unterwegs, seit 1995 ist er zudem als Hochschulprofessor tätig, zunächst elf Jahre in Stuttgart und seit 2006 an der Hochschule für Musik und Theater München. Da nicht viel Zeit blieb, bevor er als Juror die Halbfinalisten des Wettbewerbs hören musste, haben wir uns zum Telefonat verabredet, um das Gespräch fortzusetzen. 


VAN: Wir sind uns Anfang des Monats beim Joseph Joachim Violinwettbewerb begegnet, wo Sie in der Jury saßen. Raten Sie Ihren Student/innen eigentlich zur Teilnahme an Wettbewerben? 

Ingolf Turban: Ich empfehle meinen Student/innen in erster Linie, sich nicht zu sehr darauf zu fokussieren, weil sonst die Gefahr groß ist, später ebenso schmalspurig weiterzumachen – beim Repertoire, in der Persönlichkeitsentfaltung – oder sich anpasserisch in der Szene zu bewegen. So übt man keinen Beruf im Sinne einer Berufung aus, hat keinen tragenden Erfolg. Wettbewerbe sind eine Momentaufnahme und sollten auch so bewertet werden. Es ist immer herzzerreißend zu sehen, wenn jemand sich ganz oder zu sehr darauf konzentriert, und dann scheitert. 

Sie sind seit zwanzig Jahren Hochschullehrer, erst elf Jahre in Stuttgart, seit 2006 in München. Wie haben sich die Studierenden, die zu Ihnen kommen, in der Zeit verändert?

Wir sprechen eigentlich von den selben zwanzig Jahren, in denen sich auch die Medienlandschaft radikal verändert und vervielfältigt hat. Youtube gab es vor zwanzig Jahren nicht, heute kann man in jedes Zimmer alle aktuellen Geiger/innen der Welt hineinholen und sehen, wie sie es machen. Einerseits ist das ein fantastischer Informationspool, andererseits auch ein Wirrwarr, das entmutigen kann, wenn man damit nicht stark umgeht. 

Studierende vergleichen sich heute mehr als früher?

Ja, permanent. Dabei bin ich manchmal ziemlich erstaunt, wie selektiv ins heutige Leben geguckt wird und wie wenig jetzige Studierende mit klingenden Namen aus meiner Jugend anfangen können; dabei sind die doch auch alle auf Youtube.


»In über hundert Jahren Aufnahme- und Interpretationsgeschichte gäbe es doch so viel mehr anzugucken, woraus man wieder den eigenen Saft gewinnen könnte.«


Zum Beispiel?

Zino Francescatti oder Arthur Grumiaux, zum Beispiel: Was haben alleine nur diese beiden Unglaubliches hinterlassen an Aufnahmen. Da werden sie bei jedem zweiten heutigen Geigenstudenten ein ratloses Gesicht ernten. Das finde ich ein wenig geschichtslos. In über hundert Jahren Aufnahme- und Interpretationsgeschichte gäbe es doch so viel mehr anzugucken, woraus man wieder den eigenen Saft gewinnen könnte.

Sind diese vervielfältigten Vergleichsmöglichkeiten Fluch oder Segen?

Zum Teil wirken sie unglaublich plattbügelnd, die Interpretationen werden immer ähnlicher und abkopierter. Es gibt einige wenige, die auch durch den ›Pool der Anregungen‹ unbeschadet durchkommen.

Also stimmt es, dass es immer weniger Unverwechselbarkeit gibt?

Ja, das bemerken sie übrigens schon im Unterricht: Viele Studierende kommen heute mit von irgendwoher kopierten Noten. Dass das für die Verlage nicht toll ist, ist das eine, aber mir geht es darum, dass von vornherein eine Version als ein Standard gepriesen wird, samt Fingersätzen von irgendeiner illustren Person. Das erspart das Nachdenken und leider auch die eigene Profilierung. 

