Interview Tobias Ruderer · Fotos Because Music/ Warner Music
Du willst wissen, was sie alles mit Bach gemacht haben? Die Prog-Rocker, die Soft-Jazzer, die Brasilianer, die Italiener, die Deutschen? Rondo Veneziano, Kraftwerk, 2Cellos? Die Metalheads, die Computerfreaks, die Fraktion von der Kunsthochschule? Die Softporno-Filmmusiker, die Youtuber, die Songwriter? Dann hör dir das hier an, Contrepoint. Der Typ hat es alles destilliert. Und weißt du woher? Aus den Bach-Partituren, sagt er! Er wollte es einfach nur verstehen. »Ich dachte dabei seinerzeit nicht an ein Soloalbum, sondern wollte einfach nur besser Klavier spielen, da ich Bach nicht gut genug spielen konnte. Außerdem wollte ich wirklich, dass die Leute – nicht nur klassische Zuhörer, sondern meine Kinder und Freunde – die selben wundervollen Dinge hören, die ich hörte.« Ja, und die Jungs aus der Ministrantengruppe nicht zu vergessen. Im Ernst?
VAN: Stimmt es, was alle sagen, um Bach wirklich verstehen zu können, musst du ihn spielen oder singen?
Nicolas Godin: Klar, und das ist jetzt keine originelle Aussage, aber: es ist einfach ein wunderbares Uhrwerk, wie das alles zusammen funktioniert. Wenn du das von innen siehst, dann erkennst du, wie magisch dieses Zusammenspiel ist, das war eine Entdeckung für mich: ich spürte Dinge schon vorher, aber ich wusste nicht, warum sie funktionieren.
Und das geht nur über das Motorische?
Nein, das geht auch über die Partituren, ich markierte bei den Fugen einfach die Töne und Melodien mit verschiedenen Farben und so sah man wie Dinge entstehen. Wir sollten Computerprogramme machen, die diese Dinge visualisieren.
Ich erwähne die Arbeit von Stephen Malinowski (Link zum VAN-Artikel), der unter dem Pseudonym »smalin« auf Youtube pouläre Musikvisualisierungen macht. Godin ist sehr interessiert, er schreibt es sich gleich auf.
Mit dem Video zu Orca versuchst du das auch zu machen.
Ja, ein bisschen Vintage (lacht), aber das war der Gedanke.
Du deckst fast so etwas wie eine Palette an Stilen ab auf Contrepoint, diese ganzen Gesten, Stile und Haltungen, die damit einhergehen, hast du die bei Bach gefunden, oder hast du die einfach auf die Bach-Figuren draufgesetzt, als ob es Legosteine wären?
Am Anfang habe ich Bach wirklich nur zum Vergnügen studiert, und plötzlich bin ich dann auf Schichten, manche Takte gestoßen, und merkte: Mein Gott, dies oder das öffnet eine Tür zu was Fantastischem. Und meine Gedanken waren: Ok, ich hab Zeit hier am Klavier zu sitzen und Bach zu studieren, aber andere Leute müssen ja arbeiten oder machen andere Sachen, also muss ich ihnen irgendwie klar machen, was ich da sehe. So als Dokument meiner Bach-Sitzungen.
Viele Leute hören Bach oder seinen Namen und dann haben sie dieses Bild, diese Stimmungen im Kopf, du findest ja definitiv neue Bilder.
Ja, Bach ist halt so berühmt, dass viele nicht mehr aufmerksam zuhören, weil sie glauben, das Ohr hat sich daran gewöhnt. Wie man sich an die Luft gewöhnt oder das Wasser. (Lustigerweise sind das ja Dinge, mit denen manche Bach vergleichen, d. Red.) Na ja, und da wollte ich die Magie zurückbringen für Leute, die nicht so viel mit klassischer Musik zu tun haben.
Du würdest es nicht Remix-Album nennen, oder?
Nein, auf keinen Fall. Irgendwie fühle ich mich eher wie ein Archäologe, der Dinge ans Licht holt. Es begann als persönliche Interpretation. Und als ich dann mit ›modernen‹ Instrumenten rangegangen bin, klang vieles ziemlich geschmacklos. Auch bestimmte Modulationen in andere Tonlagen, ganz schrecklich. Also musste ich den Tonumfang reduzieren, aber dafür eigene Modulationen schreiben. Und Schritt für Schritt transformierte ich dann diese Stücke, aber das Ursprungselement, dessentwegen ich es angefasst habe, blieb immer erhalten.
Fühlst du dich dieser klassischen Musikkultur dadurch näher?
