Jede Art von Musik ist mood music. Das ist bei Partymusik – von Parliament bis Eine kleine Nachtmusik – nicht anders als bei Cushion Finish und Mompou, die Unmut vertreiben und Tagträume hervorrufen. Und natürlich gilt das auch für die üblen, düsteren Stimmungsbilder von Boduf Songs und Lustmord.

Letztere scheinen mich ständig zu begleiten, denn ich höre durch den Filter meiner Depression. Seit fast zwei Jahren habe ich die Diagnose, die Symptome bestehen bereits seit zwei Jahrzehnten.

Früher hörte ich Musik aus Spaß an der Freude. Als ich klein war, mochte ich Hums and Songs of Winnie-the-Pooh. Das Stück ist meine früheste klare Erinnerung an das Musikhören. Auch als ich die Aufnahme dann meiner kleinen Tochter in Endlosschleife vorspielte, spürte ich dabei eine tiefe Geborgenheit.

Kurz vor der Pubertät hörte ich Musik mit den Ohren des Lernenden, später als professioneller Musiker. An der Hochschule studierte ich Komposition; mein Hören wurde vornehmlich analytisch. In den letzten zehn Jahren war ich die meiste Zeit als Musikkritiker tätig; das analytische Hören nahm fast forensische Züge an. Trotzdem machte es mir Freude, der intellektuelle Input machte mich zufrieden.

Heute gibt mir Musik – mit Ausnahme bestimmter Stücke, Aufnahmen und einzelner Aufführungen – kaum etwas. Allein bei der Überlegung, welche Platte ich auflegen soll, um mich dann hinzusetzen und nichts anderes zu tun als sie anzuhören, wird mir angst und bange.

Studien haben gezeigt, dass als »traurig« einzustufende Musik je nach geistiger Befindlichkeit des Zuhörers unterschiedliche Auswirkungen auf dessen Gemütslage hat. So kann eine großartige Ballade von Whitney Houston oder Frank Sinatra Balsam für die Seele des Angst- und Kummergeplagten sein. Bei einem Depressiven wirkt dieselbe Medizin wie ein schleichendes Gift.

Wahrscheinlich ist genau das die Antwort auf die Frage, warum ich einen Großteil der Musik, die ich einst liebte, nicht mehr hören kann. Beim Gedanken an die Platten und schon wenn ich nur Ausschnitte der Stücke im Kopf abspiele, überkommt mich ein verbitterter, nervenaufreibender Kummer. Wirklich obsessiv anhören kann ich nur noch eine Handvoll Auserwähltes.

Dabei passt mein allgemein obsessives Verhalten beim Musikhören exakt in ein zwanzigjähriges Depressionsschema hinein. Ende der Neunziger hörte ich ausschließlich Bruckner oder Jackie McLean – monatelang. Später interessierte ich mich nur noch für die Musik von James Tenney und Jelly Roll Morton und für Beethovens Klaviersonaten. Ich erbaute mich an der Vorstellung, anhand von Aufnahmen den unmöglichen, verlorengegangenen Moment auszumachen, in dem eine bestimmte musikalische Idee zum ersten Mal aufkam, ganz so, als ob eine einzige Phrase oder Note eine Brücke zwischen James Reese Europe und der Original Dixieland Jazz Band schlagen könnte.

Bei vollem Bewusstsein meiner Erkrankung stellte sich allmählich so etwas wie eine negativ verstärkende Feedbackschleife ein. Ich kann Tenney nicht mehr hören – was ziemlich hart ist, da er meine eigenen Kompositionen maßgeblich beeinflusst hat. Gleiches gilt für Morton, Beethoven, Europe, die Original Dixieland Jazz Band und so viele andere. Diese Ablehnung ist Teil des merkwürdigen Wesens, das die Depression aus mir gemacht hat.

Depression ist etwas Komplexes, Hartnäckiges, Persönliches. Und doch gibt es bei den Betroffenen gewisse Schnittmengen. Richard Burton und Andrew Solomon, die großen Chronisten dieser Krankheit, identifizierten als diese Schnittmengen den Selbsthass – »Du kannst gar nicht weniger von mir halten als ich selbst von mir halte« – bzw. die Unfähigkeit, sich der Liebe zu entsinnen. »Depression ist ein Riss in der Liebe. Um lieben zu können, müssen wir verzweifeln können über unsere Verluste. Depression ist der Mechanismus dieser Verzweiflung.« David Bowies Breaking Glass verwandelt diese Erkenntnis in einen auf meinen Geist gerichteten flammenden Pfeil:

BabyI’ve beenBreaking glass in your room againListenDon’t lookAt the carpetI drew something awful on itSeeYou’re such a wonderful personBut you got problems oh-oh-oh-ohI’ll never touch you

Ich liebe meine Tochter. Das ist ein erfüllendes und richtungsweisendes Gefühl. Ich weiß, dass sie mich liebt. Ich kann das in mir zwar nicht so fühlen wie früher, aber mein Kopf versichert mir, dass das stimmt. Daran halte ich mich fest.