Und gleichzeitig gibt es diese Sehnsucht nach dem ›Einzigartigen‹, ›Authentischen‹ …

Das geht Hand in Hand: Auf der einen Seite das Ausrichten nach einer DIN-Norm, die ich für sehr gefährlich und unkünstlerisch halte, und auf der anderen: die Sehnsucht nach dem Einzigartigen, der Schrei nach dem Profil. Nur: Wenn man einmal als Kopie herumläuft, wie kann man sich dann ›profilieren‹? Besser man geht von vornherein back to the roots: ›Da ist ein Urtext, ich mache mir mal Gedanken über die Dynamik, denke von vorne, studiere ohne Instrument in der Hand und ohne dieses verfluchte Viel-zu-viel-Üben. Womit habe ich es zu tun, was bedeutet mir das Stück, in welchem Kontext ist es geschrieben worden?‹ Und dann kann ich mir erlauben auf Youtube und woanders mal vergleichend zu hören. Sonst wird es wieder nur eine Kopie. 

Nochmal zum Wettbewerb: Wenn alle immer gleicher spielen, wie will man da bewerten?

Das Grundniveau ist extrem gestiegen, die Masse der Geiger ist so gut wie nie zuvor, aber die Profilierten sind genauso selten wie früher. Der wirklich interessante Künstler vervielfältigt sich nicht, den kann man nicht klonen. Wenn bei Wettbewerben die Leute immer ähnlicher spielen, ist es in der Tat mühsam, von Kriterien zu sprechen, dann wird es geschmäcklerisch. Wenn aber wirklich einer eine profunde eigene Sichtweise eines Werkes bringt, dann kann die vielleicht Kontroversen auslösen, aber die Persönlichkeit ist gezeigt. ›Persönlich‹ leitet sich ja ab vom lateinischen ›personare‹, durchklingen. Durch die Person durchklingen, das finde i
ch einen ganz wunderbaren Begriff. 


»Die Lebenstüchtigkeit eines Künstlers hängt von einer gewissen Bodenhaftung ab. Wenn ich höre, dass jemand nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen kann, dann tut er mir irgendwie leid.«


Sie haben mir erzählt, dass Sie junge Studierende oft zu brav finden …

Ja, was dann auch in diese ewigen Graufärbungen geht, dieses ›graue Mäuslein‹, was man dann oft mit der Klassik assoziiert, weil so verdammt wenig kommuniziert wird. Das kommt durch das Kopieren wollen von Erfolg: ›Der hat es mit den Mitteln geschafft, also will ich das auch schaffen.‹ Dadurch wird es automatisch immer blasser. Es ist immer herrlich, wenn jemand vielfältig auftritt und sagt, ›ich interessiere mich für ganz unterschiedliche Dinge und nehme mir Zeit dafür‹. Die Lebenstüchtigkeit eines Künstlers hängt von einer gewissen Bodenhaftung ab. Wenn ich höre, dass jemand nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen kann, dann tut er mir irgendwie leid. Geige gut zu spielen kann doch kein so großes Opfer bedeuten, dass man sonst nichts kann. Da haben wir gleich wieder unsere Blässe, wie der große Celibidache immer gesagt hat: ›Das sind die so genannten Notenableser.‹ Manchmal beschleicht mich ein schlechtes Gewissen, wenn ich in der Kommission der Hochschule bei der Eignungsprüfung sitze, es öffnet sich die Zimmertür und es kommt jemand rein, bei dem man schon irgendwie ahnt: das klingt jetzt gleich so. Das Bauchgefühl hat mich selten getäuscht, ganz selten klingt jemand anders, als er reinkommt. Da merken sie sofort, ob es jemand ist, der keine Distanz aufbauen kann zu seinem begabten Tun und nur wie ein Maschinchen etwas abspult, oder ob jemand fast schon mit einer inneren Lässigkeit sagt: ›Na ja, ich kann auch Geige spielen.‹ Das bemerken sie sofort als eine Art Persönlichkeitsbonus, wenn jemand kein Fachidiot ist. 

Wie sehen Sie hierbei ihre Aufgabe als Pädagoge?

