In den Gurre-Liedern von Schönberg wird spätromantische Schönheit zum Bersten getrieben. Ingo Metzmacher hat sie bei den Kunstfestspielen Herrenhausen in Hannover aufgeführt, und wir waren dabei

Text · Fotos Helge Krückeberg, 2016 © KunstFestSpiele Herrenhausen · Datum 18.5.2016

Im Kuppelsaal des Hannover Congress Centrums am Pfingstsonntag nistete wohl die Hoffnung, die musikalischen Heerscharen auf Bühne und Tribüne würden den Schlusschor der Gurre-Lieder von Arnold Schönberg noch einmal vollführen.

Aber Ingo Metzmacher, der neue Intendant der Kunstfestspiele Herrenhausen, macht Sachen eben ganz oder gar nicht. Für die Gurre-Lieder braucht es, wenn man Schönbergs Vorstellung gerecht werden will, über 500 Mitwirkende, 150 Instrumentalisten und etwa 400 Choristen. »Ich wollte dieses Stück unbedingt, schon weil es in Hannover diesen riesigen Saal gibt, wo man es in voller Stärke machen kann. Dann gibt es diese große Hannoveraner Chortradition mit sehr guten Chören. Die kenne ich, weil ich als junger Kerl im Knabenchor Hannover gesungen habe.« so Metzmacher zwei Tage vor dem Konzert gegenüber VAN.

Schönberg! Wenn der Name fällt, denken die meisten an atonale Klänge oder Zwölftonmusik. Doch die Gurre-Lieder, 1913 uraufgeführt, sind ganz und gar das Gegenteil, sie sind ein grandioses Zeugnis post-spätromantischer Klangkunst, »polyphone Konstruktion eines wuchernden und lianenhaften Jugendstils«, sagte Dirigent Michael Gielen einmal.

Arnold Schönberg arbeitet lange daran: 1901–1903, als Atonales oder gar Zwölftöniges auch für ihn noch in weiter Ferne lag, stellte er den Großteil der Komposition fertig, samt der Instrumentierung; dann ließ er es sieben Jahre liegen, bis er sich 1910 wieder daranmachte und alles fertig instrumentierte, zuletzt 1911 den Schlusschor. Spätestens dieses Tutti, mit allen Beteiligten, gibt dem musikalischen Pfingstwunder zu Hannover den letzten Kick: Geduldig haben die etwa 250 Frauenstimmen auf der Tribüne ausgeharrt, bis sie dann endlich, in den letzten fünf Minuten des Konzertes, ins Geschehen einsteigen dürfen: »Seht – seht – seht seht … die Sonne« – einer der »prächtigsten Sonnenaufgänge der westeuropäischen Musikhistorie«, wie es der ehemalige SWR-Musikredakteur Rainer Peters formulierte, dessen Essay im Programmheft die Gurre-Lieder porträtiert und der die treffliche Zusammenfassung des Textinhalts von Max Brod liefert, jenem österreichisch-israelischen Schriftsteller und Musikkritiker, der in den 20er Jahren Kafkas Nachlass rettete. (Link zum Programmheft)

Es spielt im sagenhaften Dänemark des Mittelalters: König Waldemar trifft auf Schloss Gurre heimlich seine Geliebte Tove, sie schwelgen im Glück, doch die eifersüchtige Königin lässt Tove töten. Waldemar wird irre vor Trauer über den Verlust, hadert mit Gott und bricht schließlich mit ihm.

Das Werk zieht den Zuhörer vom Beginn des Orchester-Vorspiels an in den Bann: Betörend viel passiert in diesem machtvollen Fluss, aus dem ständig silberne Klänge hervorspringen und überreiche Melodien sich herauswinden. Peters schreibt: »Kein Wort des Staunens reicht an die Souveränität heran, [mit der … Schönberg] das Vokabular der Spätestromantik samt ›Seelenvibrationen‹ und ›Nervenkontrapunktik‹ beherrscht, mit welchem Raffinement er das Fin-de-siècle Klang werden lässt, welch kammermusikalische Subtilitäten er dem Riesenorchester abgewinnt.«

»Spätestromantik«? Das ist etwas, was Ingo Metzmacher besonders reizt, da gerät der sonst so kühle Norddeutsche ins Schwärmen: »Das Stück ist von einer unglaublich betörenden Schönheit, dass man es manchmal fast gar nicht aushält. Das letzte große Aufblühen einer Tradition, von der Schönberg wusste, dass sie so nicht weiter zu führen ist. Unendlich schön, aber man kann schon die Risse hören, die Schönheit, die zerbrechen wird.«

Im ersten Teil singen – subtil begleitet vom gewaltigen Instrumentalapparat – nur Waldemar und Tove im Wechsel ihre Lieder – herausragend interpretiert von den beiden als Wagnerinterpret/innen bekannten Stephen Gould (Tenor) und Anja Kampe (Sopran). Zum Ende des ersten Teiles kommt noch Okka von der Damerau (Alt) in der Rolle der Waldtaube hinzu, die den beiden in nichts nachsteht, als sie in einer lamentoartig beginnenden Wahnsinnspartie über reichlich zwölf Minuten den Tod und das traurige Begräbnis der geliebten Tove verkündet.