Na ja, diese Frage hat mehrere Dimensionen. Ich habe ja keine klassische Ausbildung, mir hat niemand Noten oder Harmonielehre beigebracht. Aber als Kind habe ich sehr viel von den Soundtracks gelernt, weil ich mein ganzes Leben vor einem Fernseher verbracht habe, weißt du? Und das war eine Schnittstelle für mich, die haben mir in ihren Soundtracks klassische Musik mundgerecht serviert. Es klang reich, es war auch manchmal komplex, aber eben auch poppig. Und was ich bei diesen Jungs, Ennio Morricone, Aaron Copland, John Barry, Michel Legrand, Lalo Schifrin, gelernt habe, damit habe ich eine komplette Bandkarriere bestritten, die mit Air, aber irgendwann, nach sechs Alben war dieser Brunnen erschöpft, und ich musste weiter zur Quelle gehen, na ja und von dieser Quelle haben halt viele gesprochen.
Besuchst du viele klassische Konzerte?
Klar, ich lebe in Paris. Aber das Schönste ist, wenn alle paar Jahre Steve Reich vorbeikommt, er ist mein Lieblingskomponist, ich schaue alle seine Shows.
Und kannst du mit dem klassischen Sinfoniekonzert, Beethoven, Berlioz, mit diesen Riesenstrukturen in dieser Darbietungsform, etwas anfangen?
Ja. Wenn du im Raum bist, dann spürst du die Power. Und noch was: Wenn immer die Rede davon ist, dass klassische Musik oder das klassische Konzert modernisiert werden sollten: Ich glaube, das geht gar nicht, du kannst das, was ich und andere mit Bach gemacht haben, nicht mit Beethoven, Chopin oder Wagner machen. Es gibt etwas bei Bach, das erlaubt dir, damit rumzuspielen, Unfug anzustellen. Da ist dieser Raum, diese Freiheit. Die anderen Komponisten haben die Partitur viel genauer definiert.
Was für ein Musiker wä
re Bach heute?
Hmm, schwierig; also: sagen wir Bach ist die Grundlage für die Konstruktion von Musik. Und seit den 1950er Jahren ist ein neues Element hinzugekommen, die Studio-Aufnahme von Musik. Und da fängt man noch etwas anderes ein, und das ist eine andere Art von Magie, ich nenne das immer noch Voodoo, jemand hört sich zuhause an, wie es im Studio geklungen hat. Ich frage mich also, wie und ob er dieses Element integriert hätte – wie Gould das gemacht hat – Bach, der nur mit einem Stift und einem Blatt Papier Unsterbliches geschaffen hat. Und manchmal denke ich, es gibt fast so etwas wie eine Dialektik: Je größer die Magie einer Aufnahme, desto unspektakulärer ist der Song auf Papier.
Mit Air habt ihr ja auch Sounddesign zum Kunstwerk erhoben, über zum Teil sehr einfache Strukturen.
Hey klar, ich benutze alle Produktionstricks, die ich habe, um zu kaschieren, dass ich ein limitierter Musiker bin … das ist so wahr.
Ich möchte unbedingt noch über das Video zu Widerstehe doch der Sünde (übrigens in deutsch gesungen von Phoenix-Frontmann Thomas Mars) sprechen und dich mit meiner Interpretation behelligen: Ich musste sofort an diese barocke Auffassung von vanitas denken, diese Vorstellung, dass es Sünde ist, sich um die äußere Schönheit zu mühen, da eh überall der Tod lauert. Und als ich dieses Video gesehen habe, kam mir das Surfen dieser Zombies als einzige Art des Daseins vor, eben nicht dem Tod zu verfallen, dem Tod ihres Körpers, dem Tod, der unter dem Wasser lauert. Hast du dich mit dem Konzept der Sünde beschäftigt oder wolltest du nur mit den Worten spielen, sie in diese eher relaxte Atmosphäre dieses Songs bringen?
Nein, es ging mir mit dem Song eher um das, was der Text suggeriert, dass die Verführung so stark ist, dass du von ihr angezogen wirst und ihr Gift in dich eindringt. Und diese Typen können nicht aufhören, zu surfen, auch wenn sie wissen, dass sie von den Quallen und den Haien getötet oder noch mehr zu Zombies werden. Aber ich bin Musiker und habe mich noch nie um das Visuelle gekümmert. Ich habe ein paar Leute nach Ideen gefragt und als mir dieses Projekt mit den Zombie-Surfern vorgeschlagen wurde, wusste ich, dass es das ist. Aber ich bin nicht verantwortlich für das Video, es ist nicht meine Idee.

Das Vergnügen ist gefährlich?
Es ist besser, wenn es gefährlich ist.
Als ich Kind war, habe ich Flipper gespielt und es war gefährlich; wenn du ein paar Bälle verloren hattest, war wieder ein bisschen Geld weg. Und als ich einem Freund von mir einmal einen Flipper geschenkt habe, konnten wir plötzlich umsonst spielen, und – das Vergnügen war weg. Ohne Gefahr kein Vergnügen, so machen die Leute Fehler, nehmen Drogen, trinken fantastischen Wein, ob es gut für sie ist oder nicht. ¶