Ich achte zum Beispiel in meinem Fachbereich darauf, dass jemand sein Programm in Worten gut erläutern kann, dass er oder sie weiß, was er tut, warum sie es tut. Unterricht findet ja nicht auf vier Geigensaiten statt, das geht von Analyse und Formenlehre über Werkgeschichte bis hin zu sehr vielen psychologischen Aspekten. Wie findet sich ein Musiker auf dem Podium zurecht, wie okkupiert er diesen Quadratmeter? Das konnte man wunderbar in dem Wettbewerb feststellen: 35 verschiedene Auf- und Abgänge. Das ist Teil meines Unterrichts. Wir müssen mit den ursprünglichsten Antennen, die wir geschenkt bekommen haben, wahrnehmen, erspüren, spiegeln, was für Persönlichkeiten wir vor uns haben. Dabei kommt unter Umständen was ganz anderes raus, als man selber spielt, und gerade das finde ich gut und interessant. Diesen eigentlich sehr privaten Prozess über vier oder sechs Jahre zu begleiten, ist etwas ganz besonderes. Es geht nicht darum, dass man als Unterrichtender seine Sichtweise auskopiert im Schüler wiederfindet. Es geht immer wieder um das Abklopfen nach Echtheit. 


»Steht zu euch selbst, zu eurem Programm, zu eurer künstlerischen Art, zu dem was euch unterscheidet, findet heraus, was es ist, schielt nicht darauf, wie es der erfolgreiche Kollege macht.«


Welche Tipps gibt man da seinen Schüler/innen?

Meine persönliche Erfahrung, auch als auftretender Künstler, ist: in dem Moment wo ich wirklich zu 100 Prozent hinter meinem Konzept stehe, wenn ich mir das genügend entwickelt und erarbeitet habe, da kommt das auch an. In dem Moment, wo ich mir meines eigenen Konzepts nicht sicher bin, habe ich die Zweifel in den Saal mitgestreut. Insofern möchte ich die jungen Kolleginnen und Kollegen ermutigen: Steht zu euch selbst, zu eurem Programm, zu eurer künstlerischen Art, zu dem was euch unterscheidet, findet heraus, was es ist, schielt nicht darauf, wie es der erfolgreiche Kollege macht. Und wenn es nicht die Major Labels sind, dann eben die privateren Labels, die unter Umständen im Nischenrepertoire tolle Dinge machen und dort auch wahrgenommen werden. Es kann doch nicht sein, dass man es nur wegen Geld oder Berühmtheit macht, da muss doch mehr dahinter sein. Daran glaube ich einfach.

Sie haben in Hannover gesagt, dass sich die Klassikindustrie mit der Betonung des ›Neuen‹ ins eigene Fleisch schneidet: einerseits verliert das Neue durch den inflationären Gebrauch an Wert, andererseits wird permanent der eigene Backkatalog entwertet.

Es sind Verkaufsstrategien im Umlauf, die einem als Künstler geradezu peinlich sind. Zum Beispiel die Verpackung: Allein die Covergestaltung ist in einer albernen Weise verzerrt, dass man manchmal mit der Lupe suchen muss, um welchen Komponisten es geht. Das ist eine sehr einseitige Darstellung und die steuert oft die Wahrnehmung der Käufer. Damit gehen kulturelle Werte verschollen. Der jeweils neueste Künstler ist gerade angesagt und wird morgen wieder von einem neueren Künstler abgelöst, das ist so ein Formel-1-Denken in der Musik.

Das Verständnis von Musik als Höchstleistung und als Gegenstand des Wettbewerbs ist ganz tief verankert in der klassischen Musikkultur, finde ich. Wenn man alleine einmal darauf achtet, wie oft in der Vermarktung, aber auch in Musikkritiken eine Rhetorik verwendet wird, die man ansonsten nur aus dem Sport, der Werbung für irgendwelche Leichtathletik-Meetings, kennt: ›Elite‹, ›Höchstleistung‹, ›Weltklasse‹ und die permanente Verwendung des Superlativs. Dazu gehört auch die merkwürdige Verzückung für das ›hochbegabte Wunderkind‹, von der schon Thomas Mann in seiner Erzählung »Das Wunderkind« (Link zum PDF) geschrieben hat …