Alle drei Solisten liefern souveräne Klangkultur auch in den Spitzentönen und perfekte Sprachbehandlung. Ein paar beherzte Menschen trauen sich während des Konzertes, ihr Smartphone zu zücken, um mithilfe des Internets die Übersicht zu wahren und den Text des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen von 1864 in der von Schönberg vertonten deutschen Übersetzung von Robert Franz Arnold von 1897 nicht nur klingend im Ohr, sondern auch absichernd im Blick zu haben. (Warum wurde das im Programmheft versäumt?) Zum Glück hält das Arnold-Schönberg-Center dafür ein sehr gutes Webportal bereit:

Wenig vom Sinn der Worte erhaschen leider die an den Seiten Sitzenden – da können Gould, Kampe und von der Damerau artikulieren, wie sie möchten, hier setzt die Raumakustik Grenzen, und nachher werden einige fragen: »War der Text eigentlich deutsch oder dänisch?« Schade, sie haben etwas verpasst, denn die Verse sind in der Arnold-Fassung zu einer sehr musikalischen, hoch poetischen Sprache geronnen, die viele Entsprechungen in der Musik findet, auch wenn ihr literarischer Wert eher zeitgebunden scheint. Nur ein Beispiel aus Toves zweitem Lied:

Wetterhahn singt, und die Turmzinnen nicken, / Burschen stolzieren mit flammenden Blicken, / Wogende Brust voll üppigen Lebens / Fesseln die blühenden Dirnen vergebens

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder;  5. Tove: ›Sterne jubeln‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Susann Dunn (Sopran), Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

Was den gebannten Hörer zu Hannover schon in diesem ersten Teil süchtig macht, sind die leisen, die sehr leisen und besonders die sehr, sehr leisen Passagen. Die gibt es zuhauf, und sie werden von Metzmacher mit Liebe herausgearbeitet, denn im Piano der Vielen liegt für ihn ein besonderer Reiz, er sagt: »Man spürt die Kraft, die dahintersteckt. Das ist so, als wenn Sie mit einem Porsche 20 Stundenkilometer fahren …«.

Dann ist Pause, und es gibt den ersten Riesenapplaus, besonders für die Damen Kampe und von der Damerau, deren Gesang zu Ende ist. Nach der Pause wird der musikalische Fuhrpark reichlich aufgerüstet: Zum einen bevölkern nun die vereinten Hannoveraner Chöre, grob gezählt etwa 400 Menschen, die Galerie über der Bühne. Den sängerischen Hauptpart bestreitet weiterhin unangefochten Stephen Gould als König Waldemar: Mit bewundernswerter Leichtigkeit vollzieht der Bayreuther Tristan von 2015 den Gemütswechsel vom haltlos Verliebten zum selbstbewusst Verbitterten, der mit Gott hadert, dem er im harschen Ton entgegentritt:

Herrgott, weißt du, was du tatest, / Als klein Tove mir verstarb? / Triebst mich aus der letzten Freistatt, / Die ich meinem Glück erwarb!

Hier wird Gott als allmächtiger, allwissender, weiser Vater im Himmel verabschiedet, er soll sich schämen ob des Todes der Geliebten:

Herr, du solltest wohl erröten: / Bettlers einz’ges Lamm zu töten! / Herrgott, ich bin auch ein Herrscher,  / Und es ist mein Herrscherglauben: / Meinem Untertanen darf / Ich nie die letzte Leuchte rauben. 

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder; 12. Waldemar: ›Herrgott, weißt du, was du tatest‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Siegfried Jerusalem (Tenor), Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

Ha, nun ist Gott entthront, und Waldemar wendet sich zurück zu dem Glauben der Urahnen:

Erwacht, König Waldemars Mannen wert! / Schnallt an die Lende das rostige Schwert, / Holt aus der Kirche verstaubte Schilde, / Gräulich bemalt mit wüstem Gebilde. / Weckt eurer Rosse modernde Leichen, / Schmückt sie mit Gold, und spornt ihre Weichen: / Heute ist Ausfahrt der Toten!

