Mit dem Rundfunkchor Berlin und Human Requiem in Athen

Text · Titelbild Stephan Talneau · Datum 4.5.2016

Die junge Frau mit den schwarzen Locken kann jetzt nicht sprechen. »Sorry, I’m too … I can’t tell now.« Sie steht am Rand der Bühne im Konzerthaus »Megaron« in Athen. Ihr Blick hat sich festgesehen, irgendwo in der Weite. Neben ihr stehen viele kleine Grüppchen von Menschen, die noch lange, nachdem der letzte Ton verklungen ist, über das reden, was sie da eben gehört und erlebt haben: das human requiem mit dem Rundfunkchor Berlin.

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Die szenische Einrichtung des Deutschen Requiems von Johannes Brahms durch Jochen Sandig und ein Team der Compagnie Sasha Waltz & Guests ist inzwischen ein internationales Erfolgsprojekt des Chors. Amsterdam, Paris, Granada, Hongkong, jetzt im Frühling Athen, im Herbst New York. Die Konzertinszenierung der Fassung für Chor und Klavier zu vier Händen hebt die konventionelle Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum auf. Publikum und Chorsänger befinden sich gemeinsam in einem Raum, der sonst monolithisch auftretende Klangkörper ist über denselben verteilt. Sängerstimmen dringen zentimeternah ans Zuhörer-Ohr. Aus dem »deutschen« wird ein »menschliches« Requiem, das in einfachen choreografischen Setzungen von menschlicher Nähe und Solidarität erzählen will, von der unausweichlichen, gemeinsamen Erfahrung: Leid und Tod des Menschen.

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human requiem, Trailer

Die Erfahrung, die der Rundfunkchor Berlin mit dem human requiem macht, ist an jedem Spielort anders. In Athen sind die Bedingungen nicht ideal, weil die Aufführung auf einer Bühne mit Zuschauerraum stattfindet und nicht – wie es das Konzept eigentlich vorsieht – in einem abgeschlossenen Raum. Für die Musiker ist das nicht einfach, weil die Energie »nach einer Seite abfließt«, wie Dirigent Gijs Leenaars sagt. Das Publikum kann sich aussuchen, ob es auf die Bühne kommt oder in der klassischen Zuschauerposition verharrt, von wo aus man den Sänger/innen und der Musik naturgemäß nicht so nahe kommt. Beim ersten der zwei Konzerte bleiben noch relativ viele Menschen sitzen. Auch wenn sich Jochen Sandig samt griechischer Dolmetscherin mit gewohnter Inbrunst bemüht, das Publikum auf die Bühne zu holen: »Habt keine Angst, das ist keine interaktive Performance. Ihr könnt jederzeit zu eurem Platz zurück, wenn ihr euch nicht wohl fühlt. Last announcement!« Nach und nach tapsen noch Menschen auf die Bühne, nähern sich verschämt lächelnd oder neugierig suchend der großen, großen Menschentraube, in der sich auch die Chorsänger befinden.

Wenn die Sänger im ersten Satz »Selig sind, die da Leid tragen« singen, wenn sie durch den Raum schreiten und sich eng an den Zuhörern vorbeidrücken, ist das in seiner Einfachheit groß und berührend. Man hört alle Stimmregister einzeln heraus, entziffert quasi die Partitur, ohne sie zu lesen. Für die Sänger bedeutet das auch: Stress. »Natürlich kämpft man bei einer solchen Aufführung mit dem eigenen Lampenfieber, weil man weiß, dass die Zuhörer noch das kleinste Kratzen in der Stimme wahrnehmen«, sagt Tenor Ulrich Löns. Aber das Schöne sei eben auch, dass man »diesen Grundkonsens spürt, den man mit Musik erreicht.« Paare umarmen sich, fremde Menschen setzen sich dicht nebeneinander auf den Boden. So entstehen Situationen, die von außen wie eine gruppentherapeutische Kuschelstunde aussehen mögen. Es gibt Menschen, die in Tränen ausbrechen und dann von den Sänger/innen in den Arm genommen und getröstet werden. Bei der Generalprobe hörten 200 Flüchtlinge aus dem Lager am Hafen von Piräus zu; Sängerinnen hatten plötzlich kleine Kinder an der Hand, die sie bei jedem Schritt begleiteten.

»Uplifting«, »no words left«, »one word: magnificent«, »It catched me deeply, even though I can’t understand the language«: Nach beiden Konzerten stehen hoch emotionalisierte Menschen auf der Bühne und versuchen, ihre Rührung in Worte zu fassen. Es wäre zu platt, dies direkt mit der emotionalen Dimension der griechischen Finanzkrise in Verbindung zu bringen – doch fast jedes Gespräch landet am Ende bei der Krise, bei Hoffnung und Frust, Verzweiflung und Ratlosigkeit. Anastasia und Chrysostomos zum Beispiel: Sie studiert Flöte, er Gesang, beide sprechen gut Deutsch. Bald haben sie ihren Abschluss und wollen dann auf hohem Niveau Musik machen und davon leben können. Bloß wo? »Wir denken alle daran, weg zu gehen.« Auch wenn es kleine Hoffnungsschimmer gibt: Nächstes Jahr etwa eröffnet das staatliche Orchester in Athen ein Akademie-Programm für junge Musiker/innen.

Aufführung; 27. April 2016, Megaron, Athen · Foto Charis Akriviadis
Aufführung; 27. April 2016, Megaron, Athen · Foto Charis Akriviadis

Klassische Musik spiele nach wie vor eine bedeutende Rolle in der griechischen Gesellschaft, und die Krise könne die Musikszene sogar beleben, sagt Konstantia Gourzi. Die Komponistin und Dirigentin ist in Athen aufgewachsen und lebt seit Ende der 1980er Jahre in Deutschland. Das Athener Musikleben habe sich in den letzten 25 Jahren »fantastisch entwickelt«, sagt sie. Ein so monumentales Konzert- und Konferenzhaus wie das Megaron habe es damals noch nicht gegeben; große Orchester aus dem Ausland hätten allenfalls im Rahmen von Festivals gastiert.

