Ein wenig im Schatten von Bach, aber endlich im Licht einer größeren Öffentlichkeit: Reinhard Keisers Der blutige und sterbende Jesus, den die Musikwissenschaftlerin Christine Blanken 2006 entdeckte, wurde vorige Woche beim Leipziger Bachfest aufgeführt.

Es war damals ein Skandal: »Den 6ten April ward eine Passion im Zuchthause gesungen, worüber sich viele Leute Scandalisiret, weil viel Frauen geblößet auß der Opera mitsungen und ein rechtes Theatrum darzu auffgeschlagen war.« Zudem hätten professionelle Sänger der Hamburger Oper mitgewirkt und es hätte für die Aufführung eine »darzu bereitete Schaubühne« gegeben. So steht es für das Jahr 1705 in Der Alten Weltberühmten Stadt Hamburg Chronica. Gegenstand der Notiz war die Uraufführung des Passionsoratoriums Der blutige und sterbende Jesus des Komponisten Reinhard Keiser in der Kirche des Hamburger Zuchthauses.
»Frauen geblößet«? Heißt das etwa »oben ohne« bei der Aufführung eines geistlichen Stückes im Jahre 1705? Christine Blanken lacht. »Ganz so schlimm wird es nicht gewesen sein. Ich denke, die Operndiven waren in Abendrobe angetreten und die war möglicherweise schulterfrei«, sagt die promovierte Musikwissenschaftlerin, die seit 2006 am Bacharchiv Leipzig arbeitet und seit 2011 den Forschungsbereich II (»Die Bachfamilie«) leitet.

Blanken gelang vor zwölf Jahren der große Coup, die verschollen geglaubte Musik zum ersten bekannten Passionsoratorium in deutscher Sprache zu entdecken. Gerne erinnert sie sich an den Moment, als sie in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden in einem schmucklosen Siebzigerjahresaal einen »alten, speckigen Band« zur Hand nahm und gleich merkte: »Oh, das ist Keiser, seine Klaue ist unverwechselbar, etwas grob, da war die Sache gleich klar – ein sehr schöner Moment.« Die Musik passte zu dem bekannten Libretto haargenau.
Das Werk war als Oratorium Passionale 1729 betitelt und deswegen hatten es andere Musikwissenschaftler zuvor nicht identifizieren können, da musste schon Blanken, die »Keiserianerin«, kommen. Sie hat sich so intensiv wie bisher keine andere mit der geistlichen Musik Reinhard Keisers beschäftigt, der 1674 im thüringischen Tauchern geboren wurde, als Kind und Jugendlicher Thomaner in Leipzig war und dann bis zu seinem Tod 1739 in Hamburg an der Oper und – was oft unterschlagen wird – als Musikdirektor am Hamburger Dom wirkte. Während seine Opern, jedenfalls die wenigen, die erhalten sind, in den vergangenen Jahren verstärkte Beachtung erfahren haben und sogar aufgeführt werden, ist Keiser als Komponist geistlicher Musik bisher noch völlig unbekannt, so auch sein bedeutendes Passionsoratorium Der blutende und sterbende Jesus. Beim diesjährigen Bachfest gab es endlich die Erstaufführung des Werkes vor den Augen der Öffentlichkeit, im Anschluss an das Leipziger Konzert wird eine CD-Einspielung vorgenommen.
Die Bedeutung des 270 Jahre verschollenen Werkes ist gar nicht zu überschätzen, denn es ist das früheste deutsche Passionsoratorium, das überliefert ist. Ein Oratorium jener neuen Gattung, die mit Beginn des 18. Jahrhunderts den althergebrachten Passionen, auch denen Bachs, den Rang abzulaufen beginnt. Musikalisch von der Oper beeinflusst und – das ist der wichtigste formale Unterschied – ohne den biblischen Evangelistenpart, der Bach so sakrosankt war, dass er ihn in der Schönschriftpartitur seiner Matthäus-Passion von 1736 in roter Tinte schrieb.