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder; 13. Waldemar: ›Erwacht, König Waldemars Mannen wert‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Siegfried Jerusalem (Tenor), Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

Und jetzt klingt der Männerchor! Die etwa 150 Hannoveraner Chorherren, »Waldemars Mannen«,  machen sich zunächst mit einem grotesken Ein-Sekunden-Schrei (»Holla«) bemerkbar und kämpfen sich dann in drei vierstimmigen Chören recht erfolgreich – nur ein deutlich hörbarer Fehleinsatz – und klanglich imposant über die Klippen einer anspruchsvollen Partitur. Zudem brilliert noch Klaus-Narr – herausragend und mit lichter Präsenz: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Tenor – in seiner musikalisch hinreißenden, schrägen Arie (›Ein seltsamer Vogel ist so‘n Aal«), und dazwischen toben sich wieder die vereinten Männerchöre mit ihrem König im irren Ritt aus:

Holla! So jagen wir nach gemeiner Sag’ / Eine jede Nacht bis zum jüngsten Tag. / Holla! Hussa Hund! Hussa Pferd! / Nur kurze Zeit das Jagen währt! / Hier ist das Schloss, wie einst vor Zeiten! / Holla! Lokes Hafer gebt den Mähren, / Wir wollen vom alten Ruhme zehren.

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder; 15. Waldemars Männer: ›Gegrüßt, o König, an Gurre-Seestrand‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

Zum Text und zum Gottesbild des kämpferischen Darwinismus, dem Textdichter Jens Peter Jacobsen damals anhing, könnte man viel sagen, aber wen interessiert’s bei so viel herrlicher Musik: schwelgende Klänge, donnernde Rhythmen, nun auch mehr und mehr Forte, auch drohend. Und dann noch dieser Kunstgriff mit dem Sprecher (brillianter Thomas Quasthoff), der nach der Wilden Jagd der Toten die Wilde Sommernacht anmoderiert und damit in den herrlichen pantheistischen Sonnenschluss leitet: Es werde Licht!

Schon schleicht im Grase die bunte Schnecke. / Nun regt sich Waldes Vogelschar, / Tau schüttelt die Blume vom lockigen Haar / Und späht nach der Sonne aus. / Erwacht, erwacht, Ihr Blumen, zur Wonne!

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder; 21. Sprecher: ›Herrn Gänsefuß, Frau Gänsekraut‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Hans Hotter (Sprecher), Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

Warum hat Schönberg sich nicht einfach entschlossen, in diesem Stil weiter zu komponieren, zumal die Uraufführung im Februar 1913 sein größter Publikumserfolg war? Würde er nicht heute machtvoll alle Podien dominieren, in einer Liga mit Mozart, Beethoven, Brahms und Wagner?

Diese Vorstellung behagt Ingo Metzmacher überhaupt nicht. Für ihn lotet Schönberg in den Gurre-Liedern bewusst eine »Grenzerfahrung« aus: »Der Bogen wird bis zum Äußersten gespannt und überspannt. Ich höre da immer schon das, was kommen wird. Das ist ein letztes Aufbäumen vermeintlicher Schönheit!« Ein »Weiter so!« war für Schönberg gar keine Option, davon ist Metzmacher zutiefst überzeugt: »Es ging einfach nicht! Schönberg war ein unglaublich konsequent denkender, glühender Mensch, der wusste, dass es so nicht weitergeht. Wie kann man überhaupt noch weiterkomponieren, wenn man so etwas wie die Gurre-Lieder geschrieben hat? Wie soll es denn weitergehen, außer, dass das System an seiner eigenen Schönheit zerbrechen muss – das ist die spannende Frage!«

Natürlich, so Metzmacher weiter, könne man es auch so machen wie Richard Strauss: »Richard Strauss ist mit Stücken wie Elektra und Salome weiter gegangen als viele Andere und hat dann aber für sich entschieden: Ich wende mich zurück und komponiere den Rest meines Lebens den Abschied einer goldenen, versinkenden Zeit. Das ist auch eine Haltung, die man haben kann. Schönberg hingegen ist in den Zug gestiegen, der in die Moderne führt – für diese heroische Tat werde ich ihn immer bewundern. Und denen, die immer finden, das Schönberg abschreckend ist, kann man nur sagen: Gehen Sie in die Gurre-Lieder – das ist eine orgiastische Erfahrung, die man nie vergisst!«

Recht hat der Mann. In Hannover gab es – dank Gurre-Lieder – ein musikalisches Pfingstwunder. Selig sind die, die es erlebt haben. ¶

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder; 22. Gemischte Chöre: ›Seht die Sonne‹; Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf, RSO Berlin, Riccardo Chailly (Leitung), Decca, 2003 · Link zur Aufnahme

... geboren 1966, ist evangelischer Theologe und Journalist. Seit 2014 ist er Chefredakteur des Monatsmagazins zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft in Berlin. www.zeitzeichen.net