Das Megaron mit seinen vielen Konferenzräumen und Sälen für etwa 2.000 und 500 Besucher war allerdings auch beteiligt an Misswirtschaft: Der spektakuläre Schuldenberg wird seit Jahren von häufig wechselnden Direktoren abgetragen. Vor ein paar Wochen erst hat Nicholas Theocarakis diese Aufgabe übernommen. Der Professor für politische Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte hat zusammen mit dem ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis einige Bücher geschrieben. Als dessen enger Vertrauter war er kurzzeitig Generalsekretär im Finanzministerium und Chefunterhändler bei den Gesprächen mit den Geldgebern. Seine Mission sei es, »das Megaron von alten Schulden zu befreien und finanziell rentabel zu machen.« Die Bedingungen müsse er nun mit der Regierung aushandeln – um anschließend die Einnahmen zu steigern, durch Konferenzen und gute Produktionen, auch mit jungen griechischen Talenten. Doch erst einmal braucht das Megaron wieder einen künstlerischen Direktor, dieser Posten ist neben vielen anderen derzeit vakant.

Megaron – The Athens Concert Hall · Foto Chris (CC)
Megaron – The Athens Concert Hall · Foto Chris (CC)

Die Krise jedenfalls, sagt Konstantia Gourzi, die Dirigentin, bringe auch neue Formate und kreative Ideen hervor. Auch wenn es für die Musiker/innen »schwer bis unmöglich« sei, davon zu leben: »Heute habe ich von einem Projekt gehört, bei dem für eine Probe zehn Euro angeboten wurden. Ich meine: drei Stunden Probe für zehn Euro – wie soll das gehen?« Viele Musiker haben die Stadt verlassen oder ihren Beruf aufgegeben. Nachdem bedeutende Klangkörper wie das Rundfunkorchester des Senders ERT geschlossen worden waren, bildeten sich zwar neue Ensembles, etwa das Metropolitan Symphony Orchestra. Doch dort verdient man fast nichts, teilt sich den Erlös aus den Ticketverkäufen und hofft auf Sponsorengelder. Wo viel Neues entstehe, sagt Konstantia Gourzi, müsse es aber langfristig bergauf gehen, »das ist ein Naturprozess.« Doch selbst wer eine Stelle in einem der drei staatlichen Orchester des Landes hat, muss sich momentan durchkämpfen.

Blick über Athen · Foto Axel Scheidig
Blick über Athen · Foto Axel Scheidig

Yannis Sambrovalakis hat so eine Stelle, er ist Klarinettist an der Oper in Athen. Trotzdem arbeitet er »Tag und Nacht«, um sich und seine kleine Familie im teuren Athen durchzubringen. Als Griechenland 2010 unausweichlich in die Krise rutschte, bekamen er und seine Kollegen mit einem Schlag weniger als 70 Prozent des bisherigen Gehalts, aufs Jahr gerechnet. Und die Oper konnte sich plötzlich keine modernen Produktionen mehr erlauben, kein »riskantes Repertoire«. Seit 2010 spielen Sambrovalakis und seine Kollegen hauptsächlich Aida, La Bohème, Carmen oder La traviata, damit der Saal voll wird. »Das ist natürlich keine neue Kunst, sondern Recycling-Kultur.« Griechische Operetten mit gefälligen Librettos sind immer ausverkauft; der Eskapismus ist groß in Zeiten der Krise.

Der Oper steht 2017 ein weiterer enormer Wandel bevor: Nächstes Jahr zieht sie um, in ein gigantisches, modernes Gebäude in der Nähe des Hafens von Piräus – in das Stavros Niarchos Foundation Cultural Center (SNFCC), finanziert von der Stiftung des griechischen Reeders Stavros Niarchos. Die Oper wird dort gemeinsam mit der Nationalbibliothek untergebracht sein. Auch ein Symptom der Krise: Der staatliche Bildungs- und Kulturauftrag geht mehr in die Hände reicher Privatiers. Das neue Opernhaus fasst dreimal so viele Besucher und ist nicht gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden; es muss sich zeigen, wie ausgelastet es sein wird.

SNFCC Athen · Foto © Yiorgis Yerolymbos
SNFCC Athen · Foto © Yiorgis Yerolymbos

Yannis Sambrovalakis blickt positiv in die Zukunft. Er komponiert, publiziert und arrangiert Musik, er unterrichtet Klarinette an der Uni auf Korfu. Schon vor Jahren hat er gemeinsam mit einem Freund das »Hellenic Music Centre« gegründet, einen Verlag mit umfangreicher Internetpräsenz. Sie geben Editionen griechischer Komponist/innen heraus, präsentieren Informationen über unbekannte griechische Musiker/innen und haben eine digitale Bibliothek mit über 500 Werken aufgebaut. »Es ist ein Problem, dass wir unsere eigenen Musiker und Komponisten nicht angemessen promoten – wir brauchen mehr Export statt Import«, sagt Sambrovalakis. Das »Hellenic Music Centre« ist ein »optimistisches Unternehmen, mit dem wir über die Krise hinwegkommen wollen.« Der Plan scheint aufzugehen. Wie beim human requiem des Rundfunkchors Berlin reicht der Kulturexport des Hellenic Music Centre schon bis nach New York: Demnächst wird eines von Sambrovalakis’ Arrangements an der Metropolitan Opera gespielt. ¶