Die Texte von Hunold alias Menantes sind gar nicht so skandalös, wie die Nachricht von »geblößten Damen« von der Uraufführung Glauben machen könnte, aber durchaus galant gereimt. So singt Keisers Petrus statt des überlieferten Evangelientextes (»Und wenn sich alle an Dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern«) etwas eleganter: »Und ärgerten sich auch all an dir, / so bleibet doch mein Herze rein / und an Beständigkeit ein Felsen oder Stein.« Ansonsten aber wird die Handlung der Passionsgeschichte, von deren Fortgang sonst traditionell der Evangelist kündet, schlicht vorausgesetzt, was man in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch bestimmt konnte. Die Umdichtungen und zahlreichen Arien stillen dagegen die Sehnsucht nach Gefühlen, die sich gegenüber der strikt orthodoxen und dann bald blutleeren aufklärerischen Deutung des Sühnetodes Jesu regten.
Keiser schafft in seinem Werk sehr eindrucksvolle Arienblöcke und führt neben den bekannten biblischen Figuren wie Jesus, Petrus, Pilatus, Mägden, Dienern und falschen Zeugen auch noch Maria, die Mutter Jesu (Sopran) und eine zweifach besetzte Tochter Zion (Sopran/Alt) ein. Wieso das? Glaubt man Christine Blanken, hatte das schlicht praktische Gründe, weil Keiser damals in Hamburg wohl drei gute Frauenstimmen zur Verfügung standen, die alle auf eine gute Partie hofften. »Keiser hat alle drei Frauen paritätisch mit jeweils sechs Arien, darunter jeweils eine ›Arie á due‹, großzügig bedacht, und wahrscheinlich konkurrierten die drei stark miteinander«, vermutet Blanken. Eine der drei Sopranistinnen, so eine weitere Vermutung Blankens, war »die Paulina«, also Paula Kellner. »Sie war die reisende Starsopranistin in Deutschland, eine Art Netrebko des frühen 18. Jahrhunderts, und wahrscheinlich auch die Lehrerin der jungen Anna Magdalena Wilcke in Weißenfels ab 1717, ehe Bach sie in Köthen als Sängerin kennenlernte und heiratete«.

Zum Skandal bei der Hamburger Uraufführung von 1705 trug auch bei, dass erstmals in Hamburg bei einem geistlichen Konzert Eintritt in Höhe von acht Schilling genommen wurde und auch das Textbuch für denselben Preis erworben werden musste. Über all dies empörte sich die Obrigkeit so sehr, dass im Mai 1705 solche Oratorien an »Nebenkirchen«, wie zum Beispiel der Zuchthauskirche, verboten wurden. Aber das brachte wenig, und über Jahrzehnte gehörten die Aufführungen von Passionsoratorien neben den offiziellen Passionsaufführungen in den Hamburger Hauptkirchen zur beliebten und vielgeübten Praxis im Hamburger Konzertleben. Georg Philipp Telemann, über 40 Jahre Musikdirektor der Hamburger Hauptkirche, war mit seinem 1722 komponierten Passionsoratorium Das selige Erwägen später ein fleißiger Veranstalter solcher volkstümlich-kommerziellen Aufführungen, die noch lange über seinen Tod 1767 hinaus stattfanden.
Telemann hat Keiser wohl sehr geschätzt. Jedenfalls dichtete er für den 1739 Gestorbenen einen Nachruf: »Ihr, die in Deutschlands Raum die Tonkunst Kinder nennet, / Laßt Kaisers Untergang nicht fühllos aus der Acht! / Er hat zu euren Ruhm sich sehr verdient gemacht, / Und manchem Ehrenkranz den Welschen abgerennet.“ Zum Schluss der Eloge heißt es dann: „Wir ehren dein Verdienst, du Züchtling der Natur, / der, suchtest du gleich nicht der Kunst verdeckte Spur / dennoch der größte Geist zu seiner Zeit gewesen.«

Mit diesen ehrenvollen Zeilen deutet Telemann an, dass Keiser nicht unbedingt der eifrigste Kontrapunktiker war. Aber seine Musik ist unglaublich effektvoll und kann mitreißen und zuweilen spektakulär sein. Als Zuhörer findet man es gelegentlich schade, dass manche Stücke, die toll anfangen, sehr plötzlich wieder zu Ende sind – da war Keiser dann wohl schon bei anderen Gedanken und wollte etwas Neues anfangen. Das ist sehr kurzweilig, daneben stehen jedoch die großen Arienblöcken der Sopranistinnen, aber auch Arien für Tenor und für den vom Bass verkörperten Jesus, die große Momente der Ruhe und Kontemplation spenden. Ohne Frage ein faszinierendes Stück und die Solisten (berückend besonders die beiden Sopranistinnen Monika Mauch und Anna Kellnhofer und Altistin Anne Bierwirth!) sowie Cantus & Capella Thuringia unter Leitung des vom Cembalo leitenden Bernhard Klapproth bekamen in der Nikolaikirche mit Recht viel Applaus.