Aber ich kann nicht wirklich sagen, dass ich Musik liebe. Die Puzzlestücke sind zwar da, mir ist klar, wie mein innerer Mechanismus zu funktionieren hat. Aber er funktioniert eben nicht. Das merke ich immer wieder bei Livemusik, die ich in meiner Funktion als Musikkritiker erlebe. Wenn alles in Ordnung ist, dann ergibt sich jede Note von selbst, die Komponist*innen verschmelzen mit den Musiker*innen. Theoretisch deutet mir mein Gehirn den Nervenkitzel und die Genugtuung an, die ich verspüren sollte. Ich kann mich gefühlsmäßig und absolut damit identifizieren und die Emotionen, die ich haben sollte, sehr genau beschreiben – widersinnigerweise hat die Depression mein Einfühlungsvermögen vervielfacht. Das heißt auch, dass ich adäquat meine eigenen inneren Abgründe darlegen kann.

Als ich mit Mahler anfing, war es um mich geschehen. Das Fruchtbare, die Fülle an Ideen, der Strom seiner Musik durch Zeit und Erinnerung… ich musste über nichts mehr nachdenken. Ich konnte es einfach fühlen. Es erfüllte mich physisch, und mir war alles klar. Seine Sinfonien machten aus einem Tag einen guten Tag.

Heute sind gute Tage das Ausbleiben von schlechten Tagen. An schlechten Tagen ist mein Körper ein einziges Unbehagen. Trägheit legt sich auf die Ellenbogen, Knie und Nacken nieder. Meine Schädelbasis ist von Millionen kleiner, wild gestikulierender Ärmchen besetzt, die darauf bedacht sind, jeden Versuch, einen Gedanken zu fassen, zu verhindern. Im gedankenlosen Zustand findet mein Kopf die nötige Ruhe.

Ein klarer Kopf garantiert Leistungsfähigkeit. Ich brauche einen klaren Kopf zum Schreiben. Doch das Gleichgewicht ist so empfindlich, dass beim Schreiben dieses Beitrags die Klarheit ins Chaos abstürzt.

Als ich das erste Mal Dexter Gordons Manhattan Symphonie hörte, schien er direkt zu mir zu sprechen. Es war, als würde Gordon mit seinem Saxophon Wörter formen und in die Welt aussenden. Das Stück katapultierte die Musik von der Hobbyebene in den Mittelpunkt meiner intellektuellen und ästhetischen Auseinandersetzung. Das genaue Hören war für mich jahrzehntelang selbstverständlich. Heute lasse ich mich kaum noch auf solche Abenteuer ein – mit wenigen und schmerzhaft präzise definierten Ausnahmen. Ich halte die Intimität nicht aus, sie verursacht Chaos. Mahler und ich haben aus meiner Sicht keinerlei Menschlichkeit mehr gemein – er ist gefährlich. Mein Regal beherbergt Dutzende Platten mit Mahler-Sinfonien. Schon diese Tatsache setzt das weiße Rauschen meiner Angst in Gang.

Aber ich muss weitermachen, weil ich normal sein will, also wähle ich die Musik sorgsam aus, die ich anhöre. Ich hoffe noch, das »Richtige« zu finden. Ich habe keine Probleme mit Schuberts Impromptus D.899, seiner Klaviersonate D.960 und dem Streichquartett Nr. 15 – aber bitteschön nur von Mitsuko Uchida, Radu Lupu bzw. dem Quartetto Italiano. Schubert wusste, dass ihn die Syphilis bald dahinraffen würde, seine Musik aus dieser Zeit pendelt zwischen Ungewissheit und Transzendenz. Ich kann seinen Zustand nicht nachempfinden, und auch die Interpret*innen versuchen dies nicht. Im Gegenteil, ich höre ein gewisses Maß an Kontrolle und Balance heraus, ich merke, wie das Chaos der großen Gefühle durch eine Art Membran von mir ferngehalten wird. So dünn sie auch sein mag, sie ist da. Sicherheit ist möglich.

Ich hänge mich an Bruckners Sinfonie Nr. 8, die Apokalyptische. Der Titel sagt nicht alles über das Stück aus, aber ich nehme ihn wörtlich. Ein paar furchteinflößende Untergangselemente in der Musik können nicht schaden und tragen zur sinnlichen Genugtuung bei. Der Klang von Bruckners Eschatologie, von Scelsi, Radulescu oder Sunn O))), die nichts weniger versuchen, als ein Loch in die Textur des Universums zu reißen – bzw. Hintergrundmusik, die eine akustische, menschenleere Landschaft der Erde hervorbringt – ist fast schon zur Notwendigkeit geworden. Depression reduziert mein Weltbild auf eine elementare, unerbittliche Realität; dies ist die einzige Musik, die mich der Zeit und des Raums enthebt. Sie bestätigt mein Ego.