Ich bin diesem Phänomen gegenüber sehr giftig. Man freut und labt sich am achtjährigen Wunderkind, dessen Tragödie fast immer ein Wunderelternteil ist. Es ist erschütternd, was da mit Kindheiten angestellt wird, wie Begabung zur Schau gestellt und missbraucht wird. Kommt das Kind dann in die Pubertät, kracht es oft ins Vakuum zusammen. Für die Scherben interessiert sich dann niemand mehr. Diese Wunderkindkultur ist seit jeher ein geradezu ›klassisches‹ Phänomen, woran die Schaulust des zahlenden Publikums eine Mitschuld trägt. Über 90 geht es ja dann wieder los, dann heißt es ›Was für ein Phänomen, der kann ja immer noch.‹ Letzten Endes bekommt es dann so etwas olympisches, so etwas marktschreierisch peinliches, die Jahre dazwischen wären ja möglicherweise die allerreichsten Jahre.


›Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.&lsaqu
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Wie war das bei Ihnen selbst?

Ich bin dankbar, dass ich nicht im Ansatz eine Frühbegabung war. Ich hatte Zeit mich zu entfalten, hatte auch eine sehr verträumte Kindheit und wurde dann allmählich immer fleißiger und interessierter und habe mir den Weg bauen dürfen. Es gibt dieses wunderbare afrikanische Sprichwort: ›Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.‹ Man sollte das Wachsen im individuellen Tempo und Rhythmus respektieren und nicht zur Schau stellen.

Themenwechsel: Ich bin auf dem Weg nach Südkorea und Japan. Sie haben bestimmt viele Student/innen von dort betreut, können Sie sagen, worin die Ausbildung sich von unserer unterscheidet?

In den letzten dreißig Jahren galt fast zuverlässig ein erstaunliches Klischee: Die asiatischen Studierenden sind morgens um 8 Uhr da und üben wie besessen, entsprechend sind die Ergebnisse. Heute erlebe ich ein phänomenales Durchmischen. Das größte Aha-Erlebnis hatte ich in der Vorjury des ARD-Wettbewerbs: die ist komplett anonym, man bekommt also nur Audiodateien, ohne zu wissen, wer spielt, woher sie oder er kommt, ob weiblich oder männlich, und dann hören sie und machen Notizen. Ich hatte mir ganze Blöcke vollgeschrieben, immer so mit Tendenzen, aus welcher Schule könnte die oder der kommen. Ich muss offen gestehen, ich habe mich völlig verschätzt, die phantasievollsten und interessantesten Beiträge kamen genauso aus Asien wie aus Europa, die stupidesten kamen genauso aus Europa wie aus Asien, auch den typischen ›russischen Geiger‹ gibt’s nicht mehr, es ist nichts ›typisch‹ mehr, und das finde ich wunderbar.

Letzte Frage: In Baden-Württemberg konnte die Schließung zweier Musikhochschulen vor kurzem in letzter Minute abgewendet werden, trotzdem stehen Musikhochschulen gegenüber der Politik weiterhin unter Legitimationsdruck. Was sagen Sie als Hochschullehrer zu Menschen die sagen: »Gemessen am prekären Arbeitsmarkt gibt es zu viele Studienplätze an zu vielen Hochschulen, was machen die denn alle danach?«

Das ist so ein Totschlagargument, das oft als schleichendes Gift in unsere Überlegungen mit reinkommt, statt zu sagen: ›Leute, wenn wir es nur am beruflichen Erfolg festmachen, übersehen wir, dass wir als Ausbildungsinstitution zuerst einmal auch als Kulturfaktoren unterwegs sind, als Identifikationsmöglichkeiten für unser Land.‹ Womit sollten wir uns sonst identifizieren? Wir merken aktuell, dass wir es selbst mit der Autoindustrie nicht immer tun können, ich hoffe auch nicht dauerhaft mit der Waffenindustrie, wo sich viel Geld verdienen lässt, das ist doch grauenhaft, was wir sonst exportieren. Es gibt kaum eine Ansammlung von Menschen, in denen die Nationalitätsfrage so wenig eine Rolle spielt, wie an Musikhochschulen. Das übersieht man oft, weil wir so klein und elitär tun, diesen Aspekt möchte ich verteidigen. Das klingt jetzt schön kitschig, aber in dieser Hinsicht sind wir auch ein Stück Friedenssymbol. ¶

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