Mochten damals, 1705, »geblößte Damen« und erstmalig erhobener Eintritt den Skandal ausmachen, so war es bei der diesjährigen Aufführung vielleicht kein Skandal, aber doch bedauerlich, dass die Leipziger Nikolaikirche anders als beim Kantatenring am Wochenende zuvor nur etwa halbvoll war. Natürlich, es war ein Mittwoch, aber es ist schade, dass die Bemühungen des Bachfestes, auch die Musik vor und um Johann Sebastian Bach zugänglich zu machen, nicht in dem Maße honoriert werden. Vielleicht sollte sich an einem Keiser mal John Eliot Gardiner versuchen. Hier würde sein dramaturgischer Existenzialismus vielleicht ein geeigneteres Futter finden als bei den Bachkantaten, wo Sir John ja zu Beginn des Bachfestes ein wenig über die Stränge schlug …
Bei weiteren Aufführungen aber wäre es gut, zumindest auf einen Skandal hinzuweisen, dessen wir uns erst heute langsam bewusst werden, der aber fast alle Passionslibretti des 18. Jahrhunderts betrifft. Es ist der unverhohlene christliche Antijudaismus, der dem modernen, rassischen Antisemitismus den Weg bereitete. Bei Keiser sind es mindestens drei Passagen:
Die erste antijüdische Textpassage findet sich in einem Rezitativ von Jesus (!) selbst, wenn ihn Menantes und Keiser im Garten Gethsemane singen lassen: »Ach wollt ihr nun nicht wachen, sondern ruhn? / schaut, itzo kömmt die Stunde schon, / allwo des Menschen Sohn / den größten Sündern auf der Erden / wird überliefert werden.« Die größten Sünder auf der Erden, das sind laut biblischem Bericht dann Judas und die ihn begleitende Schar Bewaffneter der jüdischen Hohepriester. Dann singt später im Stück der von seinem eigenen Verrat verzweifelte Judas: »Drum öffne dich, du Grund / der vor Verfluchte flammet / und schlinge selbst den ärgsten Höllenhund. / den Schaum verdammter Juden ein.« Und aller schlechten Dinge sind drei: Die Tochter Zion singt in einem Accompagnato zur Beweinung des verschiedenen Jesu und angesichts des laut biblischen Berichts zur Sterbestunde zerrissenen Vorhangs im Tempel: »Zerreiße nur, denn weil den Jüden nun das Heiligtum entrissen, / was soll’s, weil’s ihnen sterben müssen / der Vorhang weiter tun«. In der englischen Übersetzung des Textbuches steht tatsächlich »since they must die«. Gemeint ist mit den heute grammatikalisch merkwürdigen anmutenden Zeilen wahrscheinlich »… weil’s ihnen sterben müssen» eher wohl der Tempel und seine Funktion, und nicht direkt die »Jüden« selbst. Dahinter steht die Auffassung, dass das Christentum das Judentum endgültig ablöst – die sogenannte Enterbungslehre: Israel wird durch die Kirche enterbt.
Es ist eine Tragödie, dass in dem Moment, in dem sich das Passionsverständnis mit Pietismus und Aufklärung wandelte, in dem das menschliche Mitleiden in den Vordergrund der Betrachtung geriet und sich so das gesamte christliche Passionsverständnis in Richtung eines moderneren, existenziell verständlicheren Sinnes wandelte, besonders schlimme antijüdische Textvarianten auftauchen. Wohlgemerkt: Das Libretto von Keisers Der blutige und sterbende Jesus ist gar nicht »besonders« antijüdisch, denn es reiht sich ein in eine ganze Phalanx solcher Texte. Und natürlich wird so etwas heute oft überhört. Aber das ist ein schwacher Trost. Zumindest würde es sich lohnen, dazu einige Worte im Programmheft oder in begleitenden Veranstaltungen zu verlieren. Hier liegt ein Feld brach, das Intendanten und Dramaturgen künftig bestellen sollten, ja müssten! ¶