Es gibt Menschen, die es als angenehm empfinden, in etwas eingewickelt zu sein. Durch den Druck auf dem Körper entsteht das Gefühl körperlicher Geborgenheit (schwere Bettdecken sind gerade sehr in Mode.) Brüchig anmutende Musik mit breiten Frequenzbereichen – ähnlich dem weißen Rauschen, allerdings mit Tonhöhen – gibt mir eine Ahnung von diesem Gefühl, etwa die Musik von Tim Hecker oder auch – mal wieder – Sunn O))), am besten live, wenn die massive Lautstärke ihres Sounds den Körper mit einer Intimität erfasst, die unter anderen Umständen gar nicht auszuhalten wäre. Die Schallwellen durchdringen die Menge und verbinden die Anwesenden miteinander. Sie tilgen das Individuum. Das befreit mich von mir selbst.

Auch so manche minimalistische Musik entrückt mich, etwa Simeon ten Holts Canto Ostinato, Terry Rileys Keyboard Studies, das Trio von Music in Fifths, Music in Parallel Motion und Music in Contrary Motion von Philip Glass. Das Problem dabei ist, dass ich die Kompositionstechnik peinlich genau durchschaue. All dies sickert direkt in mein momentan sehr angeschlagenes Inneres. Es ist immer schwer vorherzusehen, aber sehr oft bohrt diese Art von Musik ein Loch mitten in meinen Körper.

Ich wähle diese Musik nicht auf Grundlage einer rationalen Selbstanalyse aus. Vielmehr stolpere ich darüber. Eine bewusste Auswahl ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Vorstellung, meine Sammlung zu durchstöbern und etwas zum Anhören auszusuchen, lähmt mich. Musik aus meinem Kopf plötzlich auf CD zu hören (Mahlers Siebte) kann eine durchaus enttäuschende Erfahrung sein, so auch die Vorstellung, eine bemerkenswerte Aufnahme ein zweites Mal anzuhören (Glenn Goulds Einspielung der Sechs Klavierstücke Op. 118 von Brahms). So also sieht meine durch die unkontrollierbaren Prioritäten und Ängste meiner Krankheit gefilterte Wahrnehmung von Musik aus.

An einem Frühlingstag vor zwei Jahren hörte ich auf einmal Blues. Ich war sofort angefixt, irgendwie war der Blues in meinem entkräfteten Zustand ein wenig in Vergessenheit geraten. Das widerspricht nun scheinbar allem Gesagten: dass ich zu stark fühle und deshalb Gefühle in der Musik anderer nicht aushalte. Aber nochmal: Vieles in der Art und Weise, wie Klang auf mein Gehirn wirkt, ist und bleibt ein Mysterium.

Wie viele Millionen Betroffene schlucke ich jeden Morgen eine Pille und suche alle paar Monate meinen Psychiater auf. Außerdem lese ich Burton und Solomon und William Styrons Darkness Visible, Marc Aurel und Seneca, Schopenhauer und Camus. Der Boden unter meinen Füßen ist stabil genug, so dass mich nur gelegentlich das Gefühl überkommt, eine Fußbodenplatte sei womöglich locker. Solange mich der Boden trägt, halte auch ich stand. Durchhaltevermögen ist das Einzige, was die Existenz und Besserung möglich macht. Und es braucht Zeit.

Blues ist alles, was ich brauche. Blues ist der Soundtrack des Durchhaltevermögens. Diese Musik ist der Inbegriff des universellen Mitgefühls, das kostbare und befreiende Gefühl, dass niemand etwas Besonderes ist. Düsterer Blues, unbeschwerter Blues, indigo moods, eben Robert Belfour in What in the world is wrong with you oder John Lee Hookers Schnurren in Serves Me Right to Suffer:

It serves me right to sufferIt serves me right to be aloneMy doctor wrote me a descriptionFor milk, cream and alcoholMy nerves are so badI couldn’t rest, I couldn’t sleep at night

»Ich halte die Intimität nicht aus, sie verursacht Chaos.« Über Musikhören und Depression in @vanmusik.

Depression in zwei Zeilen erklärt. Hooker singt davon, die Leute hören zu, und das war’s. Total normal. So fühlt sich Blues für mich an. Ich darf mir das anhören, und die Welt ist in Ordnung. Mehr will ich gar nicht. ¶